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Bis zu jenem Tag, einige Wochen später. Da nämlich kommt mein Vater mit säuerlichem Gesicht in die Küche, die abgebrochene Kufe in der Hand. Als ich das sehe, gefriert mir fast das Blut in den Adern und ich mache mich darauf gefasst, ein umfassendes Geständnis ablegen zu müssen. Doch da beschwert sich mein Vater bei Mama: »Also, bei Möbel-Mertel kaufen wir nichts mehr. Das sind Betrüger, sieh dir das an! Diese Kufe war garantiert schon abgebrochen, als wir den Schaukelstuhl kauften. Man sieht ja noch deutlich den Holzleim, wo sie ihn repariert haben. So eine Schweinerei! Aber wenn wir hingehen und Ersatz verlangen, würden sie eh nur behaupten, das sei nicht wahr. Schweinebande, elendige!!!«
Meine Eltern sind beide eher abgeneigt, beim Möbelhaus eine Szene zu machen. So wird der Schaukelstuhl noch einmal geklebt und sich nur noch sehr, sehr vorsichtig daraufgesetzt. Peter und ich sind selig – unsere empfindliche Sitzfläche ist erst einmal gerettet!
Bis zum nächsten Streich …
*
Das Gutachten war noch nicht verdaut, da drohte uns schon das nächste Ungemach in Form des leider notwendigen Deutschlandbesuches. Attila hatte zwischenzeitlich einen Termin mit seinem Anwalt vereinbart, um Stellung zu dem Gutachten zu nehmen. Er konnte nicht ohne weiteres akzeptieren, dass Uschi ohne jede Kontrolle vor sich hin wursteln und die Kinder vollends dabei verderben durfte, und das auch noch mit gerichtlicher Billigung. Wenn er selbst schon nicht als Erzieher seiner Kinder fungieren durfte, aus welchen Gründen auch immer, dann sollte wenigstens das Jugendamt die Entscheidungen über so wichtige Dinge wie Schulwahl, Vermögen, Klinikaufenthalte oder Fremdunterbringung treffen und nicht Uschi.
Außerdem hatte er sich mittlerweile doch nicht zu einem selbstauferlegten Kontaktverbot zu den Kindern durchringen können. Ich hatte durchaus Verständnis dafür, weil Attila im Internet viel über das »Parental Alien Syndrom«, kurz PAS, gelesen hatte. Das dafür sorgt, dass ein »abgelegter« Elternteil mit den Jahren zu einem Fremden wird und die Kinder hierdurch einen psychischen Schaden davontragen. Denn Schäden dieser Art hatten seine Kinder wahrlich schon genug zu verarbeiten.
Je näher der Abfahrttermin rückte, desto mehr Bedenken bekamen wir wegen der ständig chaotischen Straßenverhältnisse in Deutschland; mit dem Auto dorthin zu fahren, würde gefährlich werden. Stellenweise ging seit Wochen dort wegen Schnee und Eis gar nichts mehr, und ich mochte mir nicht vorstellen, wie unsere Sommerreifen hierauf reagieren würden. Also buchten wir im letzten Moment doch die günstigsten Flüge, die wir bekommen konnten; auch wenn das bedeutete, dass wir viele Stunden unterwegs sein mussten, denn die Route der Billig-Airline führte über einen Zwischenstopp in Palma de Mallorca. Der Leihwagen in Deutschland wäre dann wenigstens Winterreifen versehen und verfügte über eine Vollkaskoversicherung. Diese Kosten musste die überschuldete Firma aufbringen, denn Attila fuhr ja auch zu einer Besprechung bei Kurierdienstissimo in Neuenstein.
Über alledem lag unser zweisames Privatleben weiterhin fast vollkommen brach. Arbeiten, essen, schlafen. Das war's! War es denn ein Wunder, wenn ich Entzugserscheinungen bekam? Das ist, als wenn ein Alkoholiker neben einer Flasche Schnaps schlafen müsste, diese aber nicht öffnen dürfte.
Vor dem Abflug fragte Attila noch bei Uschi an, ob er die Kinder am Sonntag um 11 Uhr abholen könne; zurück kam per Email die Antwort, dass er sie treffen könne, aber schon um 9.30 Uhr. Eine weitere Nachfrage, wie sie denn »Treffen« meine, erbrachte keine Reaktion von ihr. Sie trieb also wieder ihr dämliches Spielchen. Was prima funktionierte, denn Attila war bereits sehr nervös, da bis zum Abflugtermin keinerlei Antwort von ihr mehr kam. Die immer wieder beliebte Operation »Vergissmeinnicht«.
Die Maschine der Airline startete mit einer halben Stunde Verspätung und wir waren schon echt gespannt, ob sie in BerlinTegel überhaupt würde landen können. Denn viele Flughäfen waren an den Tagen zuvor immer wieder gesperrt gewesen, zum Teil, weil das Enteisungsmittel für die Landebahnen fehlte. Welch ein exzellentes Organisationstalent! Der Winter kam im Dezember vermutlich wieder einmal völlig unerwartet.
Bei der Zwischenlandung in Palma de Mallorca fummelte Attila gleich sein Notebook aus dem Handgepäck, um nachzusehen, ob Uschi sich inzwischen vielleicht doch zu einer Antwort hatte hinreißen lassen. Aber nein, hatte sie nicht! Die Spannung musste doch aufrechterhalten werden. Sehr unterhaltsam, diese Frau.
Nicht nur sie. Im Flieger nach Berlin befand sich, zwei Sitzreihen weiter vorne, eine russische Familie, welche den gesamten Flug über für Ärger sorgte. Die zwei Männer hatten schon verbotenerweise Alkohol mit an Bord gebracht, diesen konsumiert und dann andauernd bei der Stewardess Nachschub bestellt. Aufgrund der Airline-Regeln durfte diese dann jedoch, weil die beiden »Herren« und die dazugehörige Frau schon betrunken waren, nichts mehr ausschenken. Das wiederum konnten die Russen nicht akzeptieren und so quälten sie absichtlich die Stewardessen, indem sie alle fünf Minuten etwas anderes haben wollten und auch noch die 11-jährige Tochter anstifteten, für sich KleinkindSpielzeug zu bestellen und ähnlichen Blödsinn.
Bis der Chefstewardess irgendwann der Kragen platzte, sie dem penetranten Wortführer der Russen erklärte, dass sie vorhin den Flugkapitän verständigt habe und dieser den nächsten Flughafen auf seine Kosten ansteuern werde, um die Familie abzusetzen. Dort werde sie dann von der Polizei erwartet, sofern er jetzt nicht sofort aufhöre. Trotzdem gingen die Belästigungen weiter, nun wurde eben ständig Wasser statt Alkohol bestellt. Pure Schikane! Ich musste die Stewardessen echt bewundern, dass sie trotzdem freundlich blieben. Vermutlich hätte ich diesem Kerl eine reingehauen, wäre ich die Flugbegleiterin gewesen.
Wir konnten in Berlin zum Glück landen. Wie immer schaltete Attila sein Handy wieder ein, noch bevor der Flieger ausgerollt war. Wie auf Kommando klingelte dieses, Fritz war am Apparat. Der hatte ein Problem mit seinem Abrechnungsprogramm; als Attila die nötige Information extrahiert hatte, waren alle anderen Passagiere schon ausgestiegen.
Konnte man uns denn keine fünf Minuten lang in Frieden lassen? Fritz wusste genau, dass wir uns auf der Reise nach Deutschland befanden. Wir holten unsere Koffer, dann war schon das nächste Telefonat mit Fritz zu führen. Attila vertröstete ihn damit, dass er sich um die Sache kümmern werde, sobald wir in der Bayreuther Pension angekommen wären.
Der Mietwagen, den Attila über Internet hatte reservieren lassen, war aus unerfindlichen Gründen nicht verfügbar. So mussten wir notgedrungen einen anderen mieten, der natürlich teurer kam. Klasse! Im Kofferraum dieses Kombis wurde dann noch im Parkhaus der Rechner wieder ausgepackt, um nach einer Mail von Uschi zu sehen. Die jedoch war natürlich noch immer nicht angekommen. Attila wurde zunehmend sauer und unruhig. Der einzige Trost war, dass wir uns wirklich passgenau den einzigen Tag ausgesucht hatten, an welchem die Straßen ausnahmsweise einmal nicht glatt waren; somit verlief die Fahrt nach Bayreuth wenigstens unproblematisch.
Dort angekommen, hatten wir noch ein paar Schreckminuten durchzustehen. Noch von Spanien aus hatte ich beim Inhaber der Pension ein Zimmer bestellt und angegeben, wir würden erst spät am Abend, wenn nicht sogar erst in der Nacht eintreffen. »Kein Problem«, hatte es geheißen, »wir haben eh Weihnachtsfeier.« Doch als wir dort ankamen, war alles dunkel und verrammelt.
Toll! Und jetzt? Bei minus 11 Grad im Auto schlafen? Glücklicherweise konnten wir mit einem soeben heimkehrenden Bewohner der Pension schnell zur Türe hineinschlüpfen und uns auf die Suche nach dem Inhaber machen. Gerade noch, bevor dieser in sein Bett verschwand, erwischten wir den Kerl und erhielten den Schlüssel. Was haben wir aufgeatmet! Hatte der doch geglaubt, wir würden nicht mehr kommen. Dabei zeigte die Uhr erst 22.30. Muss wohl eine langweilige Weihnachtsfeier gewesen sein!
Einen Trost hatte ich: Attila entspannte sich, denn nun war endlich Uschis Mail im Posteingang. Er könne Marco und Ronja um 9.30 Uhr abholen und habe sie bis 18 Uhr zurückzubringen. Von diesem Moment an war Attila wieder bester Laune, er behob sogar noch, abmachungsgemäß, den »Bug« in Fritz‘ Abrechnungsproblem. Aber erst, nachdem wir unsere knurrenden Mägen in einem noch geöffneten Schnellrestaurant aufgefüllt hatten.
Am Sonntag würgten wir ein schnelles Frühstück in der Pension hinunter, damit wir pünktlich die Kinder abholen konnten.
Seltsamerweise wurden Marco und Ronja nicht von Uschi, sondern von einer Nachbarin an Attila übergeben. Einer Nachbarin, über die Uschi seit Jahrzehnten schon mit üblen Äußerungen herzog und die sie niemals hatte leiden können. Der Zweck heiligte bei ihr wieder einmal die Mittel. Die Kinder hatten Geschenke für Attila gebastelt, er war sichtlich gerührt deswegen.
Außerdem erzählten sie uns, dass jeder von den Dreien seinen Weihnachtsbaum schön geschmückt habe. Jeder seinen Weihnachtsbaum? Ich fragte nach und erfuhr, dass Uschi und Attila den Kindern schon vor Jahren anstelle des Familienweihnachtsbaumes im Wohnzimmer jedem einen kleinen Plastikbaum für sein Zimmer gekauft hatten, damit es keinen Streit gebe und jeder den eigenen Baum nach seinem Geschmack in den Lieblingsfarben herrichten könne. Tja! Ich hatte immer geglaubt, Weihnachten sei ein Fest der Versammlung, der Gemeinsamkeit. Weswegen man sich auch einmal einigen konnte, weil Frieden herrschen sollte und alle zusammen sind. Und ausgerechnet da hatte man der Bequemlichkeit willen und um Streit zu vermeiden zu solch einer abartigen Lösung gegriffen?
Attila fand das heute noch gut und ich hielt lieber den Mund; ich machte mir aber so meine Gedanken darüber, warum die Kinder heute wohl so sind, wie sie sind. In diesem Moment taten sie mir leid. So jedenfalls ließ sich mühelos das Verhalten erklären, welches sie später an diesem Tag zeigten. Von den Eltern unterstützter Egoismus mit einer Prise Theatralik, die man unheimlich steigern konnte, falls nicht gleich einer darauf einging.
Wegen der glatten Straßen hatten wir beschlossen, mit dem Zug nach Nürnberg zu fahren. Wir wollten einen Indoor-Kletterpark besuchen, in welchem wir während eines Besuchswochenendes schon einmal mit Marco alleine gewesen waren. Das Schneechaos zeitigte aber leider auch Auswirkungen auf den Zugfahrplan, und so standen wir am Bahnhof eine Dreiviertelstunde lang auf dem zugigen Bahnsteig. Wir hatten jetzt vier Kinder dabei, denn ich hatte Fredi und Axel abholen können. Axel hatte uns verschmitzt ebenfalls Geschenke überreicht; für jeden eines, und noch eines für uns beide zusammen.
Die Letztgenannten rauften erst einmal fröhlich auf dem Bahnsteig vor sich hin, denn meine Söhne sahen sich seit meinem Umzug nach Spanien ja auch nur noch selten. Doch das war eigentlich mehr zum Spaß und nervte uns nicht weiter.
Endlich kam der Regionalzug, und wir besetzten einen Viererplatz mit Tisch und einen Zweierplatz.
Das ging nicht lange gut. Gleich am Anfang fingen Attilas Kinder in extremster Weise an, sich um die Rückwärtsfahr-Sitze zu streiten. Quengelnd, laut und provozierend. Lautstark und dramatisch wurden dem Vater die Gründe vorgetragen, warum wer wo sitzen durfte oder warum wer wo nicht. Hilflos und sanft versuchte Attila es auf der diplomatischen Schiene, was komplett misslang. Seine Vorschläge konnten und durften nur falsch sein, denn sonst hätte man das Spiel ja nicht fortsetzen können. Marco fing schon wieder an, vor sich hin zu greinen und den Märtyrer zu geben, während Ronja in leichte Hysterie verfiel. Mein Axel versuchte zu schlichten und die beiden abzulenken.
Ich nahm jetzt Attila beiseite und verklickerte ihm, dass er ein Machtwort sprechen müsse, nicht wieder darauf eingehen solle! Aber das konnte er nun mal nicht. Ich erntete bewundernde Blicke der fremden Leute in diesem Abteil, als ich halblaut anmerkte, dass Nerv tötende Kinder eigentlich aus dem Fenster gehängt gehören, anstatt noch verbal gestreichelt zu werden. Attila jedoch schien schon wieder sichtlich nervös zu sein, hatte Angst, es sich bei den Kindern zu verscherzen.
Aber musste man sich solches Verhalten von diesen Gören gefallen lassen, die genau das ausnutzten? Nein, ich denke nicht! Ich wartete eigentlich bloß noch darauf, dass auch hier die bewährte »Weihnachtsbaum-Methode« angewendet würde. So in die Richtung: jedem Kind seinen eigenen Waggon, damit es keinen Streit gibt. Vielleicht hätte man ihnen stattdessen einmal deutlich sagen müssen, dass man bald keinen Wert auf eine Abholung mehr lege, wenn sie das unbedingt provozieren möchten. Dann wäre bestimmt schnell Ruhe gewesen.
Mein Fredi blieb von alledem völlig unberührt. Der schmiegte sich an mich, als wolle er seine Seele auftanken. Legte sein Köpfchen an meine Brust und erzählte mir aus seinem kleinen Leben. Ich drückte ihn die ganze Fahrt über an mich, sagte ihm wieder einmal, dass ich ihn ganz arg liebhabe, aber dennoch wieder nach Spanien müsse, weil ich dort arbeite. Das verstand er und meinte, dann müssten wir unser Zusammensein halt jetzt genießen. Da stimmte ich meinem Jüngsten gerne zu.
In Nürnberg herrschte ekliges Schneematsch-Wetter. Zu sechst passten wir in kein handelsübliches Taxi, daher mussten wir ein Familientaxi anfordern. Die vier Kinder hatten nun Spaß miteinander, das war zunächst einmal auch im Freizeitpark so. Axel und Fredi erfreuten sich sehr an der Softball-Kanone, später fuhren alle mit den schnittigen Tretautos herum.
Ganz ohne Zwischenfälle ging es aber dennoch nicht. Stellenweise saß Ronja still in der Ecke und wirkte stinkig; warum, das wusste niemand. Und der weinerliche Marco konnte nicht verkraften, dass nicht in genau dem Moment, in welchem er es sich wünschte, ein Tretauto für ihn frei war. Er heulte dann wieder vor sich hin und bemitleidete sich lautstark selber.
Erneut dieselbe Verhaltensschiene!
Im Großen und Ganzen war der Tag aber trotzdem nett gewesen. Meine Buben hatten sich auch sehr gefreut, mich einmal wiederzuhaben. Als Attila die Kinder zurück in die Altstadt brachte, war weiterhin keine Uschi da, die sie in Empfang genommen hätte; diesmal wurde Heike, die Schwester der Delia Stohrer von Uschi beauftragt. Ich fragte mich wieder einmal, warum diese ganzen Leute sich derart vor ihren Wagen spannen ließen und zu jedwedem Gefallen bereit waren. Wer weiß, was für Horrorgeschichten sie denen über Attila erzählte!
Am Montagmorgen nahm Attila seinen Augenarzt-Termin wahr. Wie ich es befürchtet hatte, waren die Augeninnendruck-Werte viel schlechter als bei den Voruntersuchungen. Das war wohl die Quittung für den extremen Stress und die sehr langen Arbeitszeiten am Bildschirm während der Serverumstellung der letzten Wochen. In der Innenstadt kauften wir dann noch ein paar Weihnachtsgeschenke ein, um anschließend wegen der Bilanzbesprechung hinüber zur Steuerberaterin zu fahren.
Hier kristallisierte sich leider heraus, dass Attila in nächster Zeit 15.000 Euro an Steuern für die GmbH und die Ltd. zu bezahlen hatte. Das Finanzamt profitierte ganz schön an Attilas unbeugsamen Einsatzwillen, doch waren die Firmen noch immer nicht ansatzweise saniert. Wie lange einem doch Misswirtschaft nachhängen konnte!
Danach folgte dann der nächste, wenig angenehme Termin mit Attilas Anwalt. Es ging natürlich um das Gutachten zur Erziehungsfähigkeit. Das Gericht erwartete schließlich eine Stellungnahme der Parteien. Der Anwalt musste zugeben, dass Attila und ich mit unseren Einschätzungen absolut recht gehabt hatten; alle Befürchtungen, die wir im Laufe der Zeit seit April 2009 gehegt hatten, waren nach und nach in der Realität eingetroffen. Daher blieb nun nur noch, sich schweren Herzens wegen des halbherzigen Gutachtensergebnisses damit abzufinden, dass die Kinder bei Uschi bleiben wollten und das wohl auch mussten. Doch die Entscheidungen über schulische Laufbahn, Vermögen, Aufenthalte im Bezirkskrankenhaus oder sonstige Unterbringungen, durfte sie unserer Ansicht nach auf keinen Fall treffen. Man sah ja, wie verantwortungslos sie das handhabte! Somit regte Attila an, das Sorgerecht für die Kinder wenigstens auf das Jugendamt zu übertragen, wenn er selbst es aus unerfindlichen Gründen schon nicht übertragen bekam. Der Anwalt ging mit dieser Ansicht konform. Mittlerweile schneite es, so als ob Frau Holle ihr Lager einmal gründlich räumen müsste. Die Straßen waren komplett schneebedeckt, der Verkehr kam ziemlich zum Erliegen. Wir brauchten eine halbe Stunde, bis wir zurück in die Pension gelangten. Da es dort an diesem Tag kein Essen gab, mussten wir jedoch noch einmal aus der Bude, nachdem Attila seine Mails bearbeitet hatte, der Hunger trieb uns hinaus. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir uns durch die Schneemassen bis zum Industriegebiet durchgekämpft hatten; in der Nähe der Pension gab es nämlich nichts, wo wir etwas essen hätten können. So blieb uns wieder nur die Schnellimbiss-Schiene zur Nahrungsaufnahme übrig.
Gleich nach dem Betreten der Filiale winkte jemand in unsere Richtung, eine fröhliche Dicke. Attila klärte mich auf, dass dies die Heike, die Schwester der Delia Stohrer sei. Die vernünftigere Schwester allemal, und nett sei sie auch noch. Das stimmte! Sie begrüßte auch mich ohne Vorbehalte und wirkte nicht, als wäre sie von Uschi beeinflusst. Wobei der Schein manchmal trügt, aber Heike war zumindest freundlich und ihr Verhalten somit voll in Ordnung. Vielleicht dachte auch sie sich ihren Teil über Delias und Uschis kranke Intrigen.
Am nächsten Tag stand meine eigene Scheidungsverhandlung an. Attila musste währenddessen nach Neuenstein zum Arbeiten. Schon in den Morgennachrichten wurde gemeldet, dass ausgerechnet Bayern und Hessen in der Nacht wieder von einem neuerlichen Schneechaos heimgesucht worden waren. Daher machte ich mir morgens mehr Sorgen darum, ob Attila heil in Neuenstein bei Kurierdienstissimo ankommen würde, als um mein Gerichtsverfahren.
Da ich den Vormittag bis zum Termin irgendwie totschlagen musste, ging ich zum Frisör. Gott, was für ein Klischee! Die meisten Frauen ändern Haarschnitt oder -farbe nach Scheidungen. Ich änderte beides, und das noch vor der Verhandlung. Einen blonden Bobschnitt ließ ich mir verpassen, mein dunkleres Kartoffelblond hatte ich längst gründlich sattgehabt. Selbstverständlich geriet ich danach gleich in einen ekligen Schnee-Nieselregen, der die Föhnbemühungen des Salons gleich wieder zunichtemachte.
Während ich auf dem Weg zum Familiengericht über Murphy's Law nachsinnierte und ob dieses womöglich auch auf Frisörbesuche anzuwenden sei, kam mir jemand auf der Straße entgegen, den ich schon von weitem zu erkennen glaubte. Ausgerechnet Uschi war die Einzige, die bei diesem Wetter Richtung Innenstadt trottete. Na, so ein Glück aber auch! Als sie aufblickte und mich erkannte, verfinsterte sich ihre Miene, dass es nicht besser ging. Trotzdem sagte ich »Servus«, als ich an ihr vorüberging. Die Höflichkeit wurde mit irgendetwas beantwortet, dass im tiefst möglichen Ton wie »grummelgrummel« klang. Na immerhin!
Es gelang mir relativ schnell, die Gedanken an diese garstige Begegnung wieder abzuschütteln. Zum Glück war Attila auch inzwischen nach mehrstündiger Fahrt und Stau an seinem Bestimmungsort angelangt, ich atmete auf. So ein blöder Tag aber auch! Vor dem Verhandlungssaal im Gericht traf ich auf Günther. Der verhielt sich zum Glück ganz anders als Uschi, obwohl ja auch wir eine Scheidung durchzuziehen hatten. Er riss schwarze Witze und erzählte über Fredi. Als mein Rechtsanwalt auftauchte, guckte dieser ganz seltsam. Vermutlich war er es nicht gewohnt, dass Scheidungswillige noch ganz normal miteinander umgingen. Die Scheidung war eigentlich richtig entspannend. Null Streiterei, selbst der Richter war hierdurch sichtlich irritiert; besonders, als ich noch anmerkte, dass ich auf einen Versorgungsausgleich gerne verzichten würde. Nach 20 Minuten waren wir schon wieder draußen und ich hatte mich nicht im Mindesten aufgeregt. Es fühlte sich ein bisschen an, als wäre ich nur Einkaufen gegangen. Was vermutlich daran lag, dass Günther und ich eben KEINE Emotionen beim jeweils anderen mehr freisetzten, weder positiver noch negativer Natur. Das war der krasse Unterschied zum Rosenkrieg, ich nenne das jetzt wieder absichtlich so, von Attila und Uschi.
Der Tag war aber noch nicht zu Ende. Erst nahm mich Günther in seinem Auto mit zu Fredis Kindergarten, denn der wollte mich vor meiner Weiterreise noch einmal sehen. Ich holte das Kerlchen ab, dann fuhr uns Günther in die Stadt. Ich wollte mit Fredi noch für eine Stunde ins Eiscafé im Rotmaincenter, mit ihm reden und ihn noch einmal an mich drücken. Dann würde Günther ihn wieder abholen.
Kaum saßen wir im Eiscafé, hatte ich die nächste »nette« Begegnung dieses Tages. Ausgerechnet Günthers ziemlich ekelhafte Mutter saß zwei Tische weiter und wurde stürmisch von Fredi begrüßt. Na toll! Der letzte Kontakt, den ich vor Jahren mit dieser Frau gehabt hatte, war ein sehr negativer gewesen. Da musste ich sie des Hauses verweisen, weil sie sich derart zickig und boshaft verhielt, dass es nicht mehr auszuhalten ging. Sie war ebenfalls sichtlich erschrocken, als sie meine Anwesenheit gewahrte. Ihr Kaffee war ziemlich schnell ausgetrunken und dann verließ sie fluchtartig den Schauplatz.
Ich bin nun mal blöd, daher kriegte auch sie ein »hallo« und ein »tschüs« von mir. Vermutlich als Dank dafür, dass sie so tolle Geschichten über mich herumerzählte. Wie zum Beispiel: ich hätte ihren Sohn Hals über Kopf verlassen, weil ich einen viel reicheren Mann – Attila – gefunden habe. Was haben wir herzlich gelacht! Knöcheltief im Schneematsch watend, ging ich anschließend noch zu meinen Eltern hinüber. Ich wollte mein Weihnachtsgeschenk abgeben und mich wieder einmal blicken lassen. Natürlich bekam ich auf der Stelle wieder Geschichten über Ann zu hören. Meine Tochter war mittlerweile anscheinend mit einem Kirchenrestaurator aus Saalfeld zusammen, welcher in Bayreuth wohnte. Bei dem übernachtete sie, wenn sie am Wochenende aus Coburg zu Besuch kam. Zwei Vögel halte sie neben ihren drei Zwergkaninchen jetzt auch noch, als Studentin nebenbei arbeiten könne sie aber nicht, weil die Jobs zu dieser Jahreszeit alle schon weg seien, erzählte Mama.
Die Haltung der vielen Viecher trotz Geldmangel und die fehlende Arbeitsbereitschaft erinnerten leider fast schon ein wenig an Uschis Verhalten. Daher nahm ich mir vor, Ann finanziell nicht aus der Patsche zu helfen, auch wenn jetzt der Auspuff ihres Autos kaputtgegangen war und gleichzeitig die Autoversicherung fällig wurde. Je früher sie lernte, mit Geld umzugehen und vor allem, dass man selbst für dessen Erwerb zuständig war, desto besser.
Außerdem »durfte« ich mal wieder feststellen, dass sich alle seit meinem Weggang besser verstanden. Ann und ihr neuer Freund waren schon mehrmals beim angeblich so ungeliebten Ex-Stiefvater Günther zum Essen eingeladen gewesen, weil sich alle so blendend unterhalten können. Wie schön – und wie merkwürdig! Ich war recht froh darüber, als mich meine Mutter abschließend mit ihrem Auto in die Pension fuhr. An diesem Tag war ich schon kilometerweit gelaufen, mir taten die Füße weh. Jetzt wollte ich selbige hochlegen und mich auf Attilas Rückkehr freuen. Dieser traf auch wenig später ein.
Welch ein Tag, aber wir hatten ihn jetzt überstanden. Nach alledem waren wir froh, dass wir diese Nacht in der Pension noch gebucht hatten, denn nach dem ursprünglichen Plan wären wir in dieser Nacht hinunter nach Anzing gefahren. Manchmal machten wir eben doch etwas richtig.
Am Mittwochmorgen wollten wir ausgiebig frühstücken und dann gemütlich gen Anzing fahren, um diesen stressfreieren Teil dieser Deutschlandwoche bei Attilas Eltern zu begehen. Leider servierte die Pension nur bis 9 Uhr Frühstück und wir waren zu spät dran. Dann halt nicht, wir fuhren deswegen gleich los und holten uns den lebenswichtigen Kaffee eben an der Tankstelle.
Attilas Eltern freuten sich wieder riesig über unsere Ankunft. Wir bezogen das große Zimmer unter dem Dach und dann wurden, wie immer, die kulinarischen Spezialitäten von Szábos ausprobiert, so dass das Fehlen des Frühstückes absolut nicht mehr ins Gewicht fiel. Die Neuigkeiten seit dem letzten Besuch wurden ausgetauscht. Dank Uschi gab es ja immer genügend davon. Auch Attilas Schwester Ingrid und ihre Familie waren wieder ein dankbares Thema.