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Während Ingrids Tochter Francesca mittlerweile nun neben den üblichen Teenie-Allüren positive Tendenzen aufwies, sie arbeitete inzwischen in einem Café und hatte Spaß daran, waren die Geschichten rund um Ingrid immer dieselben. Kaum hatte sie einen neuen Job ergattert, war der auch schon wieder zu schlecht bezahlt und die Arbeitsbedingungen unmöglich. Wie immer! Und auch wie immer plante sie gleich wieder die Kündigung. Ihre Eltern waren recht enttäuscht, da sie nach wie vor alles für Ingrid und ihre Kinder taten und diese es nicht zu würdigen wusste. Es wurde als selbstverständlich hingenommen.
Am Nachmittag bekam Attila wieder seine Schmerzen in der Brust. Ich wusste ganz genau, dass diese recht stark sein mussten; denn wäre es ihm möglich gewesen, hätte er sich garantiert in Gegenwart seiner Eltern nichts anmerken lassen. So aber legte er sich sogar auf die Couch, krümmte sich vor Schmerzen. Seine Mutter brachte ihm ein krampflösendes Medikament, die Nr. 7 der Schüssler Salze. Zum Glück ging es ihm kurz darauf besser, doch würde er nach unserer Rückkehr unbedingt die Ursache abklären lassen müssen. Mit Herzproblemen war schließlich nicht zu spaßen.
Am Donnerstag gab es einige Aufregung. Erst teilte Ingrid mit, dass ihr Sohn Felix krank sei und sie die grippeähnlichen Symptome mit hohen Dosen Paracetamol behandle, um das hohe Fieber zu senken. Ursula versuchte, ihr beizubiegen, dass dies schädlich sei, weil der Körper das Fieber brauche, sich selber zu helfen, um die Bakterien zu bekämpfen. Sie stieß auf wenig Verständnis; ebenso wollte Ingrid zuerst nicht einsehen, dass der Junge erst einmal Bettruhe und Wadenwickel nötig habe und nicht aus der Wohnung gehen solle.
Während eines Telefonates hatte Ingrid zudem verfügt, Attila solle nur ja nichts für den Computer seiner Eltern besorgen, denn alle anderen Angehörigen sollten mit jeglichem Kauf bis Weihnachten warten. Also hatte sie selbst irgendetwas geplant. Attila aber wollte seinen Eltern gewisse Programme vorinstallieren, die es ihnen künftig ermöglichen sollten, Emails zu schreiben oder andere Anwendungen nutzen zu können. Da seine Eltern wenig von Computerfiguration verstanden, bekamen sie nun Bedenken, Ingrid könne deswegen beleidigt sein, weil sie ihre eigene Weihnachtsüberraschung gefährdet sehe. Es entwickelten sich unschöne Wortgefechte; Attila einerseits wollte den Computer entsprechend gebrauchsfähig machen, und das gleich, seine Eltern andererseits Konflikte an Heilig Abend vermeiden.
Irgendwann eskalierte das Ganze total. Ursula verließ erregt den Raum, Attila war sauer. Er merkte wütend an, er werde jetzt diese Arbeit zu Ende machen, dann werde er hier verschwinden und in einer Pension übernachten, von wo aus er dann direkt nach Hause fliege. Nun platzte aber mir fast der Kragen!
Was sollte das nun wieder? Herrgott nochmal, wo war eigentlich das Problem? Als Ursula und Stefan zurückkehrten, redeten wir noch einmal über die Sache und das Missverständnis löste sich weitgehend auf. Egal was Ingrid als Geschenk im Sinn hätte, es würde bestimmt nichts mit Attilas erledigten Voreinstellungen zu tun haben, somit auch nicht zum Streitfall werden.
Puh, das ging noch mal gut! Attila schlief nämlich doch nicht in der Pension, sondern ruhig an meiner Seite ein.
Dann nahte der Heilige Abend. Ingrid kam vorbei, schwang nicht ganz logische Reden über ihren Job und ihre Kündigungsabsicht. Teilweise provozierte sie hierbei absichtlich ihre Mutter, wollte nach ein paar Wortgeplänkeln auch vorzeitig beleidigt abhauen, was wir mittels Besänftigung verhindern konnten. Aber wenigstens hatte sie Felix zu Hause in seinem Bett gelassen, damit er sich auskurieren konnte und niemanden ansteckte.
Bezüglich des Weihnachtsgeschenkes gab es zum Glück Entwarnung. Ingrid schenkte ihren Eltern einen Prepaid-Stick, mit dem sie im Internet surfen konnten, und eine Anleitung für die Programme auf dem Computer. Attila und sein Vater bekamen von Ursula und mir das gleiche Geschenk, und das ohne vorherige Absprache: das vieldiskutierte Buch von Thilo Sarrazin, in welchem dieser die These vertrat, dass Deutschland mit Hochdruck dabei sei, sich selber abzuschaffen. Ich bekam auch ein nettes Buch von einem Autor, den ich gerne lesen mochte; und Attila schenkte mir ein Teil von Thomas Sabo, eine silberne Badesandale am lilafarbenen Satinband. Die passte natürlich hervorragend nach Spanien und auch zu meiner Garderobe.
Wir beschlossen diesen Abend harmonisch und Attila zeigte seiner Mutter noch die Bedienung des Email-Programmes. Nun würden wir auch auf diesem Weg miteinander über die 2.000 km hinweg kommunizieren können. Ausprobiert wurde das Mailschreiben gleich einmal mit Bekannten der Szábos, die sich über das Lebenszeichen der beiden sehr freuten und gleich mehrere Mails an sie abschickten.
Erst als wir zu Bett gingen erzählte mir Attila, dass er vorhin eine SMS seiner Tochter Solveig erhalten habe. Eine recht ekelhafte und undankbare Mitteilung. Sie hatte sich darüber beschwert, was ihrem Vater eigentlich einfiele, ihr eine CD mit einem halbnackten Mann auf dem Cover zu schicken. Attila schrieb zurück, dass dieser Sänger hier in Spanien »in« sei. Woraufhin sie zurückschrieb, das sei ihr vollkommen egal, was in Spanien sei. Sie werde die CD zurücksenden, sie wolle sie nicht haben, eigentlich gar kein Geschenk von ihm.
Dieses Weib, es war ja nicht zu fassen! Der Sänger zeigte auf dem Cover einen nackten Oberkörper, wie jeder zweite Deutsche, wenn er samstags sein Auto wäscht. Solveig und daran Anstoß nehmen, dass ich nicht lache! Sie war schließlich jemand, der sogar im Schüler-CC schon wegen obszöner Äußerungen mehrfach verwarnt worden war.
Nein, die pubertierende Göre wollte vielmehr wieder einmal absichtlich ihren Vater vor den Kopf stoßen. Die Äußerung klang außerdem doch recht typisch nach der Prüderie ihrer Mutter. Klar! Wenn man gegen Attila Front machen konnte, so waren sich auch Uschi und Solveig trotz aller Differenzen temporär und zweckgerichtet wieder einig.
Am nächsten Morgen schickte Attila eine Antwort-SMS an Solveig ab. Wenn sie schon kein Geschenk von ihm wolle, dann solle sie konsequenterweise auch das mitgeschickte Bargeld an ihre Geschwister verteilen. Darauf kam erwartungsgemäß keine Antwort mehr. Selbstverständlich kam auch die CD nie zurück.
Mit Sorge hatten Attila und ich die Wetternachrichten verfolgt, die speziell für Südbayern neue ergiebige Schneefälle ankündigten. Wir wollten am ersten Weihnachtsfeiertag mittags von München aus zurück nach Spanien fliegen und hatten nun Angst, der Flieger könne womöglich nicht starten. Solche Szenarien hatten sich in Deutschland in den letzten Wochen andauernd abgespielt, mal war kein Streusalz auf den Flughäfen vorhanden, mal fehlte es an Enteisungsmittel für die Flugzeuge. Vorsichtig lugten wir am 25.12. durch die Gardine, um das Ausmaß der Katastrophe zu eruieren. Aber wir hatten Glück, der Schneefall hatte sich entgegen der Meldungen in erträglichen Grenzen gehalten.
Gut gelaunt fuhren wir zum Flughafen, nachdem wir eine herzliche Verabschiedung bei Szábos erfahren hatten. Das Flugzeug startete pünktlich und wir freuten uns schon mächtig auf unsere neue Heimat. Dort würden die Temperaturen wieder viel erträglicher sein, außerdem würden wir überhaupt keinen Schnee mehr sehen müssen. Nach der Zwischenlandung in Madrid war es soweit: wir steuerten die Küste an und fühlten uns prima.
Daheim war alles in Ordnung, kein Einbrecher hatte das Haus angetastet. Wir hatten schon Bedenken bekommen, weil die von Ausländern bewohnten Siedlungen über Weihnachten alle nahezu verwaist dalagen. Die Bewohner weilten ja überwiegend in ihren Herkunftsländern. Außerdem hatte jemand kurz vor unserem Abflug den Sattel meines Fahrrades von unserer Terrasse geklaut, trotz des abgesperrten Eisentors.
Einen Wermutstropfen gab es an diesem Abend dennoch zu verarbeiten: einen neuerlichen Stressanruf von Ronja. Irgendetwas mit »ich kann im Zimmer nicht fernsehen, weil irgendwas mit dem Receiver ist und Mama das nicht behebt.« Was weiß ich, es spielte auch keine Rolle. Der Anruf warf für uns lediglich die Frage auf, ob nun vielleicht schon jedes Kind eine eigene Glotze im Zimmer stehen hatte. Wenigstens gelang es Attila, Ronja zu beruhigen und auf ihre Mutter zu verweisen. Receiver-Probleme lösten sich von Spanien aus schlecht, vor allem dann, wenn man selbst gar nicht glücklich darüber war, dass Kinder Fernseher im Zimmer stehen hatten. Wahrscheinlich wieder einmal, damit vor dem Familienfernseher nur ja keine Konflikte entstanden, um die Uschi sich hätte kümmern müssen.
Es lebe die Erziehungsfähigkeit!
Am Sonntag nach der Rückkehr fing ein harmonisches, ruhiges Leben für uns beide an. Attila wollte in den nächsten Tagen mit der Arbeit etwas langsamer treten, wir schliefen aus und gingen einkaufen. Ansonsten kümmerten wir uns um das neue Haus im Residencial Ambra, welches wir für den Umzug herrichten wollten, und packten Kartons. Ich stellte meinen neuen Roman fertig und schickte meiner Freundin Meike und Attilas Mitarbeiter und Freund Michl je ein Exemplar zum Probelesen. Man kann sagen, es ging uns für einige Tage lang richtig prima.
An Silvester waren wir bei unserem kolumbianischen Freund Juan eingeladen. Dort ging es gewohnt kolumbianisch-temperamentvoll zu. Wir lernten die Zubereitung von Natilla, einer Süßspeise vom Blech, und weiteren Köstlichkeiten. In Kolumbien werden diese Speisen an Silvester traditionell auf der Straße gegessen, lange Tische säumen dann die Straßen. Dazwischen tanzen fröhliche Leute ausgelassen Salsa.
Ja, es gibt zweifelsfrei Völker, die das Leben viel mehr zu genießen wissen als der Durchschnittsdeutsche. Prompt bekamen wir ein Video zu sehen, das einen Querschnitt durch die vielfältigen Landschaften von Juans alter Heimat zeigte; auch den Schauplatz, an dem das Land dereinst wegen einer Blumenvase einen Krieg führte. Die »Florero-Affäre« quasi.
Kurz bevor wir einen grausamen Übersättigungstod starben, legte Claudia eine neue CD ein; es folgte ein weiterer kolumbianischer Brauch, der einmal mehr zeigte, wie emotional dieses Volk lebte. Ein mit weinerlicher Stimme in Spanisch vorgetragenes Lied über einen Mann, der es nicht schaffte, rechtzeitig zu Weihnachten und Silvester bei seiner Familie zu sein. Das Lied war mit infernalischem Glockengeläut im Hintergrund untermalt. Dieses musste dann in voller Lautstärke abgespielt werden, was immer die Boxen der Stereoanlage hergaben. In Kolumbien heulen dabei alle wie Schlosshunde und rennen mit Glocken durch die Gegend, erzählte Juan mit einem Augenzwinkern. Eine endlose Viertelstunde lang, bis Mitternacht.
Dann wurde, wie überall auf der Welt, auf das neue Jahr angestoßen und Feuerwerk gezündet, auch wenn dies in weiten Teilen Spaniens mittlerweile verboten war, weil es wohl übertrieben wurde. Gleichwohl hielten speziell die chinesischen Pyrotechniker ein breites Angebot bereit. Man nahm es hier nicht so genau mit derartigen Vorschriften. Bei jedem Knall flüchtete Claudia, die offenbar einen Heidenrespekt vor Feuerwerkskörpern hatte, erschrocken in Richtung des Hauseingangs.
Dann war natürlich wieder Salsa-Tanzen angesagt. Juan räumte die Wohnzimmereinrichtung beiseite – und schon schwangen er und Claudia strahlend das Tanzbein. Dieses Mal weigerte sich Attila, er sah lieber zu. Auch Manuela, die 13-jährige Tochter Claudias, enthielt sich vornehm. Teenager tanzten eben überall auf der Welt lieber etwas anderes. Nicht einmal ich begab mich auf die Tanzfläche, wenn auch nur, weil meine beschädigten Knochen ansonsten wieder wochenlang Ärger gemacht hätten. Aber das Sitzenbleiben war gar nicht so einfach, das muss ich zugeben.
Juan hatte vorher noch über seine gebrochene Schulter geklagt, die bei jeder Bewegung schmerzte. Er war ein paar Wochen zuvor in der Badewanne ausgerutscht und gestürzt. Doch beim Salsa merkte man davon gar nichts mehr. Ich wünschte ihm, dass die Quittung für die viele Bewegung nicht am nächsten Tag käme – so wie neulich bei mir.
Gut gelaunt verabschiedeten wir uns in den frühen Morgenstunden. Juan bescherte das neue Jahr wenig später noch ein merkwürdiges Erlebnis: ein betrunkener Autofahrer krachte mit überhöhter Geschwindigkeit in sein Haus, nachdem er den Zaun niedergefahren und quer durch die Plantage gepflügt hatte. Außer Sachschäden passierte aber zum Glück nichts.
Das neue Jahr 2011 durften wir noch genau vier Tage lang in Frieden genießen. Dann schwappte eine neue Welle des Wahnsinns aus Deutschland herüber … ausgelöst von wem? Raten Sie mal!
Genau! Diese Frau hatte wieder einmal alle Register gezogen, derer sie habhaft werden konnte. Hatten wir es nicht schon längst gewusst? Kaum wähnte sie sich wegen des Gutachtens auf der sicheren Seite, setzte sie wieder alle verfügbaren Hebel in Bewegung, um Attila zu schaden. Musste sich wieder unbedingt seiner negativen Aufmerksamkeit versichern. Das gelang ihr in exzellenter Weise.
Innerhalb von nur zwei Tagen trafen die vorläufig letzten beiden Prophezeiungen ein, die wir schon vor längerer Zeit zum Besten gegeben hatten, auch beim Anwalt. Es ist so verdammt schwierig, sehenden Auges durch die Gegend zu laufen, wenn die meisten anderen blind für Offensichtliches sind. Egal ob es sich um Gutachter, Richter, Sozialpädagogen oder Angehörige handelt. Diese waren erfahrungsgemäß entweder zu den erforderlichen Denk-Konstrukts nicht fähig oder brachten den Mut nicht auf, die unausweichliche Progression der Vorgänge zu durchbrechen. Der Mensch hat eben vor nichts mehr Angst, als sich auf Unbekanntes einzulassen, oder sich Unausweichlichem zu stellen. Traurig, aber wahr!
Am 5. Januar beschlossen Attila und ich, uns nach der Arbeit im neuen Haus mit einem Abendessen beim Chinesen zu belohnen; Attila hatte so richtig Lust auf knusprige Ente bekommen und die schmeckte mir von jeher auch sehr gut. Wir duschten also und ersetzten die Arbeitsklamotten durch salonfähige Kleidung. Während Attila unter der Dusche weilte, klingelte sein Handy; wir glaubten beide, es handele sich um Attilas Kunden Fritz, der wieder einmal im richtigen Moment ein Problem mit seinem Programm hatte. Aber nein, das wäre ja noch harmlos gewesen! Das Display zeigte Uschis Nummer, und das konnte nur eines bedeuten: Magenschmerzen.
Ich saß fertig angezogen an meinem Schreibtisch und checkte noch meine Mails, während Attila Uschi genervt zurückrief. Die ließ sofort lautstark einen aufgeregten Wortschwall auf Attila einprasseln, so dass mir sofort klar war, dass sie wieder mit einem der Kinder nicht klarkam. Natürlich musste sie ihre Erziehungsunfähigkeit genau an jenem Menschen auslassen, dem sie mit jahrelangen Bemühungen das Sorgerecht weggenommen hatte. Sobald sie nicht weiterwusste, dann war Attila allemal gut genug, für sie die Kastanien aus dem Feuer zu holen.
Dieses Mal ging es um Solveig. Mein Adrenalinspiegel erreichte schwindelnde Höhen, als ich gegen meinen Willen, aufgrund der Lautstärke dieses Telefonates, mitbekam, worum es sich diesmal handelte.
Die liebe Solveig war vor einigen Tagen mit der Polizei nach Hause gebracht worden, weil sie bei einem Ladendiebstahl in einem Bekleidungsgeschäft erwischt worden war. Außerdem habe sie Uschi geschlagen und getreten, Uschi käme körperlich gegen sie nicht mehr an. Solveig verlasse das Haus, wann immer es ihr passe, und sie, Uschi, könne nichts dagegen machen. Die Polizei habe ihr auch gesagt, dass 13-jährige bis 22.00 Uhr draußen sein dürften. Darüber hinaus schwänze Solveig dauernd die Schule, spiele häufig krank und täusche Magenschmerzen vor, die Noten seien entsprechend. Aktuell sei sie gegen Uschis Willen um 19.30 Uhr aus dem Haus gegangen, habe sich nicht aufhalten lassen.
Jetzt hege Uschi Angst, dass sie abhauen werde oder sich mit ihren dubiosen Freunden treffe, denn sie befinde sich in einem schlechten Bekanntenkreis. Ihr kleiner Bruder Marco habe schon geäußert, er wolle bitte ins Nervenkrankenhaus eingeliefert werden, um seine Ruhe zu haben.
Nun gut, mich erstaunte das Ganze nicht im Geringsten! Wer Band 1 und 2 von »Scheidung kann tödlich sein« gelesen hat, dem wird wohl bekannt sein, dass ich den Verdacht eines solchen Werdeganges bei Attilas ältester Tochter längst kommen habe sehen. Einfach weil er vollkommen logisch war. Grenzenlose Erziehung mit viel zu viel Luxus, eine hilflose, erziehungsunfähige Mutter und ein zu weicher, duldsamer Vater, der sie total verzogen hatte. Die ganze Familie hatte jahrelang weit über ihre Verhältnisse gelebt. Was sollte hierbei herauskommen? Besonders, wenn das Luxusleben nun wegen der finanziellen Situation der Eltern nicht mehr möglich war und Solveig weiterhin alles tat, um im Mittelpunkt zu stehen? Wie ihrer Mutter war es ihr dabei egal, ob die Art der Aufmerksamkeit, die sie hierdurch bekam, negativer Art war.
Leider fiel auch Attilas Reaktion aus wie gewohnt. Obwohl wir schon x-mal über die Folgen seines Verhaltens diskutiert hatten, obwohl er genau wusste, wie weh er mir damit tat: wieder war er richtig nett zu Uschi, stieg voll auf ihr Gejammer ein, anstatt ihr einmal deutlich zu sagen, dass sie selbst es war, die maßgeblich an Solveigs Entgleisungen schuld war. Wer hatte sie zum Beispiel in eine verrufene Hauptschule gegen Attilas Willen gesteckt, obwohl stadtbekannt ist, dass dort ein äußerst negatives Umfeld herrscht? Wer wurde denn nicht mit dem pubertierenden Gör fertig, obwohl er, oder vielmehr sie, unbedingt das alleinige Sorgerecht haben wollte?
Aber nein, Attila verhielt sich wie gewohnt! »Oh je, ist das alles schlimm. Ja, scheiße, morgen ist Feiertag. Da sind die Ämter zu. Wenn du morgen nicht mit ihr klarkommen solltest, dann weise sie am besten in die Kinderund Jugendpsychiatrie ein. Ja, und ich kümmere mich um die Sache und rufe gleich am Freitagmorgen das Jugendamt an und versuche, Solveig in einem Heim unterzubekommen. Natürlich, bitte rufe mich nachher nochmal an, ob sie inzwischen heimgekommen ist. Bis später!«
So ungefähr hörte sich das Telefonat an. Mir war derart übel geworden, dass ich weder den Chinesen noch irgendein anderes Essen brauchte. Das konnte doch nicht wahr sein! Anstatt dem Kind endlich seine Grenzen aufzuzeigen, wollten die beiden in schönster Eintracht die 13-jährige lieber in die Psychiatrie einweisen lassen und später ins Heim stecken. Und Uschi, die das alles aktuell verbockte, wurde hierbei auch noch lieb und nett unterstützt. Wütend rannte ich die Treppe hinauf, um mich wieder in die Joggingklamotten zu begeben. Ich wäre sonst ausgerastet.
Als Attila sein Telefonat beendet hatte, meinte er in gespielt fröhlichem Ton: »So, schon erledigt, jetzt können wir Essen gehen«! Ich dachte, ich höre nicht richtig. Glaubte er denn im Ernst, ich würde mit ihm essen gehen, während er nett mit seiner Alten telefonierte, sie noch in ihrem abartigen Treiben unterstützte? Die ihn nicht etwa als treusorgende Mutter anrief, sondern nur ein Ventil brauchte, um ihren Frust abzulassen, während sie ihm, beziehungsweise uns, ansonsten im übertragenen Sinn seit mindestens zwei Jahren immer wieder das Messer zwischen die Rippen rammte?
Seinen Kindern helfen konnte und durfte er sowieso nicht, was also sollte das bringen, außer ihr eben wieder einmal die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die sie auf diese Weise von ihm erzwingen wollte?
Diesen Sachverhalt versuchte ich ihm geduldig darzulegen. Ich sah mich auch wieder einmal gezwungen, ihn zu fragen, weshalb er zu ihr denn erneut so betont lieb und nett gewesen sei, anstatt ihr endlich einmal zu zeigen, dass sie es sich verscherzt hatte und selber mit den Ergebnissen ihrer Nicht-Erziehung klarkommen musste?
Das wollte er natürlich nicht hören, seine Miene verfinsterte sich sofort. Anschließend brachte er es bei mir ohne weiteres fertig, einen stinkigen, verachtenden Ton anzuschlagen. Und was er zu mir sagte, das gab mir erst einmal wieder den Rest: es handele sich schließlich um seine Frau und um seine Kinder.
Danke, lieber Attila! Dann behalte sie doch, am besten ziehst du dort auch gleich wieder ein, wenn das so ist. Nur, was willst du dann eigentlich mit mir? In dieser Weise äußerte ich mich, denn ich war in diesem Moment ziemlich verletzt und obendrein stinksauer.
Uschi rief selbstverständlich später noch einmal an. Teilte mit, dass Solveig um 20.30 Uhr nach Hause gekommen sei und vergewisserte sich, dass Attila auch wirklich am Freitag die Sozialtanten anrufen und die Sache für sie regeln werde, was dieser ihr zusagte. Wieder im selben Ton.
Hätte ich nicht gewusst, mit wem er da telefonierte, ich hätte angenommen, dass eine gute, alte Freundin angerufen hätte. Die Krönung war dann, dass er Uschi erklärte, dass Solveig nur dann zu uns umziehen könne, wenn sie gelernt habe, sich an Regeln zu halten. Aber das müsse er erst noch mit mir absprechen.
Somit war ich für diesen Tag bedient; ich ging nach oben, um Kartons zu packen und mich damit abzureagieren, danach legte ich mich heulend in die Badewanne. Es war am besten, wenn ich ihn für eine Stunde nicht sah, mich dazu nicht äußern musste. Aufgrund meiner Reaktion war er ebenfalls auf mich sauer oder von mir enttäuscht, was weiß ich. Jedenfalls arbeitete er verbissen am Rechner, so wie er es zur Kompensation stets tat.
Oben überlegte ich, warum er bei dieser ekelhaften Tussi eigentlich so nett war. Musste die ihn erst anschießen, überfahren oder so etwas, bis er es schnallte? Wie hatte er das gemeint, »sie ist meine Frau«? Und vor allem: warum konnte er mit mir verbal Schlitten fahren, wenn er mich doch angeblich liebte und sie nicht mehr? Das war alles höchst unlogisch! Eigentlich musste er doch schließlich über die fast zwei Jahre hinweg gemerkt haben, dass er nichts für seine Kinder tun konnte und durfte, auch wenn das sehr schwer war.
Hinzu kam, dass ich Attila schon mehrfach deutlich gesagt hatte, dass ich mit Solveig nie wieder unter einem Dach leben könnte. Das würde garantiert nicht gut gehen und ich hatte bereits hinreichend Erfahrungen gemacht. Das würden meine Nerven keinesfalls packen, denn nach einer kurzen Phase der Euphorie bei Vater und Tochter würde ersterer zweifellos in sein altes Fahrwasser zurückfallen und sich von ihr einwickeln lassen, da war ich mir ziemlich sicher.
Dieses raffinierte Kind wusste genau, wie man ihn manipulieren konnte. Und mich hasste sie wie die Pest. Wenn sie Erziehungsversuche schon bei ihren Eltern nicht duldete, dann bei mir erst recht nicht! Sie würde mühelos Attila gegen mich aufbringen, sobald ich Versuche in diese Richtung unternahm. Wozu ich allerdings auch kein Bedürfnis hatte, warum sollte ausgerechnet ich die Versäumnisse der Eltern ausbügeln? All das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Nachdem ich nach dem Telefonat auch über diesen Punkt mit ihm gesprochen hatte, war mir eines klar: entweder, er würde sich im Notfall, den Uschi soeben provozierte, für seine Tochter entscheiden und in Kauf nehmen, dass ich fortging. Oder aber, er würde es nicht tun und mir lebenslang die Schuld dafür anrechnen, dass sie im Heim saß oder vollends auf die schiefe Bahn geriet. Bei beiden Möglichkeiten würde aber ich die Rechnung dafür bezahlen, dass Solveigs Erziehung noch immer gründlich in die Hose ging, was meine Person doch wohl nicht verschuldet hatte. Irgendwann ging ich wieder runter ins Wohnzimmer, wir mussten uns ja trotzdem mit diesem Problem befassen, das zwischen uns stand. Bravo Uschi, ganze Arbeit geleistet! Vermutlich war auch dieser kleine, nette Nebeneffekt von ihr so mit eingeplant. Denn uns bei unserem neuen Leben zu stören, das war ihr stets ein Bedürfnis. Mit dieser neuen Aktion hatte sie es nicht nur gestört, sondern nahezu zerstört. Wir gerieten uns den gesamten Abend lang in die Haare, machten uns gegenseitig Vorwürfe. Ich ihm, weil er immer wieder auf sie und ihre Machenschaften reagierte, und er mir, weil er meinte, dass ich die Tatsache, dass er mit dem Herzen an seinen Kindern hing, nicht genügend ernst nehme. Zum Schluss ging er mit frostiger Stimmung ins Bett und ich saß wütend und traurig auf der Couch.
Ich brütete eine Zeit lang resigniert vor mich hin, dann fasste ich einen Entschluss. So wie bisher konnte und durfte das nicht weitergehen. Das Strickmuster wiederholte sich bei jedem Anruf und Uschi würde vermutlich noch viele davon absetzen, bei jedem drohenden Problem mit den Kindern. Mein Entschluss war recht folgenschwer, denn ich gab mich geschlagen. Mir ging die Kraft zum Widerstand verloren. Wenn Attila meinte, dann sollte er sich doch mit seiner verkorksten Tochter belasten und seine Beziehung aufs Spiel setzen, ich mochte nicht mehr mit ihm darüber streiten.