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Das Chaos nahm kein Ende. Dienstag beschloss ich, im neuen Haus zu bleiben, um mal anständig sauber zu machen und meinen Wäscheberg abzutragen. Sechs Stunden schuftete ich und war hernach glücklich, alles erledigt zu haben. Als ich Attila in Los Leandros abholte, wo sich nach wie vor unser Büro befand, wartete ein Poststapel auf mich. Unter anderem lagen da gleich zwei Briefe der Autoversicherung, bei der Anns Fahrzeug versichert war; nach Monaten hatte Ann endlich unter Mithilfe von Theo das Auto umgemeldet. Jedenfalls glaubte ich das.
Den beiden Briefen war zu entnehmen, dass Ann am 7. Januar gleich zwei Unfälle am selben Tag gebaut hatte. Zuerst einen Auffahrunfall und danach hatte sie noch ein parkendes Auto angefahren. Es war im Schreiben vermerkt, dass ich nach wie vor als Versicherungsnehmerin geführt wurde, obwohl ich die Versicherung längst angeschrieben hatte und man mir zur Auskunft gab, dass ich vom Ausland aus überhaupt nicht Versicherungsnehmerin bleiben könne. Was also war nun wieder schiefgelaufen? Sicher war nur, dass das Fahrzeug eben nicht ordnungsgemäß auf meine Tochter versichert war. Daher erhielt ich die Unfallfragebögen. Super, noch eine Baustelle.
Das Ganze kostete mich einen Anruf bei meiner Mutter, ob die etwas Genaues wisse, und eine E-Mail an Ann. Letztere antwortete nur rotzfrech, ob wohl was nicht in Ordnung sei? Nun, die Erklärung konnte sie haben! Mied mich wie den Teufel, wollte mich aber dennoch als Versicherungsnehmer missbrauchen, um Geld und Ärger zu sparen. So nicht, liebe Tochter!
Das Telefonat mit meiner Mutter gestaltete sich, wie meistens, auch nicht sehr erbaulich. Dort erfuhr ich vorwiegend wieder einmal, dass sie wegen all dieser Probleme mit Ann nicht schlafen könne und ruinierte Nerven habe. Dass Ann im Übrigen schon wieder mit einem neuen Freund zusammen sei. Schuld an alledem sei im Grunde ich, weil ich Ann erst verschiedene Stiefväter vor die Nase gesetzt hätte und dann auch noch auswanderte. Meine Mutter interessierte rein gar nicht, dass Ann dieses Jahr schon 20 Jahre alt wurde, sich längst nichts mehr von mir sagen ließ. Aber wozu sollte ich ihr das erklären? Mea Culpa, alles klar.
Als nächstes hörte ich, dass Ann sich auch allen anderen gegenüber unmöglich verhalte, jeden nur ausnutze und sich nun auch noch einbilde, trotz Geldmangels ein neues Auto kaufen zu wollen. Der Corsa sei zu alt. Woher nahm sie nur dieses Anspruchsdenken? Ich hatte ihr das sicher nicht anerzogen! In ihrem Alter hatte ich eine uralte Rostlaube mit Löchern besessen, bei der ich froh sein konnte, wenn sie überhaupt zwischendurch ansprang. Als ich mir danach ein wiederum gebrauchtes Alt-Fahrzeug anschaffte, musste ich vorher arbeiten und mir dieses zusammensparen. Außerdem: noch bis 2009 hatte ich diesen Corsa gefahren, er war auch mir gut genug gewesen.
Zum Schluss erhielt ich noch eine Information, die sich meine Mutter mir gegenüber wirklich hätte sparen können. Mein Bruder Peter hatte den vier Jahre alten Honda Jazz meiner Eltern bekommen, weil der arme Kerl ja so wenig Geld habe und außerdem sein Haus abbezahlen müsse. Sie selbst legten sich ein Neues zu. Dies war schon das vierte Auto, das mein Bruder von meinen Eltern für lau übernehmen konnte. Immer mit der Begründung, er habe ja kein Geld, obwohl er von Anfang an einen Ganztagsjob beim Wasserwirtschaftsamt innehatte. Seine Frau arbeitete ebenfalls dort, für deren beiden Kinder erhielten sie Unterhalt vom Vater. Und die hatten kein Geld? Klasse.
Meiner Mutter war im Gegensatz dazu seit jeher völlig egal, wovon ich lebte. Ich hatte wahrlich schon Zeiten gehabt, in denen ich nicht wusste, woher ich überhaupt Geld fürs Essen nehmen sollte. Auch ich musste früher ein Haus abbezahlen, heute muss ich den Unterhalt für drei Kinder aufbringen und den Honda Jazz abstottern, den Attila auf mich überschreiben hatte lassen. Erst vor kurzem hatte ich mir ausgerechnet, dass mir von meinen Einnahmen über die Supportfirma weniger als 900 Euro blieben.
Aber wurde ICH jemals gefragt, ob ich ein Auto brauche? Nein. Natürlich nicht! Bei meiner Mutter galt ich seit meiner Geburt nur als Kind zweiter Klasse und mein Vater hatte nichts zu melden. Wenn sie mir das alles nur nicht immer wieder so eindringlich vor Augen geführt hätte …
1984 – Telefonbuch-Terror
Mein kleiner Bruder wird langsam erwachsen. Er überragt mich mittlerweile an Körpergröße und frönt nun mit seinen 16 Jahren auch echten Männertätigkeiten. Nicht, dass er besonders hinter den Mädchen her wäre. Dazu ist er viel zu verklemmt. Nein, mein Bruder hat sein Faible für Saufgelage mit Kumpels entdeckt; ich amüsiere mich jedes Mal köstlich, wenn er am nächsten Morgen so blass wie ein Sensenmann auf Urlaub aussieht und schwört, er werde nie wieder Alkohol anrühren, in seinem ganzen restlichen Leben nicht.
Neulich kam er in besonders desolatem Zustand nach Hause. Er war mit seinem Kumpel auf dem Bayreuther Volksfest gewesen, hatte dort anscheinend kräftig beim Maßkrug-Stemmen geholfen. Als er zu Hause ankam, hielt er jedenfalls nur noch den abgebrochenen Henkel eines Kruges in der Hand, war patschnass, dreckig und trug nur noch einen Schuh. Wohlgemerkt, der Volksfestplatz ist höchstens einen Kilometer von der Wohnung meiner Eltern entfernt und Peter hatte definitiv keine Ahnung mehr, wie er überhaupt nach Hause gekommen war.
Als der Herr Bruder seinen Rausch einigermaßen ausgeschlafen hatte, galt es, die Ereignisse vom Vorabend zu rekonstruieren. Irgendwo auf dem Weg musste er seinen Schuh verloren haben und inzwischen kam bruchstückhaft die Erinnerung zurück, dass er mit dem Maßkrug auf irgendetwas eingedroschen hatte, so dass hernach nur der Henkel übriggeblieben war.
Widerwillig und grün um die Nase trottete das Wrack meines Bruders zum Volksfestplatz, um seinen mutmaßlichen Rückweg zu rekonstruieren. Schon nach wenigen Metern wurde ihm klar, auf welche Weise der Maßkrug das Zeitliche gesegnet hatte: Peter musste ihn auf einem Autodach zertrümmert haben, denn die Scherben lagen noch deutlich sichtbar auf und um das alte Auto herum. Oh je! Also Zettel ans Auto, sich zur Tat bekennen und auf die Rechnung zur Schadensbeseitigung warten. Klasse, Peter! Von hier aus musste »Peterchen«, wie ihn meine Mutter gegen seinen Willen noch immer zärtlich nennt, wohl in Richtung des Roten Mains geschwankt sein, denn seine Kleidung war in der Nacht durchnässt gewesen. Und siehe da – hier lag, mit Algen und Schlamm verziert, der vermisste Schuh im seichten Wasser. Den durfte Peter jetzt aus dem Flussbett angeln, sonst würde Mutter ihn vierteilen. Schließlich kauft sie ihm die Schuhe und wäre nicht erbaut, das schon wieder tun zu müssen.
Mit ekelverzerrtem Gesicht fischte der Peter also den Schuh heraus, schüttelte provisorisch die Sauerei aus dessen Innenleben. Er sah dabei aus, als wäre ihm nun wieder speiübel. Was es ihm scheinbar am Vorabend auch schon gewesen war, denn der restliche, im wahrsten Sinne des Wortes feuchtfröhliche Nachhauseweg war mit mehreren »Pizzen« verziert, die mutmaßlich von ihm gestammt haben dürften.
Wieder bemerkt Peterchen, er werde nie wieder Alkohol zu sich nehmen. Nie wieder. Besonders nach dem Generalanschiss unserer Mutter, die normalerweise eher zu sanft mit ihrem geliebten Bübchen umgeht.
Heute Abend werde ich die Einweihung meiner ersten eigenen Wohnung gebührend feiern, welche im Dachgeschoss einer nagelneuen, sehr ansprechenden Wohnanlage liegt. Ich verfüge sogar über eine Loggia mit Blick über Bayreuth und ein sechseckiges Schlafzimmer, wandere immer wieder stolz durch meine Räume. Im Wohnzimmer habe ich eine Fototapete mit Palmenstrand angebracht, passend dazu eine Anpflanzung mit Sand, Palmen und Lavabrunnen aufgestellt. Eine der Küchenwände ist sogar mit einer riesigen Palme bemalt und diese ganze Pracht habe ich mit meinem Beamtengehalt höchstpersönlich selber bezahlt.
Wenigstens dafür ist dieser Job gut! Ja, ich bin schon sehr glücklich, endlich aus dem Kinderzimmer ausgezogen zu sein, welches ich bis vor wenigen Tagen immer noch zusammen mit meinem Bruder bewohnt habe. Mann, werden meine Freunde staunen, wenn sie diese Pracht hier sehen!
Natürlich habe ich raue Mengen an Bier, Schnaps und Wein besorgt. Man bekommt ja nur einmal im Leben seine erste Wohnung und das will angemessen gefeiert werden. Peter wird auch kommen, seinen Kumpel Roli mitbringen. Ich habe mir vorgenommen, ihn einmal derart abzufüllen, dass es ihm für alle Zeiten vergeht. Denn er übertreibt seinen Alkoholkonsum in letzter Zeit für meinen Geschmack etwas und ich habe im Dienst oft genug gesehen, wo so etwas enden kann; das muss verhindert werden.
Peter ist zwar doof, aber immerhin mein Bruder. Dekorativ stelle ich die Schnapsflaschen schön in einer Reihe auf die Küchenzeile, damit er sie auch sieht.
Als ich Peter zu Hause abhole, ermahnt mich meine Mutter eindringlich, ich solle bloß gut auf ihren Sohn aufpassen. Nicht, dass er zu viel trinkt! Und um Mitternacht müsse ich ihn nach Hause bringen, aber zuverlässig, nicht später!
»Jaja, Mama. Alles klar, mache ich!«
Es läuft genauso wie von mir erwartet. Während meine Gäste so langsam einlaufen und meine Behausung bewundern, mit einem Gläschen Wein auf der Loggia stehen und mich beneiden, checkt mein Bruder bereits die Spirituosenbestände. Roli und er bemerken fachkundig, dass diese paar lumpigen Fläschchen wohl kaum reichen werden, sich anständig und gepflegt die Kante zu geben. Na klar, niemals! Bei solch harten Männern mit derart ausgeprägten Lebern natürlich nicht! Ich grinse in mich hinein und harre der Dinge, die da kommen werden.
Zunächst muss ich mich um die Versorgung meiner anderen Gäste kümmern, kann ab und zu nur einen Seitenblick in die Küche werfen, wo Peter und Roli intensiv Barkeeper spielen. Sie sind sich selbst die besten Gäste, denn Roli singt bereits und Peters Aussprache klingt schon verwaschen. Als ich ihn frage, wie es ihm in seiner Küche denn so geht, verbiegt er seltsam den Oberkörper und versucht mit zwei Fingern, das Victory-Zeichen zu formen. So ganz will das aber nicht gelingen. Er hat Gleichgewichtsprobleme, gut so. Da kann es bis zum totalen »Tilt« nicht mehr weit sein.
Als ich das nächste Mal an der Küche vorbeikomme, sehe ich bloß noch den Roli, der sich krampfhaft an der Arbeitsplatte der Küchenzeile festkrallt, so als wäre es die Reling eines Dampfers bei schwerem Seegang. Sprechen kann er nicht mehr, als ich ihn beiläufig frage, wo denn der Peter abgeblieben sei. Nur noch vorsichtig in Richtung meiner Toilette deuten.
Aha, es ist so weit! Schon beschweren sich Gäste, dass das Klo dauernd blockiert sei, die Türe auch nicht aufgehe, obwohl man sehen könne, dass nicht von innen abgesperrt sei. Mit Gewalt drücke ich die Tür einen Spalt breit auf, sehe meinen Bruder am Fußboden liegen. Er hat sich dekorativ rund um die Toilettenschüssel drapiert und stöhnt leise vor sich hin, ein Bild für Götter. Kein Wunder, dass niemand die Türe öffnen konnte! Peter ist fast 2 Meter groß und musste in seinem Zustand auf den Boden meines eher kleinen Duschbades passen.
Drei kräftigere Männer aus meinem Bekanntenkreis helfen mir, den käseweißen Peter vorsichtig aus dem Bad zu bugsieren, ihn neben einem Eimer in meiner Diele abzulegen. Sonst kann keiner mehr auf die Toilette gehen. Peter hat keine Ahnung, wo oder wer er ist; er sieht aus, als würde er jeden Moment den Löffel abgeben. Zum Glück kotzt er nicht mehr, das hat er bereits ausgiebig hinter sich. Sein Freund Roli verabschiedet sich kleinlaut, dieser hat wohl etwas früher mit dem Alkoholkonsum aufgehört und kann noch nach Hause wanken, er hat es nicht sehr weit.
Peter allerdings erkennt ihn nicht mehr, versucht stattdessen krampfhaft, das Karussell anzuhalten, auf dem er sich wähnt. Mit seinen Flurschadentretern »bremst« er zu beiden Seiten meiner schön weiß getünchten Diele an den Wänden, hinterlässt hässliche Schuhabdrücke. Da werde ich morgen mit Farbe und Pinsel anrücken müssen, aber ich bin ja selber schuld.
Jetzt fängt der Peter auch noch an zu zittern, scheinbar ist ihm kalt. Als ich mit einer Decke die Kälte verscheuchen will, hat er bereits etwas zum Zudecken gefunden: mein Telefonbuch. Er hat es sich auf den Bauch gelegt, klammert sich mit beiden Händen daran fest, so als wäre es eine Bettdecke. Und ist eingeschlafen, schnarcht wie ein Waldarbeiter. Na gut, den lasse ich erst einmal so liegen, informiere nur meine Gäste, damit sie nicht drauftreten. Alle paar Minuten grunzt der Peter auf, haut mit Händen und Füßen um sich und rückt das Telefonbuch wieder gerade, damit er nicht friert. Jedes Mal ergibt es neue Fußabdrücke an meiner Wand, Größe 46.
Irgendwann verabschieden sich die ersten meiner Freunde und ich nehme entsetzt wahr, dass es bereits 23.30 Uhr ist. Mist, der Peter muss dringend heim! Aber wie soll das bitteschön gehen? Ich schnappe mir wieder die drei kräftigen Kumpels und bitte sie, den Peter in die Senkrechte zu bringen. Weil wir ihn die Treppe hinunter und zum Auto schaffen müssen. Sie sehen mich ungläubig an. »Wie sollen wir, bitte schön, diesen langen Kerl heil die Treppe hinunterkriegen? Aus dem zweiten Stock? Laufen kann der bestimmt nicht!«
Da haben sie allerdings Recht, aber es muss irgendwie gehen. Ich mag mir einfach keinen Einlauf bei Mama abholen!
Es IST schwierig. Kaum, dass man Peter auf seine Füße stellen will, wird ihm wieder schlecht. Stehen kann er nicht, außerdem ist er wütend und schlägt um sich. Er will unbedingt unter seinem Telefonbuch weiterschlafen. Wir lassen das Peterchen erst einmal ausgiebig das Klo vollkotzen, dann zerren wir es mit Gewalt aus der Wohnung. Im Treppenhaus kommen wir arg ins Schwitzen, denn der Peter ist nicht nur unhandlich, sondern schwankt gefährlich auf den Treppenstufen herum. Dazu brüllt er jetzt auch noch unflätig Schimpfwörter, die es eigentlich gar nicht gibt. Die hat er im Rausch wohl selber erfunden. Im ganzen Haus öffnen sich Wohnungstüren und die Bewohner lugen ängstlich durch den Türspalt. Was ist denn da bloß los?
Ich entschuldige mich bei den Leuten, will ja eigentlich nicht gleich nach dem Einzug negativ auffallen, während ich zusammen mit den anderen versuche, nicht mitsamt Peter die Treppe hinunterzufallen. Manchmal ist es knapp; zum Beispiel, wenn Peter sich am Geländer festklammert und unbedingt wieder nach oben will. Zum Telefonbuch. Wenn ich ihm dann mit Gewalt die Finger aufgebogen habe, kriegt er das Übergewicht und reißt die anderen fast mit runter.
Uff, geschafft! Der Peter ist endlich unten und mein Nachbar hält die Tür auf. Jetzt muss Peter noch die 100 Meter bis zum Auto geschleift werden, dann ist Teil 1 dieser Aufgabe erst einmal erledigt. Es ist allerdings noch ein Kunststückchen, den Peter ins Auto zu bekommen, denn mein Toyota Starlet hat keinen allzu großen Innenraum und Peter schlägt noch immer wild um sich, klammert sich überall fest. Jetzt endlich haben wir die Autotür zu bekommen, Peter liegt indes vornübergebeugt mit dem Kopf auf dem Armaturenbrett und wimmert vor sich hin.
Die anderen Jungs fragen mich halbherzig, ob einer mitfahren und uns begleiten sollte; sie sind sichtbar erleichtert, als ich verneine. Die sind schon geschafft genug, das Ganze war ja auch meine eigene Schuld.
Während ich losfahre, bereue ich meine Entscheidung bereits. Was würde ich denn machen, wenn ich Autofahren muss und Peter greift mir womöglich ins Lenkrad, kotzt mir ins Auto oder was sonst ihm einfallen mag? Ich greife ins Handschuhfach und händige ihm die Betriebsanleitung für das Auto aus, weil ich hier kein Telefonbuch zur Hand habe und er sich wieder zudecken will.
Ich übertrete sämtliche Verkehrsregeln und fahre viel zu schnell zur Wohnung meiner Eltern, denn für heute will ich den lieben Peter nur noch loswerden. Als wir ankommen, muss ich ihn wieder mit Gewalt aus dem Auto zerren, dieses Mal jedoch ohne fremde Hilfe, ganz alleine. Es gelingt trotzdem einigermaßen, weil die kalte Nachtluft Peters Lebensgeister wieder kurz aktiviert. Er weiß allerdings immer noch nicht, wer oder wo er ist, stützt sich schwer auf mich und jammert. So wanken wir zu zweit auf die Haustüre zu. Wenn Mama das sieht, kann ich was erleben! Hoffentlich schaut sie nicht aus dem Fenster.
An der Haustüre rutscht Peter wie in Zeitlupe hinunter, bleibt mit starrem Blick in der Hocke, an die Tür gelehnt, sitzen. Da kommt mir ein brillanter Einfall: ich klingele einfach und verschwinde. Heute bin ich viel zu fertig, um meiner Mutter etwas zu erklären. Das reicht morgen auch noch.
Gesagt – getan! Schon sitze ich im Auto, fahre wie der Teufel zurück zu meiner Party. Und wundere mich, dass meine Mutter gar nicht empört anruft, was ich mit ihrem Peterchen gemacht hätte.
Nachdem die Gäste später alle gegangen sind, befällt mich erst einmal der Katzenjammer: meine schöne neue Wohnung gleicht einem Schlachtfeld. Ich räume provisorisch auf, wische auch die Kotze aus meinem Badezimmer. Und stelle fest, dass der Schnaps tatsächlich bis auf den letzten Tropfen vernichtet wurde.
Am nächsten Tag rufe ich bei meinen Eltern an und will wissen, wie es Peter geht. Ich erfahre den Grund, warum in der Nacht niemand erbost bei mir angerufen hatte: der Peter konnte sich an gar nichts erinnern, hatte den totalen Filmriss. Er wusste weder, dass er jemals in meiner Wohnung gewesen war, noch, dass ich ihn heimgefahren hatte. Gar nichts. So denkt meine Mutter, er sei woanders auf Sauftour mit seinem Kumpel gegangen, will diesen als Schuldigen zur Sau machen. Das kann ich nun doch nicht dulden und erzähle notgedrungen die Wahrheit.
Als Mama wütend loslegt, bin ich dann heilfroh, eine eigene Wohnung zu haben, bei der ich die Türe absperren und den Telefonstecker ziehen kann. So verabschiede ich mich recht schnell, bewaffne mich mit Putzlappen, Farbe und Pinsel, um die restlichen Spuren der Nacht zu beseitigen.
Und mein Bruder? Als er nicht mehr grünlich im Gesicht ist, beteuert er erneut, er werde nie mehr etwas trinken. Aber dieses Mal hält er sich daran, schon beim Geruch von Schnaps wird ihm jetzt schlecht.
Manchmal heiligt der Zweck die Mittel.
*
Den Mittwochvormittag verbrachten wir in der Bankfiliale. Wir bezahlten unsere Steuern. So etwas funktionierte hier nach Auskunft des Steuerberaters kurioserweise ausschließlich persönlich am Bankschalter, weil man einen Nachweis darüber bereithalten muss; ein Überweisungsbeleg wird da angeblich nicht anerkannt. Danach eröffneten wir endlich die Geschäftskonten, nachdem nun unsere Firmen ordnungsgemäß im Handelsregister eingetragen waren.
Ich weiß auch nicht! Wir arbeiteten, regelten und bemühten uns und kamen trotzdem weder auf einen grünen Zweig, noch wusste irgendjemand unsere Bemühungen zu schätzen. Mit Ausnahme der netten Lektorin des Verlages, die meine Manuskripte mochte und rege E-Mails mit mir austauschte. Ich hoffte nur, dass ich wenigstens diesen Vertrag im März abschließen und so das erste Buch würde veröffentlichen können.
Am Abend rief mich Theo an und wollte wissen, was denn mit Anns Versicherung verkehrt gelaufen sei. Sie habe ihn von dem Schreiben an die Gesellschaft informiert, welches ich ihr per Mail hatte zukommen lassen. Ich erklärte ihm die Sachlage; er bekundete seine Ansicht, dass auch er vom Verhalten Anns nicht begeistert sei. Man könne nicht dauernd von seiner Mutter die Vorteile herausziehen und ihr andererseits die kalte Schulter zeigen. Das werde er ihr nochmals deutlich sagen, denn sie komme morgen sowieso bei ihm vorbei. Ich machte mir dennoch keine allzu großen Hoffnungen, dass sie auf mich in Frieden zukäme. Eine gewisse Sturheit hat sie nämlich durchaus von mir als charakterliches Erbe mitbekommen.
Hinsichtlich Attilas Gerichtstermins stand nun fest, dass am 2. März 2011 alles verhandelt werden sollte, nämlich die Unterhaltssache genauso wie das Sorgerecht für die Kinder. Damit war mir klar, dass sich an diesem einzigen Tag auch für mich verdammt viel entscheiden konnte. Werden wir alleine in Spanien weiterleben? Kann ich meine Bücher finanzieren, oder wären wir weiterhin der lückenlosen finanziellen Überwachung ausgesetzt, müssten für jede Investition Rede und Antwort stehen?
Ein Wendepunkt, so oder so! Ich war auch schon gespannt, ob Attila jetzt endlich geschieden werden würde. Selbst nach Uschis kranker Berechnung lebten die beiden nun schon seit fast zwei Jahren getrennt, tatsächlich waren es bereits mehr als drei.
Nach Bewältigung dieser Hürde, also nach unserer Rückkehr aus Deutschland, kam der nächste, auch nicht ausschließlich angenehme Event auf uns zu. Fritz und Mike von Kurier-Netz planten ihren Besuch für Mitte oder Ende März bei uns; sie würden uns mehrere Tage lang über die Schulter sehen und herausfinden, wie wir arbeiteten. Gleichzeitig sollten wir auch ermöglichen, dass Mikes Schwager in die Geheimnisse von Attilas Programmiererei eingearbeitet wird. Angeblich zur Sicherheit, falls wir ausfallen sollten (also wir beide und Michl).
Ich konnte nur hoffen, dass das wirklich der einzige Grund war. Nicht, dass am Ende vielmehr bereits geplant wurde, den Schwager nach seiner Einarbeitung als Ersatz für einen von uns im Unternehmen zu platzieren, sobald der die notwendigen Kenntnisse über das System erlangt hätte. Etwa um Kosten zu sparen oder das ins Programm investierte Geld zukünftig in der eigenen Familie zu halten.
Dieser Besuch bedeutete, dass sich in unserem neuen kleinen 10 qm-Büro den ganzen Tag lang insgesamt sechs Mann aufhalten würden, denn auch Michl wollte aus Deutschland anreisen und würde in dieser Zeit auch bei uns wohnen. Mindestens eine Woche lang. Da war ich echt gespannt, wie das wohl funktionieren sollte.
Attila schaffte für die Firma noch einen Extra-Rechner und 3 Monitore an, auch damit die Herrschaften sehen konnten, dass ihre Server ständig genauestens überwacht wurden. Klar, das erleichterte auch Attila künftig die Arbeit, weil man nicht ständig auf dem Bildschirm hin und herschalten musste. Hoffentlich würde ihm dieser teure Aufwand gedankt.
Für mich hatte das wieder einmal einen Nebeneffekt, der mir nicht so recht schmecken mochte. Seit über einem halben Jahr schon war ich Attila alle paar Wochen in den Ohren gelegen, dass ich gerne, wie vereinbart, den Job erlernen würde, für welchen ich über meine Firma bezahlt wurde. Immer hatte er abgelehnt, jeweils mit unterschiedlichen Begründungen. So hatte ich letzten Endes aufgegeben und mich stattdessen um das Schreiben meiner Bücher gekümmert.
Jetzt plötzlich erklärte mir Attila, er müsse mir eine Schnelleinweisung geben, bevor die Delegation anrücke. Damit die Auftraggeber sehen könnten, dass auch ich mich auskenne und kompetente Arbeit leiste. Klasse, im Schnellverfahren konnte ich jetzt vermutlich zusehen, dass ich mir all die Kenntnisse in Rekordzeit aneignete.
Ich kam mir schon ein wenig benutzt vor, sollte mich immer dem beugen, was Attila gerade einfiel. Über solche Punkte würde ich wohl noch eine sehr unerfreuliche Diskussion mit ihm führen müssen, sonst ginge das wohl endlos so weiter. Nur lieber nicht gleich, denn momentan hatte Attila mit der Information der Telefongesellschaft zu kämpfen, die ihm eröffnet hatte, dass in unserer neuen Wohngegend noch keine DSL-Leitung liege und daher nur ein analoger Internetanschluss mit Modem-Geschwindigkeit möglich sei. Das versalzte ihm die Freude an unserem neuen Büro erheblich.
Nach einer längeren Such-Odyssee hatten wir wenigstens eine Lösung für dieses Problem gefunden. In Form eines kompetenten Computerladens sowie einer gleich daneben angesiedelten Firma, welche Richtfunk-Internetverbindungen anbot, die eine einigermaßen ordentliche Geschwindigkeit garantierten. So war dann doch alles in die Wege geleitet, sichergestellt, dass wir endlich auch das Büro umziehen konnten. Ich mochte gar nicht daran denken, dass die neue Adresse im Einwohneramt, im Handelsregister und wer weiß wo noch registriert werden musste. Das roch nach langen Wartezeiten in allen möglichen Ämtern.
Am Samstag klapperten wir die Baumärkte ab, um nach einer Satellitenschüssel und Baumaterial für die Teilüberdachung unseres Hinterhofes zu sehen. Attila baute mit einfachsten und vor allen Dingen preisgünstigsten Mitteln ein provisorisches Dach, unter dem wir Putzmittel, Leiter, Haushaltsgeräte und ähnliches unterstellen konnten, denn der Innenraum des Hauses bot hierfür keinerlei Möglichkeiten.