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Wie konnte man nur derart über seine Verhältnisse leben?
Es war nicht davon auszugehen, dass sie diesen Zusammenhang jemals kapierte. Attila wäre wieder in der Defensive, müsste sich nach allen Seiten hin verteidigen. Wer wusste schon sicher, ob der Familienrichter diese Zusammenhänge würde vollinhaltlich verstehen können? Dass sich Attila trotzdem weiterhin kein oder nur ein sehr niedriges Gehalt auszahlen konnte? Dass er selber von dieser »Gewinnausschüttung« keinen Cent sehen würde? Es blieb ohnehin schon spannend genug, auch ohne diesen Winkelzug. Denn mir war wirklich nicht ganz klar, wie Attila all das bis zum Jahresende 2011 stemmen wollte, wenn die Firma endgültig liquidiert werden sollte. Der Ausgleich besagter 40.000 Euro, dazu Steuerzahlungen, ebenfalls in 5-stelliger Höhe. Nebenbei noch die neu aufgetauchten Verbindlichkeiten von ungefähr 16.000 Euro. Und das alles, obwohl er dauernd nicht zum Arbeiten kam. Ich merkte es ihm an: sein Optimismus nahm stetig ab, auch er bekam es mit der Angst zu tun. Ich sowieso, die ich vorher niemals mit solchen Minus-Beträgen jongliert hatte.
Ich witterte eine weitere Gefahr, die Attila anscheinend überhaupt nicht bewusst war, oder die er verdrängte; ihn darauf anzusprechen, hätte unter Garantie wieder Streit bedeutet. Aber Attila versuchte ständig, die Kinder hierher zu holen, obwohl er den Anwalt eben erst wieder wahrheitsgemäß hatte schreiben lassen, dass wir auf 80 qm leben und auch noch unsere beiden Firmen in dem kleinen Häuschen untergebracht seien. Was absolut den Tatsachen entsprach.
Wenn er nun beim Richter aber signalisierte, die Kinder hier haben zu wollen, oder auch nur eines davon, dann würde das einige Fragen aufwerfen. Wenn er nicht leistungsfähig für Kindesunterhalt ist, wie soll er deren Umzug, Unterbringung und die internationale Schule bezahlen?
Ich kannte Attila! Der würde euphorisch von sich geben, das ginge alles schon, man müsste eben ein größeres Haus mieten. Er täte alles dafür, wenn er nur Uschi die Kinder entreißen könnte, würde sich dabei sogar selber ans Messer liefern. Denn dann wäre er in echter Erklärungsnot, woher denn das Geld dafür plötzlich kommen sollte, was er doch angeblich nicht hatte? Wieder ein Grund, sich nicht gerade auf die Verhandlung zu freuen.
Außerdem – falls sich der Richter vorschlagsgemäß darauf einließ, die Leistungsfähigkeit für Unterhaltszahlungen durch einen Wirtschaftsprüfer eruieren zu lassen, würde Attila wiederum Erklärungsnöte bekommen. Wie erklärt man, dass man trotz Kenntnis seiner Unterhaltspflicht Teile der Firma an die Lebensgefährtin abgegeben hat, dieser eine separate neue Firma gründete und auch den Umzug nach Spanien alleine bezahlte? Das hatte er getan, denn ich besaß nach meiner Scheidung selber null Rücklagen. Stattdessen hohe monatliche Belastungen, denn ich zahlte Kindesunterhalt für alle drei Kinder, wenn auch keineswegs in voller Höhe.
Freilich hatte Attila sich Begründungen überlegt, die der Wahrheit entsprachen. Wie zum Beispiel, dass er nicht mehr so lange vor dem Bildschirm sitzen durfte, weil sonst seine Augeninnendruck-Werte sich sofort verschlechterten. Und dass sich die hohen Umzugskosten wegen der hier viel niedrigeren Lebenshaltungskosten schnell amortisieren würden. Dass ich ihm das »Darlehen« schrittweise zurückzahlen würde.
Nur stellte sich die Frage: sah das der Wirtschaftsprüfer genauso, oder könnte das sogar strafrechtlichen Ärger bedeuten, eine Unterhaltspflichtverletzung hieraus konstruiert werden? Ein schlimmes Gefühl der Unsicherheit bemächtigte sich meiner.
Es war ein Teufelskreis. Hätte ich meine Bücher problemlos mit eigenen Mitteln vorfinanzieren können, wäre ich in der Lage gewesen, über die Tantiemen meine Verbindlichkeiten bei Attila auszugleichen, so dass hier gar nicht erst ein Stein des Anstoßes entstünde. Tatsächlich jedoch würde ich erst einmal die Raten für den Verlagszuschuss mühsam zusammensparen müssen, in dieser Zeit konnte ich schon Attila kein Darlehen zurückzahlen. Bis ich dann durch den Verkauf der Bücher hierzu in der Lage wäre, könnte Attila längst in der Bredouille sitzen.
Ganz zu schweigen davon, dass Attila mir das benötigte Geld für die Bücher in dieser Situation auch nicht auslegen konnte, selbst dann nicht, wenn ich es ihm mit Zinsen zurückbezahlt hätte. Der Richter hätte hierfür keinerlei Verständnis aufgebracht, denn Kindesunterhalt ging immer vor. Auch Ehegattenunterhalt, falls ein solcher festgelegt würde. Dann erst kommt in der Rangfolge der Mann selbst oder gar dessen Lebensgefährtin – wenn überhaupt.
Das Paradoxon an der Sache war, dass Attila aktuell über 10.000 Euro auf meinem Konto hinterlegt hatte, um es in Sicherheit vor Uschi oder dem Gerichtsvollzieher zu bringen. Das waren jene Steuerrücklagen, die nicht angetastet werden durften. Das Geld gehörte praktisch von vornherein dem deutschen Finanzamt. Auf seinem Konto konnte er es nicht lagern. Was, wenn Uschi wieder eine Pfändung einleiten würde, wie schon einmal in Deutschland? Bis man dann erklärt hätte, dass dieses Geld nicht für Unterhaltszahlungen zur Verfügung stand, es nach einer ausgiebigen Prüfung zurückerhalten könnte, hätte man längst die Finanzbehörden am Hals.
Wenigstens verminderten solche Aktionen mein Schuldgefühl, welches ich nach wie vor wegen der Tatsache nährte, dass ich für den Support ein Gehalt bezog, diesen aber nicht selbst ausführen durfte. So ging ich eben fürs eigene Gewissen davon aus, dass ich für mein Strohfrauendasein und das Geldbunkern einen finanziellen Ausgleich erhielt, sowie für die aufwändigen Formulierung der Erwiderungen an Anwalt und Gericht.
Traurig genug, und auch nicht unbedingt mein Berufswunsch. Hätte ich doch bloß von Anfang an minutiös alle Zeiten dokumentiert, während der Attila sich gegen Angriffe von Uschi wehren musste; umgerechnet auf seinen Stundenlohn, der ihm jeweils durch die Lappen ging, wäre mit der Zeit ein immenser Betrag hierbei herausgekommen. Zusammen mit den dadurch zusätzlich entstandenen Anwaltskosten, Portound Telefongebühren wäre das locker der Kindesunterhalt für viele Monate gewesen und man hätte Uschi im Verfahren nachweisen können, dass quasi sie selbst die Zahlungen verhindert hatte. Was für ein Sumpf!
Man konnte Richtern und den sonstigen Verfahrensbeteiligten schon gar nicht mehr ankreiden, dass sie den Gesamtzusammenhang nicht vollständig überblicken konnten. Es gelang einem ja selber kaum noch.
Für mich bedeuteten diese neuesten Entwicklungen, dass ich mir wohl hier einen externen Job suchen musste, schon um meine Bücher zu finanzieren. Egal was! Ich konnte es nicht akzeptieren, nur in Wartestellung zu verharren, ob sich irgendetwas von selbst ergeben würde. So weit war es schon gekommen.
Attila konnte finanziell nicht mehr vorwärts oder rückwärts und ich war somit im Grunde auf mich selbst gestellt. Er bestätigte das schweren Herzens. So hoffte ich, in absehbarer Zeit bei der Jobsuche erfolgreich zu sein; was natürlich durch die Tatsache erheblich erschwert wurde, dass ich noch nicht perfekt Spanisch sprach.
Einen Vorteil konnte ich ja zumindest verbuchen: ich war bereits durch mein Gewerbe sozialversichert, ein Arbeitgeber würde somit für mich nichts zusätzlich abführen müssen. Das machte mich als Arbeitnehmer gewissermaßen kostengünstig.
Sofort nachdem mir diese Erkenntnis ins Bewusstsein gedrungen war, startete ich das Projekt »Jobsuche«. Beim örtlichen Anzeigenblättchen »Sal News« suchten sie Außendienst-Mitarbeiter. Vermutlich, um neue Anzeigennehmer zu akquirieren. Daher schrieb ich den Herrschaften eine E-Mail und bot meine Dienste an, auch wenn Vertretertätigkeiten mir eigentlich gar nicht lagen. Ich durfte nicht wählerisch sein. Welche Alternativen hatte ich auch? Putzfrau für Ferienhäuser?
Der Verleger des Werbe-Blättchens bat mich für Montag zum Gespräch, demnach war ich nicht völlig chancenlos. Da war ich ja mal gespannt, ob ich trotz der sehr hohen Arbeitslosenzahlen in Spanien einen Job an Land ziehen würde.
Abgesehen davon ging das Drama um Attilas Kinder unvermindert weiter. Am Freitag fanden wir eine E-Mail des Anwalts, welchem ein Antrag der gegnerischen Anwältin angehängt war. Der Richter sollte per Eilantrag darüber entscheiden, ob Attila jetzt das Vetorecht für eine Fremdunterbringung Solveigs entzogen werden könne, denn er habe die Zustimmung hierzu bereits verweigert.
Die Begründung des Antrages las sich haarsträubend. Solveig geriet offensichtlich mittlerweile komplett außer Kontrolle, sie hatte mehrfach ihre Mutter geschlagen, ritzte sich die Arme blutig (»Borderline« lässt grüßen) und musste bereits mittels Polizei via Gesundheitsamt ins Bezirkskrankenhaus eingeliefert werden, da sie auch noch in einem Wutanfall die Wohnzimmereinrichtung demoliert hatte. Man war, oh Wunder, zum Ergebnis gekommen, dass Uschi auch unter Inanspruchnahme externer Hilfen absolut nicht mehr mit ihr zu Rande kam, eine Fremdunterbringung damit unerlässlich sei.
Attila sah ein, dass er dieser »Fremdunterbringung« nur noch zustimmen konnte. Er wollte lediglich sichergehen, dass diese nicht bei einer Pflegefamilie, sondern in einer geeigneten Einrichtung mit psychologischer Betreuung stattfinden sollte. Und dass bereits jetzt festgelegt wurde, dass Solveig nach einer Besserung ihrer Symptome nicht mehr zu Uschi zurückkäme, denn sonst würde alles von vorne losgehen. Außerdem wollte er zur Bedingung machen, dass er jeweils sofort informiert werden würde, wo sich seine Tochter wann aufhielt und wie ihr Zustand sei. Nicht, dass er wieder um jede Information erbittert kämpfen müsste.
Natürlich machte er sich massive Sorgen um Ronja, die bereits ähnliche Symptome zeigte, und welche Uschi weiterhin ausgeliefert war. In zwei Jahren hätte man, wenn das so weiterging, vermutlich »Solveig II«.
Ich war mir daher nun sicher, dass Attila bei der anstehenden Verhandlung versuchen würde, die restlichen Kinder dort herauszuholen. Genauso sicher war ich mir allerdings, dass auch er mit der Erziehung oder dem Umgang mit diesen Kindern hoffnungslos überfordert wäre; denn die »Borderline«-Symptome bei Ronja waren schon weit früher als bei Solveig unübersehbar gewesen. Jedenfalls für denjenigen, der hinsehen wollte.
Ich wäre indes ebenso wenig geeignet gewesen, die Kinder wieder auf die Reihe zu bekommen. Dafür wog die eigene Last zu schwer, welche sich auf meinen Schultern befand. Und in erster Linie musste ich auf meine eigenen Kinder sehen, wenigstens auf die Sicherstellung des Unterhalts. Dann erst auf mich oder Attilas Belange. Und erst dann – nein, dann wären meine Kapazitäten bei weitem schon aufgebraucht.
Attila ging es wieder einmal gar nicht gut. Man sah ihm an, dass er einerseits am liebsten Uschi den Kragen umgedreht hätte, andererseits plagten ihn vermutlich Schuldgefühle, dass er diese Misere mitverursacht hatte. Und wenn es nur deswegen war, dass er mit dieser Frau Kinder in die Welt gesetzt hatte, obwohl sie damals schon ein nicht gerade vorbildliches Verhalten an den Tag legte. Sie hatte die Kinder geboren, um nicht mehr arbeiten gehen zu müssen, sich dann aber kaum darum gekümmert, lieber Drogenund Alkoholkonsum betrieben.
Wenigstens hatte Attila zu jener Zeit noch seinerseits ein wenig auf die Kinder achten können, auch wenn ihm das volle Ausmaß von Uschis Verantwortungslosigkeit damals offenbar gar nicht bewusst gewesen war. Doch seit seinem Weggang war ihm das überhaupt nicht mehr möglich. Im Gegenteil, man hatte ihn wegen Uschis Interventionen Stück für Stück entrechtet. Seit er ausgezogen war, ging es mit diesen Kindern tatsächlich mit Riesenschritten bergab.
Wenigstens hatte ich ein kleines, aber feines positives Erlebnis. Ann kommunizierte wieder mit mir, wollte sich sogar während meines Deutschland-Besuches mit mir treffen. Da durfte ich ja gespannt sein! Es gab mir Auftrieb unter meinen Flügeln.
Am Samstagvormittag versuchten wir mithilfe eines sehr langen Spazierganges, unsere Psychen wieder etwas auf die Reihe zu bekommen. Wir wanderten von der Residencial Ambra aus bis hinunter an die Playa Flamenca, durch traumhafte Wohnviertel, vorbei an Bars und Restaurants. Unten angekommen, genossen wir einen Kaffee in der Sonne, bei immerhin schon 19 Grad. Auf dem Rückweg nahmen wir noch den riesengroßen Markt in Orihuela Costa mit, der die Massen jeden Samstag von weit und fern anlockte. Sehr günstig gab es dort zwar Lederkleidung und Schuhe zu kaufen, doch wir guckten nur und hielten uns vornehm zurück.
Wieder zu Hause angekommen, schloss Attila die letzten Kabel in unserem neuen Büro an, verlegte sie ordentlich. Dann hoffte er auf seine E-Mail-Stunde mit Ronja, doch erneut kam keine Antwort auf seine Mail. Man brauchte eigentlich überhaupt nicht darüber nachzudenken, was der Grund für dieses Verhalten sein mochte. Da war zu vieles denkbar. Ronja konnte wieder etwas anderes zu tun haben, Solveig konnte den Rechner blockieren oder Mama hatte interveniert. Vielleicht würde sie sich ja wieder später melden, so wie in der Woche zuvor. Ein Trauerspiel.
Es bewahrheitete sich Theorie 1, Ronja hatte Besseres zu tun gehabt. Die erklärende Mail kam am Sonntagvormittag, gerade, als wir nach La Mata fahren wollten, um letzte Arbeiten im »alten« Haus durchzuführen. »Sorry«, lautete der Kommentar. Attila fragte vorsichtig an, was sie gestern denn stattdessen Schönes gemacht habe. Antwort: Mit Marco und Solveig in der Stadt gewesen. Natürlich nahm es Attila wieder kommentarlos hin, ohne ihr deutlich zu signalisieren, dass sie nicht dauernd einseitig die getroffene Abmachung ändern könne. So lange sie Lust verspürte, schrieb er mit ihr an diesem Tag Belanglosigkeiten hin und her, ohne Rücksicht auf eigene Pläne. Nein, Erziehungsversuche kamen nach wie vor auch von seiner Seite nicht infrage.
Mir schwebten einmal mehr Fragezeichen über dem Kopf, Uschi betreffend. Wie konnte man eine 10-jährige Tochter und einen 8-jährigen Sohn alleine mit der ältesten Tochter in die Stadt gehen lassen, die dort bereits mindestens einen Ladendiebstahl begangen hatte? Die kürzlich erst nach Gewalttätigkeiten, der eigenen Mutter gegenüber, mit Polizeigewalt in die Psychiatrie gebracht werden hatte müssen, nachdem Polizei und Gesundheitsamt übereinstimmend feststellten, dass man sie keinesfalls nach Hause entlassen durfte und von einer psychotischen Gemeingefährlichkeit ausgingen?
Eine von Ronjas Mails enthielt darüber hinaus die Mitteilung, dass sie und ihr Bruder Marco lieber nicht in den Osterferien nach Spanien kommen wollten. Sie hätten sonst bestimmt Heimweh.
Mir war vollkommen egal, ob Uschi den beiden wieder Angst eingeredet hatte; etwa, weil der böse Papa sie sonst dortbehalten und nicht mehr nach Deutschland lassen würde. Eine Woche Spanien wäre ohnehin nicht gut gegangen, ganz abgesehen davon, dass Attila bei Gericht schon die ganze Zeit über argumentierte, er könne sich Privatflüge nach Deutschland nicht mehr leisten.
Man hätte schwerlich begründen können, warum sogar Kinder geholt und gebracht werden können, die Finanzkrise in diesem Fall plötzlich nicht existent wäre. Mit dem Auto zu fahren, wäre ebenso teuer gekommen; denn mit den Kindern im Auto wäre bei dieser langen Fahrtstrecke eine Übernachtung nicht zu vermeiden gewesen, und zwar sowohl bei der Hinals auch bei der Rückfahrt.
Am Montag fuhr ich hinüber zur Redaktion des Anzeigenblättchens, um wegen dem Außendienstjob nachzufragen. Die österreichischen Herren dort waren total unkompliziert und nach einer Viertelstunde war ich mit einem Stapel Verträgen und einem weiteren Stapel der Anzeigenbroschüren wieder draußen, durfte bei der Sal News anfangen. 15 % Provision würde ich für jeden Anzeigenvertrag erhalten, den ich abschloss. Da war ich ja mal gespannt. Gleich am nächsten Tag wollte ich die Einkaufscenter unsicher machen und Anzeigennehmer rekrutieren.
Sicher, Reichtümer konnte man da garantiert nicht erwirtschaften. Aber bei uns zählte mittlerweile jeder Cent. So hatte ich jetzt drei Berufe: den Support, den ich aber nicht selber ausübte, nach wie vor übernahm ich nur kleine Gelegenheitstätigkeiten für Attila, wie die Übersetzung von Texten. Dann war ich noch Autorin – und schließlich Anzeigenvertreterin. Hurra! Aber das war für mich der Beweis: wenn man wirklich arbeiten möchte, dann bekommt man auch irgendetwas. Man darf nur nicht zu wählerisch sein. Nicht wahr, Uschi?
Als ich aus Torrevieja zurückkam, hätte eigentlich Attilas Mailstunde mit Marco stattfinden müssen. Aber mein Schatz wartete wiederum vergeblich. Ich war schon gespannt, welche Ausrede Marco zum Besten geben würde, warum er nicht mailen konnte oder wollte. Erst recht war ich darauf gespannt, ob Attila den Braten jetzt langsam riechen würde: er war den Kindern offenkundig nicht halb so wichtig wie umgekehrt sie ihm.
Freilich … als er noch mit ihnen zusammengewohnt hatte, war der Kontakt zu Papa auch eher selten gewesen, er weilte ja meist im Büro oder arbeitete zu Hause, konnte selten Zeit erübrigen. So vermissten sie ihn eben wahrscheinlich auch nicht allzu sehr, seit er gegangen war. Außer natürlich, man versprach sich gerade von einem Kontakt unmittelbare Vorteile. Es war für Attila mit Sicherheit niederschmetternd, dies realisieren zu müssen.
Es gab natürlich Zeiten, in denen auch ich nicht gerade größtes Interesse zeigte, mit meinen Eltern abzuhängen. Aber ich konnte mir total sicher sein, dass ich Kontakt zu ihnen haben konnte oder sogar musste, sobald ich nach Hause kam. Ich war ja schließlich kein Scheidungskind.
1974 – Mucki-Alarm
Ich habe mich jetzt, nach zwei Jahren, einigermaßen in meinem neuen Wohnviertel eingelebt, hier neue Freunde gefunden. Allerdings verhalte ich mich wie eine Katze und schätze menschliche Kontakte meist nur, wenn die Initiative zur Anfreundung von mir selbst ausgeht. So kann ich die bekloppte Sabrina, die bei uns im Mietshaus wohnt, nach wie vor nur sehr bedingt akzeptieren. Wir beide haben so eine Art gegenseitigen Duldungszustand erreicht, denn man läuft sich leider sowieso dauernd über den Weg.
Nachmittags nach den lästigen Hausaufgaben treffen sich meist die Kinder der Nachbarschaft draußen, wo dann beraten wird, was man so anstellen könnte. Alle besitzen Rollschuhe, was uns natürlich auf üble Ideen bringt. Man fährt dann schon einmal rasant um die Wette einen steilen Berg hinunter, wonach die Fahrt anschließend mit einem unsanften Flug in eine stachelige Hecke endet. Oder aber, wie bei mir vor einigen Wochen, an einer hohen Bordsteinkante. AUA!
Doch all das kann uns nicht aufhalten. Heute werden wir wieder mal »Klingelputzen« gehen, aber in der verschärften Version. Eine Zeit lang haben wir uns damit begnügt, einfach auf sämtliche Klingelknöpfe der umliegenden Mietskasernen zu drücken, uns dann im Gebüsch zu verstecken und vergnügt auf die Reaktionen der Hausbewohner zu warten, die sich dann oft gegenseitig beschuldigten, ausgerechnet in der geheiligten Mittagszeit geklingelt zu haben.
Wie herrlich, wenn sich wegen unseres Streichs zwei Weiber in Schürzenkleidern giftig anfrotzeln! Oder der bösartige Opa aus dem dritten Stockwerk wüste Verwünschungen aus dem Fenster brüllt. Pah, bis der das Treppenhaus herunterhumpelt, sind wir längst über alle Berge. Er weiß das und wir wissen das auch.
Die neue Version dieses Vergnügens aber gefällt uns glatt noch besser. Allerdings muss man dazu ein Stadtviertel weiter sein Unwesen treiben, wo einen niemand kennt. Und vor allem nicht die dazugehörigen Eltern, wir haben ja keine Lust auf Hausarrest. Daher rollen wir nun hinüber in die »Neue Heimat«, wie das angrenzende Viertel heißt. Dort befinden sich ausnahmslos mehrstöckige Mietshäuser mit gaaanz vielen Klingelknöpfen. Wir haben jeder eine Packung Streichhölzchen dabei, die wir sorgsam an einem Ende spitz zu geschliffen haben. Die »dicke Ricke«, wie wir Ulrike gerne nennen, hat wieder mal Schiss. »Aber wenn wir jetzt echt Ärger kriegen ...?!« Wir anderen tun so, als wäre Angst für uns ein Fremdwort, nur etwas für Weicheier. »Dann geh doch heim zu Mami, wenn du dich nicht traust!«. Nein, das wird Ulrike nicht tun. Man hat doch Ehre im Leib.
Das Rollkommando nimmt jeweils mehrere Hölzchen aus der Schachtel, hält sie bereit. »Fertig?«
»Yo, fertig!« Wir fahren wie eine rasende Horde auf den Eingang eines Mietshauses zu, stecken in Windeseile so viele Streichhölzer wie möglich in den Spalt neben so vielen Klingelknöpfen wie möglich, um sie in hineingedrücktem Zustand zu arretieren. Ein infernalisches Klingelkonzert im Haus ist bis hier unten zu hören, wir registrieren es mit diebischer Freude. Im Gegensatz zu früher verstecken wir uns aber nicht im Gebüsch, sondern verarschen auch noch lautstark die Hausbewohner. Bis die ersten wutentbrannt die Treppe heruntergestürmt kommen, um uns frischzumachen. Wir haben da einen Wettbewerb laufen: wer als letztes abhaut, ist der mutigste, der neue King der Kinderbande.
Atemlos und vollgepumpt mit Adrenalin sitzen wir an unserem Lieblingsplätzchen, am Wehr des Roten Mains, der gemächlich durch unsere Heimatstadt fließt. Wir beglückwünschen uns gegenseitig zu unserem Mut, zu unserer Großtat. Wie könnte man das noch optimieren, noch mehr Spaß kriegen? Unsere Phantasie kennt keine Grenzen. Am Abend suchen dann verzweifelt mehrere Elternpaare nach den Streichhölzern, die sie doch, »glaub ich wenigstens«, beim letzten Einkauf mitgenommen haben. Hihi ... Klingelputzen ist beileibe nicht die einzige Aktion, die uns so einfällt. Da werden nichtsahnende Bauern, die das Maisfeld abernten, von einem Baum aus mit Wasserbomben beworfen, an Schnürchen befestigte, alte Geldbeutel auf den Gehweg gelegt, um sie in letzter Sekunde wegzuziehen, wenn jemand sie aufheben will ... das habe ich von Donald Duck gelernt, das Lesen der »Lustigen Taschenbücher« bildet eben. Wir pflücken Schlüsselblumen-Sträußchen, die wir hinterher an der Haustür an gerührte Omas verkaufen, um unser Taschengeld aufzubessern; mit einem unschuldigen Augenaufschlag, versteht sich.
Eines Tages beschließen wir, eine Aufnahmezeremonie ins Leben zu rufen. Denn es darf nicht jeder bei uns Bandenmitglied werden, wir müssen die »Laschis« ausfiltern. Wer weiß, womöglich würden die ja sonst petzend und heulend heim zu Muttern laufen, wenn es etwas ruppiger zugeht.
Auch da fehlt es uns nicht an Ideen. Zum Schluss wird einhellig beschlossen, dass jedes neue Mitglied sich einer schmerzhaften Prozedur unterziehen muss, wenn es mit uns um die Häuser ziehen will. Schon, um zu verhindern, dass eines Tages mein kleiner Bruder auf die Idee kommt, sich an unsere Fersen zu heften.
Die anderen nicken andächtig, als ich ihnen diesen Zusammenhang eindrucksvoll schildere. Auch sie haben teilweise jüngere Geschwister. Der oder die »Neue« hat künftig also folgendes zu ertragen, und das, ohne zu jammern:
Erst ziehen alle feierlich zum Roten Main hinunter, wo eine Baumreihe das Flussufer säumt. Dann darf sich das arme Opfer der Kleidung entledigen, die sodann von einem anderen Bandenmitglied oben in die Krone eines Baums gehängt wird. Nackig muss der Proband da raufklettern, wobei dies wegen der rauen Baumrinde meist nicht lustig ist. Besonders, weil er auch barfüßig durch Brennnesseln muss, die rund um den Baum den Bodenbewuchs bilden. Sofern er das geschafft hat, angezogen wieder auf dem Boden steht und die roten Bläschen und Schrammen auf seinen Unterschenkeln und Füßen entsetzt betrachtet, leiten wir Teil zwei ein.
Dafür holen wir spitze Steine vom Flussufer, die dann hinten in Pullover oder T-Shirt gesteckt werden, zusammen mit einer Handvoll Brennnesseln. Der Novize wird gefesselt wie ein Rollbraten, dann einen Abhang hinuntergerollt, wobei sich die Steine schön in die Haut bohren und die Brennnesseln den Rest erledigen. Wenn er dann nicht laut heulend das Weite sucht, dann ist er drin, ist aufgenommen und darf beim nächsten Interessenten denjenigen machen, der die Fesselung vornimmt. Mann, sind wir stolz auf unsere Ideen.
Es gibt aber auch Tage, da sind wir leider etwas gehandicapt, können nichts anstellen. Müssen uns auf dem öden Spielplatz herumtreiben, Gummioder Kästchenhüpfen spielen, genau wie langweilige Kinder. An solchen Tagen bekommen wir Ilona aufs Auge gedrückt, damit wir mit ihr spielen. Ilonas Mutter kennt all unsere Mütter, somit haben wir keine Chance, wenn sie mit ihrer Tochter anrückt, sie uns übergibt.
Wir wissen es ja: Ilona ist geistig behindert, mongoloid. Einerseits tut sie uns leid, ist uns klar, dass sie sonst gar keine Möglichkeit hat, mit Kindern zu spielen. Sie ist ja auch ganz lieb, so rührend unschuldig irgendwie. Andererseits zeigt sie oft unheimliche Reaktionen, tut Dinge, die total eklig sind. So fand sie zum Beispiel einmal im Vorgarten einen toten Vogel, den sie aufhob, in den Mund steckte und ablutschte. Uns anderen war speiübel, wir informierten ihre Mutter und wollten an diesem Tag nichts mehr mit ihr zu tun haben.