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Dann gibt es noch eine dritte Frau in der Truppe. Meine Freundin Gisa, die etwas schüchtern ist und auch nur über ein rudimentäres Selbstbewusstsein verfügt, das ich ihr ständig ein wenig aufpolieren helfe. Es wird langsam, manchmal spreche sie sogar in der Runde an. Aber man merkt ihr nach wie vor an, dass sie sich ein wenig minderwertig fühlt. Ein Opfer ihrer Erziehung. Gisa ist hübsch, weiß es aber nicht. Dafür bemerkten es andere, zum Beispiel der dicke Stephan. Eines Tages waren wir bei Stephan zu Hause in dessen Zimmer und dealten mal wieder mit LPSchwarzpressungen von Led Zeppelin. Ich hatte soeben ein seltenes Exemplar erworben und war darüber hocherfreut, auch wenn mich das Teil wieder einen beträchtlichen Teil meines BeamtenanwärterGehalts gekostet hatte. Als ich meine Augen vom kopierten Cover der LP nahm, dachte ich, rückwärts vom Stuhl fallen zu müssen. Vor meinen Augen spielte sich eine Szene ab, mit der ich nicht einmal in einem Alptraum gerechnet hätte. Und Gisa vermutlich auch nicht. Es war eigentlich immer so gewesen, dass wir alle eine KumpelBeziehung untereinander hatten. Romanzen gab es nicht. Wir hatten Spaß in der Kneipe, auf Ausflügen oder vor allem bei Rockkonzerten. Es spielten fast alle auch selber Instrumente, ich hierbei genau wie Sandi einen Elektrobass. Aber nun war plötzlich alles anders. Was erblickten also meine entsetzten Augen?
Der fette Stephan griff mit seinen unsäglichen Wurstfingern nach Gisa, packte sie unsanft und zog sie auf seinen Schoß. Die ließ es willenlos geschehen, traute sich nicht, etwas entgegenzusetzen. Hierdurch ermuntert fing Stephan unverzüglich damit an, die arme Gisa überall zu befingern. Doch Gisa tat immer noch nichts, guckte nur einerseits verängstigt, andererseits sagte ihr Blick: »Hurra, ich hab doch einen abgekriegt!«.
Was Stephan anging, so bezweifelte ich, dass er zu romantischen Gefühlen überhaupt fähig war. Vermutlich hatte er einfach beschlossen, dass er nun endlich mal ein Weib haben wolle, und Gisa war eindeutig das wehrloseste Opfer. Damit hatte er allerdings Recht, denn bei mir hätte er deftige Prügel kassiert, das Kuli-Muli hätte ihn auch abgewiesen. Auf den Schoß setzen, ja. Alles andere, nein.
Die anderen Freunde, die mit mir in Stephans Zimmer saßen, guckten ebenso überrascht und entsetzt wie ich, ihnen hatte es schlicht und einfach die Sprache verschlagen. Als wir dann von Stephan recht unhöflich aufgefordert wurden, uns jetzt langsam einmal zu verdrücken, wussten wir Bescheid. Der wollte die Gisa wohl noch ganz woanders befummeln, und da konnte er uns nicht brauchen. Wir gingen, und ich warf Gisa noch einen bedeutungsvollen Blick zu. So nach dem Motto, komm, hau mit ab, wenn Du das hier nicht willst.
Doch Gisa blieb tapfer lächelnd auf Stephan sitzen, auch wenn das Lächeln mehr einen gequälten Charakter annahm. Ich durfte gar nicht daran denken, dass Stephan jetzt seine 160 Kilo wohl auf Gisa wälzen würde. Die anderen äußerten sich ähnlich. Von diesem Tag an war Gisa auch eine Art Kuli-Muli, sie hieß nun
»das Gisalein«. DAS. Gut, sie war so alt wie ich. Wenn sie sich nicht wehrte, konnte man ihr nicht helfen. Prompt fing Stephan auch an, sie nach seinen Wünschen zurechtzubiegen. Die riesige Brille wurde durch Kontaktlinsen ersetzt, und Gisa durfte ihre Lieblingsgruppe ABBA nicht mehr hören. Sie wurde gewissermaßen zwangsmetallisiert, denn seine Freundin hatte gefälligst Heavy Metal zu hören.
So kam es, dass wir nun mit Stephans orangefarbenen Citroën zu einem Konzert nach Erlangen fahren. Er kennt den Konzertveranstalter, somit dürfen wir wieder zum Bühneneingang hinein. Das ist auch gut so, denn am Haupteingang der Erlangener Stadthalle hatten wir zuvor schon mal ein negatives Erlebnis, als die Glastüren des Einganges der herandrängenden Masse nicht standhielten, zerbrachen und ein Blutbad anrichteten. Wir hatten zum Glück einen Meter weiter hinten gestanden, fielen somit auf die bedauernswerten Leute, die vor uns ihrerseits auf den Glassplittern landeten. So etwas drohte bestimmt heute erneut. Im Citroën sitzen vorne Stephan und Gisa, hinten ich, M.W. und Sigi. Wir freuen uns auf die Show, denn jemand hatte erzählt, der Sänger würde regelmäßig den nackten Hintern in die Menge halten. Das verspricht neben der guten Musik witzig zu werden. Der Wintertag ist klirrend kalt, doch da wir ja dank Bühneneingang nicht lange draußen sein werden, haben wir alle nur eine dünne Jeansjacke angezogen. Kommt auch nicht gut, wenn man zu einem Rockkonzert mit dicker, wattierter Winterjacke anrollt. Wir genießen das Konzert, und tatsächlich bekamen wir den behaarten Hintern von Djangozu sehen. Wie immer ist es viel zu schnell vorbei, verschwitzt bahnen wir uns den Weg zum Ausgang. Wir beschließen, auf der Heimfahrt noch an einer Autobahnraststätte Station zu machen, um das Erlebnis Revue passieren zu lassen.
Doch es kommt ganz anders. Hände reibend sitzen wir zur Abfahrt bereit im Auto, denn selbst der kurze Fußweg zum Fahrzeug, das am Straßenrand in der Nähe der Halle geparkt ist, lässt uns bei minus 21 Grad vor Kälte zittern. Stephan prahlt mal wieder damit, dass sein Fahrzeug mit einer Hydraulik ausgestattet ist, wodurch Schneehäufchen kein Problem bei Ausparken sein werden. Er dreht den Zündschlüssel, und es passiert – nichts. Der Anlasser orgelt vor sich hin, doch das Fahrzeug denkt gar nicht daran, anzuspringen. So lange nicht, bis die Batterie nahezu leer ist. Anfangs witzeln wir noch über das tolle Auto, das zwar eine Hydraulik hat, aber scheinbar keinen Motor. Doch das vergeht uns schnell.
Stephan wird sichtlich sauer. Er haut seinem ansonsten geliebten Auto auf das Armaturenbrett und ergeht sich in übelsten Flüchen, die Gisa auf der Stelle rot werden lassen. Sie handeln davon, dass das Auto wohl bei einer amourösen Beziehung seiner Mutter mit einem Hund entstanden sein müsse. Aber auch das veranlasst das Fahrzeug nicht dazu, sich in Gang zu setzen.
Schließlich müssen wir es einsehen: mit diesem Auto werden wir jetzt, nachts um 1 Uhr, wohl nicht nach Hause fahren. Es ist Brainstorming angesagt. Keiner hat mehr nennenswerte Geldbeträge einstecken, keiner kann eine Abholung organisieren. Zimmer mieten ist nicht. Im Auto schlafen auch nicht, erstens vollgestopft und zweitens saukalt. Ich kann nicht daheim anrufen, weil ein Herzkasper meiner Mutter unter Garantie die Folge wäre. Was also tun? Die dickeren Jungs stecken die Kälte eindeutig leichter weg, und so ziehen sie erst einmal einen vorbereiteten Joint, der eigentlich für die Konzertbesprechung bestimmt war, aus dem Handschuhfach. Gisa und ich genießen es ausnahmsweise, zwischen Stephan und Sigi eingekeilt zu sein. Die sind wenigstens eine gute Kältedämmung. Mitrauchen wollen wir aber nicht, die Stimmung ist uns verhagelt. Ganz besonders mir, denn morgen um 10 Uhr ist meine theoretische Führerscheinprüfung angesagt. Die Vorzeichen für das Bestehen derselben verschlechtern sich nun stündlich, ich bin, gelinde gesagt, recht fertig mit der Welt. Sigi hat der Joint derart selig und wurstig gemacht, dass er beschließt, im Auto zu pennen. Was wir machen, sei ihm Banane. Wir anderen hingegen verlassen fluchend das Gefährt, um eine Polizeistation zu suchen. Wir wollen erstens eine Auskunft bekommen, wo wir kostenlos schlafen könnten, und zweitens die Adresse der ortsansässigen Citroën-Werkstatt. Die gedenken wir am nächsten Morgen aufzusuchen und hoffen, dass die dort die Reparaturen auch ohne Bargeld vornehmen werden, nur nach einem Blick in unsere treuherzigen Augen und der Beteuerung,
dass wir die Rechnung schon bezahlen werden.
Wir haben relatives Glück. Da ist tatsächlich eine Polizeistation, und wir stören die Belegschaft beim abendlichen Smalltalk. Ein Beamter kommt widerwillig an den Tresen und fragt nach einem abschätzenden Blick auf unsere Outfits und die Körperfülle von Stephan, was denn unser Begehr sei. Um diese Zeit. Wir schildern aufgeregt unser Problem, nur um hören zu müssen, dass die Polizei uns da auch nicht helfen könne. Wir sind schon so verzweifelt, dass ich den Polizisten frage, ob wir nicht wenigstens in einer Ausnüchterungszelle übernachten dürfen. Uns sei schon alles egal, nur nicht erfrieren wollen wir. Zu meinem Entsetzen lässt er sich nun darüber aus, dass das etwas koste. 20 D-Mark pro Zelle. Und die haben wir nicht. Meine Güte, warum muss alles so kompliziert sein. Der Bankräuber darf umsonst rein, wir nicht. Armes Deutschland.
Wir diskutieren, ob wir jetzt da vorne bei der Bankfiliale einen Überfall machen sollen, um kostenlos in die Zelle zu dürfen. Da erbarmt sich Unser ein anderer Polizist, der soeben durch Schichtwechsel seinen Dienst antritt und etwas freundlicher ist. Ja, gegen die Preise könne er auch nichts machen. Aber er könne wenigstens anbieten, dass wir im Wartebereich auf den Stühlen auf den Morgen warten dürfen. Da sei es nicht so kalt wie draußen. Die Freude hierüber währt nur kurz, denn die Stühle sind aus Holz und somit Garanten für Bandscheibenschäden. Jede andere Stellung des Rückens als die kerzengerade ist unweigerlich mit Schmerz verbunden. Zudem befindet sich direkt neben dem Wartebereich die Eingangstür, und die geht ständig auf und zu. Jedes Mal erreicht uns ein eiskalter Luftschwall, was sehr unangenehm ist. Nun gut, Sigi hat es im Auto auch nicht besser, da bin ich sicher. Er bestätigt es am nächsten Morgen, liegt mit steifen Gliedern auf der Rückbank. Alle sind wir uns einig, dass dies eindeutig die beschissenste, kälteste und auch längste Nacht unseres Lebens war. Und der lustige Problemreigen ist damit noch nicht beendet, wir sind noch nicht bei der Werkstatt, die hat sich auch noch nicht bereit erklärt, irgendwas mit dem Auto zu tun, und ich bin noch nicht rechtzeitig bei meiner Führerscheinprüfung. Ganz zu schweigen von der zu erwartenden Reaktion meiner Mutter, welche mich wohl ohnehin vierteilen würde. Gut, dann wäre zumindest die Führerscheinprüfung vom Tisch.
Zunächst aber wartet was extrem Unangenehmes. Wir müssen die doofe Karre nach einem neuerlichen Startversuch, der dem Motor nur ein klägliches Ächzen abnötigt, Richtung Werkstatt schieben. Im Berufsverkehr, ohne Handschuhe bei nun immerhin noch minus 19 Grad. Ohne dass die Hände am Blech festfrieren, weswegen wir nun auch noch die dünnen Jeans-Jäckchen ausziehen müssen, um sie um die Hände zu wickeln. Das hat schon etwas von Überlebenstraining.
Moses wird wohl beim Anblick des Heiligen Landes ähnliche Freudenrufe von sich gegeben haben, wie wir beim Anblick einer gammeligen Citroën-Werkstatt, die zum Glück gerade öffnete, als wir völlig erledigt und blau gefroren dort ankommen. Wir sehen wohl so übernächtigt und heruntergekommen aus, dass wir auch einen Stein würden erweichen können. Das Personal jedenfalls hat Riesenmitleid, kredenzt kostenlosen Kaffee und lotst uns in den gut geheizten Verkaufsraum, damit wir auf die Diagnose des Kfz-Meisters warten können. Dieser macht sich sofort an die Fehlersuche.
Nach Stunden taucht er auf, und wir sind beunruhigt, weil er mit einem breiten Grinsen den Verkaufsraum betritt. Muss die Mühle verschrottet werden, wird es ein Vermögen kosten, oder was? Nichts von alledem. Meister Fischer muss mühsam einen Lachanfall unterdrücken, als er uns die Ursache für das Streiken des Fahrzeuges erklärt. Und selbst wir können es nicht fassen und lachen uns halb tot, teils aus Verzweiflung, teils aus Erleichterung. Nein, kosten wird das Ganze uns gar nichts. Stephan hat wohl gestern Abend beim Einparken mit dem Auspuffrohr in einen Schneehaufen gestochert. Der Schnee sei in diesem geschmolzen, weil der Auspuff noch warm war. Wegen der extremen Minustemperaturen sei er anschließend aber sofort zu einem harten Eis-Pfropfen gefroren – und schon konnte das Auto nicht mehr anspringen. Er lacht immer noch, als er mit seinem Feuerzeug demonstriert, wie er das Problem sodann gelöst hatte. Und wie wir es selber binnen Sekunden hätten lösen können, falls wir auf diese Ursache gekommen wären.
Wir fahren im stark beheizten Fahrzeug auf dem kürzesten Wege nach Hause. Alle anderen werden nun zu Hause in ihr Bett gehen und versuchen, die Nacht einfach aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Doch mir steht noch die unheimliche Begegnung der dritten Art mit meiner Mutter bevor ... diese ist erwartungsgemäß nicht sehr erbaut, packt mich an den langen Haaren und schleudert mich erst einmal gegen den Türstock, bevor sie ihren Redeschwall loswird. Keine Ahnung, über welches Thema, denn ich bin mit dem Hirn schon bei der Führerscheinprüfung, welche in einer Viertelstunde stattfinden wird. Kaum hat Mama von mir abgelassen, stürze ich einen viel zu heißen Kaffee hinunter, gefolgt von einem Cognac. Noch bevor Mama auch hierüber mosern kann, bin ich schon weg. Und ich bin stolz darauf berichten zu können, dass ich die Führerscheinprüfung wenig später mit null Fehlern bestehe. Da sage noch einer, der Mensch hält nichts aus.
* * *
Was habe ich durchgeatmet, als ich 1984 endlich meine erste eigene Wohnung bezog. Ich durfte denken und meinen Tag gestalten, wie ich wollte. Hier folgte die einzig längere, als glücklich zu bezeichnende Zeit. Ich entwickelte ein nie gekanntes Selbstbewusstsein und lernte nach einer dreijährigen Beziehung mit einem Kulmbacher schließlich in einer Diskothek Klaus-Werner kennen. Es war schon abstrus, wie ich schließlich seine Freundin wurde. Sein Kumpel und ich hatten darüber diskutiert, wessen Fahrzeug schneller beschleunigen könne. Ich wusste, dass mein Honda Prelude da nicht schlecht abschnitt, das hatte ich oft genug ausgetestet. Also trafen wir ein Abkommen, das wir witzig fanden: wenn es Micha und Klaus-Werner gelänge, mir mit ihrem BMW zu folgen, so würden sie bei mir noch einen Abschlusskaffee für den Abend bekommen. Sonst müssten sie hierfür an die Tankstelle. Mein Auto enttäuschte nicht, und ich bemerkte mit einem erfreuten Blick in den Rückspiegel, dass der Abstand zum BMW immer größer wurde. Noch ein paar Mal abbiegen, und ich hätte die beiden abgehängt. Denn eigentlich hatte ich gar keine Lust mehr, noch ein Kaffeetrinken zu veranstalten, es war inzwischen 2 Uhr morgens. Doch dann beging ich einen Fehler, oder besser gesagt, war ich an einer Kreuzung zu langsam, an der oft Krankenwagen für das nahe Krankenhaus darüber donnerten. Ich wollte nicht unbedingt mit einem solchen kollidieren. Michael hatte mich eingeholt, und breit grinsend stiegen er und Klaus-Werner bei mir vor dem Haus aus dem Auto.
Morgens um 6 Uhr fuhren sie dann nach Hause. Ich hatte noch volle zwei Kannen Kaffee kochen müssen und war nun nach stundenlanger Konversation recht erledigt. Leider hatte ich KlausWerner versprochen, mit ihm am Nachmittag noch einen Kaffee im »Florian« trinken zu gehen. Übernächtigt und mit Augenringen kam ich meinem Versprechen nach. Ich weiß selbst nicht mehr, wie genau es gekommen war, doch tags darauf waren wir zusammen. Nach kurzer Zeit zog ich in sein Elternhaus in Gefrees, in dem uns seine Eltern großzügig mehrere Räume anboten.
Wir hatten beide eine kreative Ader, saßen abends im Wohnzimmer bastelnd und malend beieinander, ich hatte mir außerdem selbst das Nähen von extravaganter Kleidung beigebracht. Jeder von uns gestaltete eine eigene Eisenbahnanlage, und wir überboten uns liebend gerne gegenseitig bei der Detailgestaltung. Hatte er eine Badebucht mit hunderten von Figuren in Bikinis kreiert, so inszenierte ich auf meinem mittelalterlichen Marktplatz eine Mordszene. Das machte echten Spaß. Sich eine Welt nach dem eigenen Willen zu gestalten und zu entscheiden, wo nun Bäume standen, und wo nicht. Wo ein Fluss die Felsen hinunter donnerte, wo Einkaufsarkaden angelegt wurden.
Gerne gingen wir aus, und ich führte meine frisch genähten Modellkleider gleich in einer klassischen Bar vor, die Freunden gehörte. Klaus-Werner pflegte bei solchen Gelegenheiten vor Stolz fast zu platzen, zumal ich als meine eigene lebende Werbung so manchen Auftrag von Damen der besseren Gesellschaft mit nach Hause nahm, die auch ein Seidenkleidchen bestellen wollten.
Klaus-Werner war körperlich etwas kleiner als ich, schätzte es aber sehr, wenn ich mit hochhackigen Schuhen herumlief, die natürlich gut zu den Abendkleidchen passten. Er selbst trug immer Stiefeletten mit Absatz, um den Höhenunterschied wenigstens etwas auszugleichen. Allerdings verlieh ihm das ein wenig das Aussehen eines Herrn aus dem Rotlichtmilieu, zusammen mit den Seidenanzügen und seinem Hang zum Pseudo-Luxus, den er mit Goldkettchen und etwas affektiertem Gehabe gerne zur Schau stellte. Für ihn war ich hauptsächlich eine Verzierung, die neben ihm herlief, eine Art lebende Barbiepuppe. Doch glaubte ich, dass er mich auf seine Art und Weise auch liebte. Erst recht, als er mich heiratete und bald mit mir gemeinsam über ein Kind nachdachte, für das es nun langsam an der Zeit wäre. Ich war zu diesem Zeitpunkt auch schon 28 Jahre alt.
Dann kam etwas, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Ich dachte doch, wenn man ein gemeinsames Wunschkind bekommt, so macht das die Beziehung noch schöner, auch wenn zunächst Windelwechseln und Geschrei angesagt ist. Wir wohnten ja auch noch mietfrei bei seinen Eltern und hatten keine Geldsorgen bis dato. Aber wie eine Keule traf mich die Erkenntnis, dass ich in keiner Beziehung der üblichen Art gelebt hatte. Wir hatten dieselben Interessen und Hobbys, aber das war anscheinend auch schon alles. Kaum war Ann geboren, war die Beziehung quasi schlagartig tot. Mausetot. Klaus-Werner besuchte mich in den fünf Tagen nach der Geburt nicht einmal im Krankenhaus, er gebrauchte lieber saublöde Ausreden.
So ging es weiter, kein Haushaltsgeld für Windeln, kein Interesse für Ann, dann auch keines mehr für mich. Ich musste finanziell wegen der Verdienstausfälle in der Elternzeit und erst recht in seelischer Hinsicht sehen, wo ich bleibe. Nach vielen vergeblichen Versuchen, die Situation irgendwie zu verbessern, gab ich 1993 auf und zog zurück nach Bayreuth in ein kleines Appartement, überschuldet und ohne meine Tochter. Ich musste ja wieder ganztags arbeiten, ließ sie schweren Herzens bei der Oma und hatte Mühe, das Benzingeld aufzubringen, sie überhaupt am Wochenende holen zu können.
Ansonsten wurde nachts genäht, um die Schulden abzutragen, die mir die Zugewinngemeinschaft bei der Trennung eingebracht hatte. Das Geld steckte in Klaus-Werners Eisenbahnanlage. Während ich mein Bankkonto trotz ebenfalls kostspieliger Hobbys immer in der Balance gehalten hatte, war Klaus-Werner zum Schuldenprinzen geworden, hatte mich hiervon nicht einmal informiert.
Ich lebte von etwa 100 D-Mark im Monat. Dann hatte ich auch noch einen Unfall und zog mir im Knöchel einen Splitterbruch zu, der mich monatelang an Krücken fesselte. Hatte meine Mutter mir in dieser schweren Zeit geholfen, sich überhaupt nur für irgendwelche Gründe interessiert? Nein. Völlige Fehlanzeige. Die war beleidigt, weil ich ihren guten Ruf geschädigt hatte. Ich erdreistete mich schließlich, mich scheiden zu lassen. Ein Kapitalverbrechen. Die Scheidung selber war eine Katastrophe. Ich musste mich beim Richter noch rechtfertigen, dass ich arbeitete, um das Leben zu finanzieren, anstatt mich um meine Tochter zu kümmern. Ich habe sie dann zu mir geholt, als sie endlich im Kindergartenalter war. Nachmittags betreute sie meine Mutter, die mir allerdings zu verstehen gab, ich würde hierdurch ihr Leben zerstören, weil sie ihren Nachmittag nicht mehr frei gestalten konnte. So hatte ich täglich Schuldgefühle, wenn ich Ann nach der Arbeit dort abholte, doch fehlten mir die Alternativen. Nach drei Jahren war die Scheidung endlich durch, aber der Ärger mit Klaus-Werner hat lange Jahre nicht aufgehört.
Zermürbt von alledem wollte ich damals nur noch eines: endlich einen Menschen um mich haben, der mich um meiner selbst willen liebt. Mit dem ich einfach nur leben kann, der meine Tochter mag und uns als Doppelpack akzeptieren würde. Da setzte man mir im Sozialamt einen Kerl mit Pferdeschwanz ins Zimmer, der irgendwie selbst gestrickt aussah und der oft rührend hilflos wirkte. Ach, dachte ich mir, der würde mir bestimmt nichts zuleide tun. Es gab zwar einige unterschiedliche Ansichten und zugegeben – er war auch etwas langsam im Denken und in seinen Handlungen auch nicht sehr entscheidungsfreudig – aber ich glaubte, hiermit leben zu können.
Ich übernahm alles für Theo, was er nicht auf die Reihe brachte. Nach einem halben Jahr mit guten Gesprächen und Freizeitaktivitäten wagten wir den Schritt, uns gemeinsam in einer Wohnung aufzuhalten, entweder in seiner Eigentumswohnung, oder am Wochenende in meiner Mietwohnung in Emtmannsberg. Das ging recht gut, er mochte auch Ann und befasste sich mit ihr. Manch komisch anmutenden Handlungsweisen von ihm schob ich auf die Tatsache, dass er halt lang alleine gewesen sei und sich an eine Familie und alles, was dazugehört, erst gewöhnen müsse. So brauchte er unbedingt ein bis zweimal in der Woche eine »Auszeit« von uns, die er dann alleine in seiner Wohnung verbrachte.
Günther kannte ich damals auch schon, das war ein FußballKumpan von Theo. Ich verstand mich prima mit ihm, machte Fahrradtouren, begeisterte mich wie er für Ägypten und konnte sehr gut über gelegentliche Probleme mit Theo mit ihm reden. Er war mir ein guter Freund geworden, und ich machte im Gegenzug seinen Kummerkasten. Er sah sich immerzu als tragische Figur, wegen seiner Schmerzen und seiner nicht vorhandenen Freundin. Die letzte hatte ihn eiskalt abserviert, ihm nicht einmal die Gründe genannt.
Ich stellte Günther später meiner Cousine Uschi vor, weil er immer hilfsbereit war und auch stets gern neue Leute kennen lernte. Er half dort zunächst den Zaun reparieren und verfrachtete schließlich sein Lager in die Garage, die zum Haus meiner Cousine und deren Ehemann gehörte. Er arbeitete für einen Nahrungsmittel-Konzern und musste als Außendienstvertreter stets Proben und Werbematerial lagern, das er dann in die Supermärkte mitnahm. So brachte er seine Sachen unter, und Uschi hatte ab und an Unterhaltung.
Theo und ich beschlossen eines Tages, dass ein Imperiums-Erbe her müsse. So im Scherz bemerkte er, dass sonst die KurzenmeyerLinie bei ihm enden würde, und wem sollten dann die Häuser seines Vaters vererbt werden? Das war aber eigentlich doch kein Scherz, Theo konnte die Geburt eines Kindes wirklich so sachlich sehen. Also wurde ein Söhnchen geboren, und Theo war anders als Klaus-Werner auch sichtlich stolz darauf und kümmerte sich um den Burschen. Zumal das Babybübchen auch noch haargenau aussah wie er selbst. Zum Verwechseln ähnlich, wenn man ihn mit Papas Kinderfotos verglich.
Bei Axels Taufe lernte ich Attila kennen, den meine Cousine in München geheiratet hatte, und diese beiden hatten ein fast gleichaltriges Baby: Solveig. Stundenlang schob ich mit Uschi den Kinderwagen durch Bayreuth und hörte mir erste Schimpftiraden über ihren Mann und über Exvermieter in Grafing an, von dort waren sie zugezogen. Angeblich war er aggressiv und bekam unangemessene Wutanfälle, wenn sie etwas nicht richtig machte. Ich konnte diese Informationen nicht recht einordnen, so sagte ich nicht viel dazu.
Fast schon dachte ich, jetzt könne für mich alles gut werden. Ich war verheiratet und hatte zwei Kinder, Axel war ein wirklich pflegeleichtes Kerlchen. Meine Finanzen hatten sich inzwischen erholt, die Schulden waren abbezahlt. Aber die Geschichte sollte sich wiederholen. Nur mit dem Unterschied, dass Theo durchaus Interesse für sein eigenes Kind zeigte, dafür aber nach und nach überhaupt nicht mehr für Ann. Die war wegen des ImperiumsErben nun überflüssig. Es wurde nur noch an ihr herumkritisiert, sie konnte Theo nichts recht machen.
Ann ihrerseits wurde immer verschlossener, zog sich zurück und ärgerte ihn manchmal absichtlich, so nach dem Motto »wenigstens negative Aufmerksamkeit«. Sein Verhalten mir gegenüber änderte sich auch ins Negative, wenn nicht gar in Sadismus, außerdem gingen mir seine Langsamkeit, sein stets zögerndes Verhalten und seine Ungleichbehandlung der Kinder immer mehr auf die Nerven. Ich steuerte ständig dagegen, erntete aber nur Unverständnis und Wutausbrüche. Die Kluft zwischen uns wurde immer tiefer, ich saß ja zwischen ihm und meiner Tochter vollkommen zwischen den Stühlen. Kann man jemanden noch wirklich lieben, der die leibliche Tochter hasst?
Es kam, was kommen musste. Ich versuchte ständig, etwas zu verbessern, schon Axel zuliebe. Dazu gehörten auch der Kauf des Reihenhauses und die Eheschließung 1999, weil ich hoffte, dass Theo dann endlich akzeptieren könne, dass wir in der vorliegenden Besetzung zusammengehörten und uns nicht bekämpfen dürften. Gleichzeitig hatte ich das unbestimmte Gefühl, einen Fehler zu machen. Aber ich nahm das in Kauf und dachte mir, dass ich dann eben lebenslänglich für meinen Sohn leiden müsse, wenn das schief ginge. Selbst schuld, ich hätte den Braten eben riechen müssen. Ich saß hinten im Hochzeitsauto und heulte auf dem Weg zum Standesamt. Theo dachte vermutlich, ich täte es aus Rührung oder Sentimentalität und fragte gar nicht danach. Und, oh, Wunder, für ein paar Wochen war nach der Hochzeit die Beziehung tatsächlich etwas besser geworden, bis sich die alten Zustände in den Alltag zurückschlichen.