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Ann bekam schließlich eine Neurose in Form einer Zwangskrankheit, mit Anfällen, bei denen sie starr auf dem Boden lag, die Decke anstarrte und nicht mehr ansprechbar war. Das machte eine kinderpsychologische Behandlung notwendig. Zeigte Theo Einsicht, änderte er sein Verhalten? Nein. Im Gegenteil.
Dafür zeigte Klaus-Werner urplötzlich Interesse, das über McDonalds-Besuche und Urlaube mit Ann hinausging. Er war eifrig hinterher, mir klar zu machen, Ann müsse unbedingt zu ihm und seiner neuen Lebensgefährtin ziehen, damit es ihr besser ginge. Nachdem Klaus-Werner aber schon immer sehr am Besitz von Geld interessiert war und von Anfang an auch unglücklich darüber war, dass er für Ann Unterhalt zahlen musste, war mir sofort alles klar. Da wollte jemand von seiner Unterhaltspflicht befreit werden, seinerseits welchen erhalten und das Kind tagsüber seiner Lebensgefährtin zur Betreuung übergeben oder bei der Oma lassen, wodurch sich sein eigener Stress damit in Grenzen halten würde. Klaus-Werner setzte alle Hebel in Bewegung, um dieses Ziel zu erreichen. Er spielte in der Praxis der Kinderpsychologin den verständnisvollen, treusorgenden Vater, und Ann beeinflusste er auf eine Art und Weise, die mich schier verzweifeln ließ. Ich wusste noch sehr genau, wie er sie zuvor links liegen gelassen hatte. Es folgte ein Tag, den ich nie wieder vergessen werde. Ich, Klaus-Werner und Ann vor dem Schreibtisch der Kinderpsychologin. Diese fragte, ob Ann zum Vater ziehen wolle. Ann war total nervös und unsicher, sah mich überhaupt nicht an und blickte unsicher zum Vater. Dann: ja, sie will umziehen. Breites Grinsen bei Klaus-Werner, betretener Blick bei Ann und Freude bei der Psychologin, dass sie diesen Fall endlich vom Tisch hatte. Wie ich an diesem Tag nach Hause gekommen bin, entzieht sich vollkommen meiner Kenntnis. Ich muss wohl so etwas wie einen Filmriss gehabt haben, stand unter Schock. Und Theo? Der freute sich. Er war das lästige Kuckuckskind los. Es steht ja wohl für jeden Menschen, der ein Fünkchen Gefühl in sich birgt fest, dass eine solche Beziehung allenfalls pro forma aufrechterhalten werden kann, wenn sich derartige Dinge ereignet haben.
Und ich hielt sie tapfer aufrecht. Ich litt, ich musste fast kotzen, wenn Theo mich auch nur anfasste. Ich ließ mich beschimpfen, versuchte meinen Sohn zu erziehen und ging nebenbei zur Arbeit. Kein Mensch merkte, was bei uns los war, weil ja alle nur den Anschein einer Beamtenfamilie mit zwei Kindern wahrnahmen, der es ja so gut geht in ihrem neuen Häuschen.
Selbstverständlich merkte auch meine Mutter absolut nichts, sie hatte ja nie etwas von meinem Seelenleben mitbekommen – mangels Interesse. Ich versuchte, mich mit Nähen, Lesen, Malen und langen Spaziergängen im Wald psychisch auf die Reihe zu bekommen. Vergeblich, mein Unterbewusstsein dankte es mir mit Panikattacken, die Krankenhausaufenthalt, Angstzustände und schließlich die ständige Einnahme von Tabletten zu meinen Begleitern machten. Ein Vierteljahr traute ich mich so gut wie nicht aus dem Haus, Autofahren durfte ich sowieso nicht. Bei einer anschließenden Psychotherapie, die mir neuen Mut und neue Kraft gab, reifte in mir der Wunsch, neben einem Leben ohne Theo auch eine Ausbildung als Psychotherapeutin zu beginnen. Günther, auf den ich zwischenzeitlich auch immer wieder getroffen war, gab mir neue Zuversicht.
Eben diese neu erworbene Kraft war es, die mich schließlich nach einer leicht tätlichen Auseinandersetzung mit Theo nach Pleinfeld flüchten ließ. Ich hatte mich bei einem Streitthema verbal zur Wehr gesetzt, Theo konnte nicht ausreichend mitargumentieren und wollte daher das Faustrecht wieder einführen, warf mich wütend gegen die Küchenzeile. Als er abends in die Kneipe ging, packte ich Koffer und Kinder ein und fuhr zu meiner Cousine Uschi, die zwischenzeitlich in Pleinfeld mit Attila ein riesiges Haus gemietet hatte. Ich erfuhr zuvor schon von Günther, dass er dort in die Einliegerwohnung im Keller ziehen werde, Uschi habe ihm das angeboten. Das war zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht geschehen.
Uschi quartierte uns alle ein und ich trank abends mit Uschi und Attila noch ein Gläschen Wein, kotzte mich aus. Attila sah ich während dieser zwei Tage selten, bekam von Uschi in abfälligem Tonfall als Begründung zu hören, der arbeite sowieso nur, und das Tag und Nacht. Ich besichtigte seinen Arbeitsplatz unter dem Dach auch einmal und hörte dabei Uschis Klagen, dass er zwischen sechs Computern hin und herarbeite, dann auch noch auf dem Fußboden darunter schlafe. Wahrscheinlich nehme er Drogen, ernähre sich fast ausschließlich von Kaffee. Und sie sitze alleine auf der Couch, müsse ohne ihn fernsehen.
Ich bewunderte Attila insgeheim für sein Engagement, hatte er sich doch selbst den Beruf eines Programmierers beigebracht und versuchte nun, sich einen Kundenkreis aufzubauen. Nebenbei hatte ich noch gesehen, dass er sich nicht scheute, beispielsweise unter dem Vogelkäfig zu kehren, wenn dort Berge von Federn und Streu lagen. Uschi interessierte es herzlich wenig, wie die Wohnung aussah. Sie konnte mühelos Staub und Krümel herumliegen sehen, saß während seiner Bemühungen desinteressiert auf der Couch.
Nach zwei Tagen Aufenthalt in Pleinfeld wurde mir klar, dass diese Flucht zwar notwendig, aber nicht die Lösung war. Ich musste zurück nach Hause, mit Theo reden. Der war erst einmal handzahm und nahm den Warnschuss durchaus als das, was er war. Aber schnell kamen dieselben Probleme wieder auf und mir blieb nichts anderes übrig, als mich mit der Tatsache der Notwendigkeit einer zweiten Scheidung abzufinden. Nebenbei zog ich mein Psychotherapie-Studium durch. Ich traf mich auch mehrfach mit Günther, vollkommen platonisch natürlich, aber trotzdem heimlich. Die Umwelt dachte schließlich nur allzu gerne schlecht über einen und würde keine Schwierigkeiten haben, Geschichtchen zu erfinden. Günther tat mir einfach gut, und umgekehrt schien dies auch der Fall zu sein.
Günther war mittlerweile nach Pleinfeld gezogen, in die hübsche Einliegerwohnung bei Attila und Uschi. Von ihr hörte ich bei nahezu jedem Telefonat, dem Günther gehe es total gut, er schleppe ständig irgendwelche Weiber an, mit denen er jedes Mal an den See gehe. Das klang etwas abfällig, oder sogar auffällig eifersüchtig. Wie konnte man freiwillig an einen See gehen? Uschi tat so etwas niemals. Die konnte jahrelang direkt am Ufer wohnen und würde den See trotzdem nicht behelligen. Ich wurde hellhörig, weil sie auch erwähnte, dass sie selber des Öfteren mit Weinflasche und Kerze bewaffnet zu guten Gesprächen zu Günther in den Keller hinuntergehe, das sei ja so ein netter Kerl, ein Traummann eben. Schon immer gewesen. Nun ja, dieser Meinung war ich auch. Günther hatte einfach immer ein offenes Ohr, wenn jemand Probleme hatte.
Da reifte in mir der Entschluss, mir diesen netten Kerl zu sichern, bevor die anderen, laut Uschi zahlreichen Interessentinnen oder Uschi selbst es täten. Dass Günther eigentlich schon immer mit mir zusammen sein wollte und stinksauer und neidisch auf Theo und dessen Handlungsweisen war, wusste ich schon sehr lange. Genauso war mir klar, dass die Ehe zwischen Uschi und ihrem Mann schon lange herben Krisen ausgesetzt war.
Tatsächlich hatte Günther zu diesem Zeitpunkt gerade eine relativ doofe Tussi in Arbeit, die Bille genannt wurde. Ein unbeholfenes, genau wie Günther ständig kränkelndes Wesen. Aus heutiger Sicht hätte die auch bestens zu ihm gepasst, oder womöglich auch Uschi. Sei es drum. Und was tat ich wohl? Genau. Schon tauchte ich an Günthers Seite freudestrahlend bei Uschi auf, verschwand anschließend mit ihm in seiner Kellerwohnung. Weder Uschi noch Attila wollten sich so richtig mit mir freuen, wenn ich auch heute erst die jeweiligen Gründe dafür kenne.
Theo, den ich sofort über die neue Situation informierte, kapierte natürlich überhaupt nicht, warum ich ihn verlassen hatte. Erst stundenlange Jammergespräche bei gemeinsamen Freunden, Kollegen und seiner Mutter konnten ihm einigermaßen ein Bewusstsein dafür vermitteln, dass er das Dilemma selber herbeigeführt hatte. Er tröstete sich dann mit einer »Neuen«, die er über ein Partnervermittlungsinstitut kennengelernt hatte.
Die Anfangszeit mit Günther war klasse. Wir unternahmen viel, wir redeten viel, wir schmiedeten Zukunftspläne. Alles sollte besser werden, für jeden von uns. Sofort suchten wir uns eine große Altbauwohnung und waren der Ansicht, dass diesmal doch alles gut werden müsse. Zwar hatte ich, wie auch schon bei Klaus-Werner und Theo, so einen Ansatz von ungutem Gefühl in mir, dass die Übereinstimmung doch nicht hundertprozentig sei. Aber natürlich fand ich wieder Gründe, um mich zu beruhigen. Günther sei halt noch keine Familie gewohnt gewesen, sondern war bisher immer allein. Der müsse sich erst an Axel gewöhnen und wohl auch an die Tatsache, dass er nicht mehr alleine in der Wohnung war.
Seine Pechvogelhaltung, die er bei jeder Gelegenheit zelebrierte, sah ich als Spleen und auch zum Teil als gerechtfertigt an, weil er tatsächlich dauernd Pech hatte. Er ließ kein Fettnäpfchen, keine Krankheit und keine Katastrophe aus. Hinzu trat sein Stress auf der Arbeit, auf den er ständig hinwies. Da er immerzu hektisch herumrannte, nahm ich ihm den Dauerstress auch ab und hinterfragte dies nicht. Ansonsten war er lieb zu mir, wie ein großer Bub. Wir wussten wegen meines Alters beide, dass es jetzt höchste Zeit war, wenn wir noch ein gemeinsames Kind haben wollen. Günther wollte ja schon immer Kinder. So wurde dieser Wunsch unverzüglich in die Tat umgesetzt.
Dann erlebte ich ein sehr positives Erlebnis. An einem Besuchswochenende, als ich Ann bei mir hatte, besuchten wir ein Mittelalterfest. Ann wirkte bedrückt und schweigsam. Nach längerem Reden rückte sie schließlich damit heraus, sie wolle nicht mehr zurück zum Vater. Dort sei alles gar nicht mehr schön, die Hanne quäle sie nur noch, lasse sie sogar die Toilette putzen und der Papa halte dann nicht zu ihr, sondern gebe immer der Hanne Recht. Die möge aber nur ihre eigenen Söhne, würde sie offen bevorzugen.
Ich rief Klaus-Werner an, informierte ihn von den Schwierigkeiten unserer Tochter mit seiner neuen Lebensgefährtin und erklärte ihm, ich würde Ann gegen ihren Willen nicht zurückbringen, sondern vielmehr einen Termin mit der Kinderpsychologin vereinbaren, um die neue Situation zu besprechen. Ich wertete das dortige Gespräch als späte Gerechtigkeit, denn es verlief genau entgegengesetzt zu dem vorherigen, das mir einen solchen Schock verpasst hatte. Ann wurde abermals gefragt, wo sie leben wolle. Ja, ich will zur Mama zurück.
Klaus-Werner zeigte sich im Gegensatz zu mir damals aber nicht verzweifelt, sondern total erbost. In bitterbösem, hartem Ton ging er seine Tochter und alle Beteiligten an, merkte auch an, dass er das Geld aber zur Haushaltsführung dringend brauchte, das ihm Ann eingebracht hatte. Spätestens an dieser Stelle merkte auch die Psychologin, dass sie Klaus-Werner falsch eingeschätzt hatte und entschuldigte sich bei mir kleinlaut für die vorherige Fehlentscheidung. Klaus-Werner setzte noch einen weiteren negativen Eindruck obendrauf, als er in arrogantem Ton bemerkte, er wolle Ann nicht wiedersehen, sie komme ihm nicht mehr ins Haus. Sie besitze keinen Charakter, unter anderem, weil sie ihr Zimmer nicht aufräume. Ich versuchte draußen auf der Straße noch, mit ihm zu reden. Auf diese Weise konnte er doch nun Ann nicht dafür bestrafen, dass sie zu mir zurückziehen wollte! Doch Klaus-Werner war eiskalt, revidierte seine Entscheidung nicht. Nur zur Oma in die andere Haushälfte durfte sie fortan noch zu Besuch kommen.
Ann war wieder da, und ich rechnete diesen Erfolg zum Teil auch Günther an. Schließlich wäre sie nicht wiedergekommen, wenn sie nicht Günther besser akzeptiert hätte als seinen Vorgänger Theo. Günther bemühte sich dann auch rührend um sie, bis … ja, schon wieder spielte sich vor meinen entsetzten Augen genau dasselbe Szenario ab, das ich leider schon kannte. Es gab jetzt ein eigenes Söhnchen namens Fredrik.
Natürlich ist es verständlich, wenn sich ein Vater zum eigenen Fleisch und Blut mehr hingezogen fühlt, als zur mitgebrachten Kinderschar. Aber muss man dies so auffällig unterscheiden, dass die Kinder es deutlich merken? Es fing schon an, als Fredi noch ein Baby war. Andauernd kam die nervige, hypochondrische Mutter von Günther und erklärte in den höchsten Tönen, wie toll Fredi doch sei. Die anderen beiden wurden entweder kritisiert, oder links liegen gelassen. Auch bei Geschenken. Nur ganz selten befasste sie sich überhaupt damit, und wenn, dann eigentlich höchstens mit Axel. Diese egoistische, streitsüchtige Frau legte sich regelmäßig auch mit mir an, was ich mir aber nicht gefallen ließ. Sollte sie ihre Launen doch woanders loswerden, ich hatte schon genügend Probleme.
In der Zwischenzeit hatte ich meine Prüfung als Heilpraktikerin für Psychotherapie beim Gesundheitsamt bestanden und bekam meine Zulassung. Ich feierte mit Günther und den Kindern bei einem ausgiebigen Frühstück im Café »Sinopoli«, hoffte, nun doch irgendwann dem Beamtenberuf den Rücken kehren zu können. Ich gedachte, diesen neuen Beruf zunächst während der Elternzeit auszuüben und muss zugeben, dass ich nebenbei damit auch die schon wieder auftretenden Beziehungsprobleme niederbügeln wollte. Davon abgesehen, wäre dies erst einmal ein sinnvolles Gegengewicht zu meinem öden Job in der Behörde gewesen.
Da kam mir der Zufall zu Hilfe, nachdem zunächst tragische Entwicklungen fast zu Attilas Ableben geführt hätten. Er und Uschi hatten schon lange Eheprobleme, die ständig zu unschönen Auseinandersetzungen führten, die gelegentlich richtig eskalierten. Nach einem Vorfall mit einer Blumenvase und anderen Begebenheiten waren sie nach Hummeltal gezogen, um mal wieder neu anzufangen. Auch dort ging es aber nicht gut, und Uschi drohte Attila, mit den Kindern auszuziehen. Er unternahm einen Selbstmordversuch in seinem Büro, der trotz bombensicherer Vorbereitung seltsamerweise scheiterte. Und genau dieses Büro bot er mir nun an, meine Praxis dort unterzubringen. Er werde künftig zu Hause im Keller arbeiten, hatte er erklärt, und das Büro sei noch für mehrere Monate fest gemietet, aus dem Vertrag komme er ohnehin nicht raus. Die Miete müsse ich ihm aber nicht erstatten, ich solle erst einmal ausprobieren, ob die Praxis Gewinn abwerfe und dann entscheiden, ob ich die Räume weiter mieten will.
Ich konnte es gar nicht fassen. Was war das für ein großzügiger Mensch, der mir die Räume für die Restlaufzeit des Mietvertrages umsonst überlassen wollte? Attila konnte richtig selbstlos sein. Hierzu passten die Schilderungen Uschis, was für ein Unmensch er doch sei, so gar nicht.
Wir schmiedeten Pläne, neben der Praxis noch einen Vertrieb für Naturkosmetik-Produkte unterzubringen, damit auch Uschi eine Beschäftigung habe und wir beide zusammen dort etwas auf die Beine stellen können. Meine aufkeimenden Beziehungsprobleme waren jetzt relativ uninteressant geworden, ich war mit Hochdruck beschäftigt, die Arbeiten zur Praxiseröffnung voranzutreiben, und war ansonsten mit meinen Kindern beschäftigt und ausgelastet. Und natürlich mit Uschi. Diese hatte zwar Ideen, doch die Umsetzung erwartete sie ausnahmslos von mir. Um die Internetseite für die Kosmetik kümmerte sich Attila, bzw. eine von ihm beauftragte andere Verwandte.
Schließlich war Eröffnung. Günther und ich, Uschi und Attila standen vor dem offiziellen Teil in der Küche der Praxis und philosophierten über die Ungerechtigkeit der Steuern und die gemeine Welt an sich. Na ja, sagen wir, hauptsächlich Attila und ich taten das. Ich fand es klasse, mit ihm zu reden und bewunderte ihn wieder einmal für seinen messerscharfen Verstand.
Ich hatte eine neue Strategie: spätestens, wenn zu Hause etwas nervig wurde, fuhr ich in die Praxis. Dort gab es ja genug zu tun. Bis mir ein neidischer, arroganter Kollege aus dem Straßenverkehrsamt die Tour vermasselte, in welchem ich damals seit Jahren die Leitung der Fahrerlaubnisbehörde innehatte. Der »Kollege« flüsterte so lange meinem Dienststellenleiter ein, dass ein Interessenkonflikt mit meiner dienstlichen Tätigkeit in der Führerscheinstelle bestehe, wenn ich während der Elternzeit eine Praxis betreibe, bis dieser sich an das Personalamt wandte. Die wollten mir dann die Nebentätigkeitsgenehmigung entziehen oder mir versagen, eine Praxis im Stadtgebiet Bayreuth zu führen. Das war das Ende der Praxis, vom Kosmetikvertrieb und allem, was damit zusammenhing.
Natürlich war ich aufgrund der Vorgehensweise des sogenannten Kollegen entsetzt, enttäuscht und ausgesprochen wütend. Hätte ich ihn zwischen die Finger bekommen, so hätte ihn so schnell niemand mehr wiedererkannt. Er hatte aus Neid gehandelt, weil ich ihm seit Jahren auf seiner eigenen Karriereleiter im Wege stand. Alles gelang mir einen Deut schneller oder besser, er konnte es nicht verwinden, wollte ein Karrierebeamter sein. So trachtete er danach, mir möglichst Minuspunkte zu verschaffen, die ihm den Weg nach oben etwas freier machen würden. Denn mit bloßer Leistung schaffte er das nicht.
So musste ich den Ärger über die geschlossene Praxis hinunterschlucken, der sich jetzt schon wieder mit anderem Frust paarte. Frust mit Günther und dessen Mutter. Als ich mit Günther darüber redete, wurde es erst einmal besser. Er bemühte sich, wies auch die Mutter in die Schranken. Monatelang ging ich nun davon aus, dass die Schwierigkeiten überwunden seien. Ich traute mich sogar, Günther zu heiraten, was angesichts meiner Vorgeschichte schon recht mutig war. Als Trauzeugen fungierten Attila und Uschi, wir feierten in Mittelaltergewändern. Es entstand ein lustiges Foto, dem ich damals noch keine Bedeutung beimaß, das ich heute aber als durchaus richtungsweisend werte. Ich war strahlend neben Attila fotografiert worden, während sich Uschi und Günther mit den Kindern im Hintergrund hielten. Man hätte denken können ...
Nach der Hochzeit funktionierte alles recht gut, an Günthers Hang zum Märtyrertum und seine ständigen Krankheiten, die allesamt grundsätzlich viel schlimmer als bei anderen Menschen waren, gewöhnte ich mich einigermaßen. Allerdings geriet er immer wieder, meiner Meinung nach ungerechtfertigt, in Konflikte mit Ann und Axel. Ich schob das aber auf die beengte Wohnsituation und wollte umziehen, am liebsten in ein Häuschen, wo auch Günther in Ruhe arbeiten könne.
Günther teilte diese Überlegungen. Nach kurzer Suche fanden wir etwas Passendes in Voitsumra, schön ländlich und schön abgelegen. Ich dachte mir, hier könne man wenigstens die Kinder hinauslassen, in der Natur spazieren gehen und man liefe sich in der Weitläufigkeit des Hauses und Gartens nicht ständig über den Weg. Ich war ja auch noch wegen der Elternzeit zu Hause und musste mir momentan über den weiten Weg zur Arbeit keine Gedanken machen.
Die Zeit von März bis Oktober des ersten Jahres empfand ich als wirklich schön, auch wenn ich merkte, dass man die Kinder keineswegs alleine aus dem Haus lassen konnte. Vorbei donnernde Holzlaster, fehlende Zäune und Sickergruben verhinderten das. Ich spaltete Holz, schichtete dieses auf, arbeitete im Garten und strich alle Zimmer des Hauses an, freute mich über etwas Neues. Günther hatte sein Arbeitszimmer und war für seine Verhältnisse sogar gut drauf. Mit den Nachbarn freundeten wir uns an, so gab es am Abend oft ein Bierchen am Lagerfeuer.
Mit der Zeit merkte ich dann, dass mich Haus und Gartenpflege doch recht überforderten. Ich musste nun wieder halbtags arbeiten, und das 35 km entfernt. Im Winter warf das regelmäßig Probleme auf, mit heilem Auto dort anzukommen, ansonsten kostete es zumindest viel Zeit. Es blieb das Meiste rund um Haus und Hof an mir hängen, auch alle Fahrten zum Abholen der Kinder, zum Arzt usw. Günther mähte höchstens alle heilige Zeit den Rasen, ansonsten arbeitete er oder beschwerte sich über sein furchtbar stressiges Leben.
Langsam bemerkte ich nun auch, dass Günther absichtlich Tätigkeiten streckte, oder mit sinnloser Hektik herum rannte, ohne wirklich irgendeine Arbeit hinterher erledigt zu haben. Er wollte also jammern, fühlte sich ununterbrochen gestresst.
Märtyrer als Lebensinhalt. Dasselbe Schema bezüglich seiner ständig schmerzenden Zähne und chronischen Krankheiten, was ich durch beiläufige Bemerkungen der Ärztin erfuhr, die sich über so manchen Besuch bei ihr wunderte. Also hatte er womöglich die Hypochondrie von der lieben Mutter geerbt, die ich, nebenbei bemerkt, eines Tages des Hauses verweisen musste, weil sie sich boshaft aufführte und sogar mir recht geduldigem Menschen der Geduldsfaden riss. Ich habe noch nie damit umgehen können, wenn man mich nur zu dem Zweck anstänkerte, um seine eigene schlechte Laune auf jemanden abzuwälzen.
Theo versuchte in der Zwischenzeit durch viele kleine Aktionen, Axel zu sich zu ziehen, ähnlich, wie Klaus-Werner es mit Ann getan hatte. Ich kämpfte mit Klauen und Zähnen, sowie mit meiner Rhetorik und konnte es verhindern. Aber an meinen Nerven zerrte diese Erkenntnis selbstverständlich trotzdem, konnte ich doch das Muster erkennen und wusste auch, wohin es letzten Endes führen würde, wenn ich nicht ständig auf der Hut wäre.
Die Beziehung zu Günther zersetzte sich derweil langsam weiter. Die Nachbarn sprachen mich darauf an, was denn mit Günther los sei? Der sei total komisch, unfreundlich und tue nur, als ob er arbeite. Ja, das konnte ich teilweise leider bestätigen. Mehrfach hatte er mir extremen Stress vorgejammert, und wenn ich dann an seinen Arbeitsplatz vorbeikam, surfte er auf privaten Internetseiten, die garantiert nichts mit Arbeit zu tun hatten. Schrieb Beiträge für das Forum seines Fußballvereins und ähnliches. Was sollte das? Ich fand es unfair mir gegenüber. Zusammen mit den Nachbarn versuchte ich, Günther psychisch wieder auf die Reihe zu bekommen, doch ohne dauerhaften Erfolg. Er bekämpfte jetzt regelrecht Ann und Axel, kritisierte, jammerte und ärgerte sie. Bis hin zu Duschverboten und ähnlich sinnlosen Vorschriften. Zum Schluss war er nur noch bei unseren zahlreichen Fahrten nach Prag zu ertragen, die wir als gemeinsames Hobby entdeckt hatten, und selbst da störte ihn das Haar in der Suppe bei jeder Kleinigkeit. Oft brach er absichtlich Streit vom Zaun und verschwand beleidigt im Keller, sobald ich auch nur einen Hauch von Kritik anbringen wollte. Er schien mit einer Familie dieser Größe schlicht und einfach überfordert zu sein, denn Absicht wollte ich ihm nicht unterstellen. Ich wurde täglich trauriger und sah auch diese Beziehung immer rasanter zerbrechen.
So, was sollte ich nun tun? Schon wieder Scheidung? Ich mochte gar nicht daran denken. Verzweifelt überlegte ich, was ich verändern sollte. Da Günther dauernd über irgendwelche Umstände in Voitsumra jammerte, die ihn nervten, und dass das Haus so düster sei, womit er Recht hatte, dachte ich über Umzug nach. Ich wusste ja, dass das Reihenhaus in Bayreuth eigentlich leer stand, Theo hielt sich ja fast ausschließlich in Bindlach bei seiner Freundin Sisi auf. So fragte ich ihn, ob ich es nutzen könne, schließlich gehörte mir noch ein Viertel Anteil. Nach Theos üblichem Zögern und Befragung der gesamten Verwandtund Bekanntschaft stand fest, dass wir als eine Art Mieter dorthin ziehen würden. Natürlich brachte das neuen Stress, Umzug und Ärger mit den Exvermietern, die uns für unseren Auszug bestrafen wollten, indem sie um die Kaution stritten. Günther überließ den Löwenanteil der Diskussionen natürlich mir, was ich auch gar nicht anders erwartet hatte.
Leider lag Günthers Laune und sein Verhalten aber nicht an Voitsumra, was sich sehr schnell herausstellte. Während ich mich in Bayreuth besser und etwas entlastet fühlte, knüpfte er genau da an, wo er in Voitsumra aufgehört hatte. Allen Versuchen, eine Besserung herbeizuführen, wich er aus. Nur Fredi wurde von ihm gut behandelt und mit Geschenken überschüttet. Alle Warnungen und Bitten von mir, dass ich dies nicht mehr lange durchhalten werde, ignorierte er. Immer wieder verschwand er beleidigt im Keller, obwohl ich ihn wirklich nur angefleht hatte, die Kinder besser zu behandeln und auch mit mir etwas anders umzugehen.
Da endlich hatte ich verstanden. Auch diese Ehe hatte sich heimlich, still und leise erledigt. Es ging nur noch um Details, weil ich nicht einfach von heute auf morgen verschwinden konnte. Ich hatte jetzt drei Kinder zu versorgen und hätte mich erst einmal um einen Ganztagsjob kümmern müssen, um mit den Kindern gemeinsam finanziell überleben zu können. Bei der Behörde fragte ich gleich an, welche Möglichkeiten ich hätte, man vertröstete mich auf später. Jetzt sei keine Stelle frei.