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Für Aaron Rosenthal sollte die unselige AlienAffäre noch ein besonders unangenehmes Nachspiel haben. Seine überaus besorgten Eltern ließen ihn ein paar Wochen nach dem Vorfall psychiatrisch begutachten und legten anschließend größten Wert darauf, dass er Levi nicht mehr traf. Der Psychiater hatte nämlich darauf hingewiesen, dass die psychische Störung wohl hauptsächlich durch dessen Suggestionen ausgelöst worden sei.
Terra, 27. November 2017 nach Christus, Montag
Solaras und Kalmes hatten ihre Anhörung bei einem Mitarbeiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ohne Probleme überstanden. Vorgebliche Syrer hatten es da vergleichsweise einfach. Eine begründete Furcht vor Verfolgung geltend zu machen, wenn man direkt aus einem Bürgerkriegsgebiet kommt, fällt naturgemäß relativ leicht.
Sie wohnten mittlerweile im Asylheim Freiberg in Sachsen. Heute erst war der schriftliche Bescheid über die Aufenthaltserlaubnis gekommen. Kalmes las ihn jubelnd vor. Sie durften in Deutschland bleiben.
Nun konnte es losgehen: Deutschkurs, Wohnung, Integrationsangebote und – last but not least – hatten sie endlich die Erlaubnis erhalten, sich auf dem Jobmarkt einen Arbeitsplatz zu suchen. Es ging mit Riesenschritten aufwärts. Bald schon würden sie selbstbestimmt leben und das antrainierte arabische Gehabe ablegen dürfen.
Kalmes freute sich schon darauf, sich bald in die fantasievollen terrestrischen Gewänder hüllen zu können. Selbstverständlich gedachte sie nach dem geplanten Umzug in eine eigene Wohnung nicht länger Kopftücher zu tragen, sondern sich in punkto Kleidung voll der deutschen Bevölkerung anzupassen. Die reiche Auswahl an Farben und Schnitten in den Bekleidungsgeschäften erschien ihr paradiesisch.
Zwischenzeitlich hatten die frisch gebackenen Asylanten gleichwohl bemerkt, dass in Deutschland auch nicht alles Gold war, was glänzte. Die Schere zwischen Arm und Reich klaffte sehr weit auseinander. Es gab Neid, Missgunst, Bürokratie, viel schlechte Laune und sogar islamistische Anschläge in diesem wunderhübschen Land voller grüner Wälder.
Die Tiberianer konnten beim besten Willen nicht verstehen, wieso sich manche ihrer Mitflüchtlinge intolerant und sogar gewalttätig verhielten. Es wurde geprügelt und vergewaltigt. Einige der Asylsuchenden sprengten sich gar als Selbstmordattentäter selber in die Luft, rissen unschuldige Zufallsopfer mit in den Tod. Aber hätten diese, zumeist jungen, Männer nicht froh und dankbar sein müssen, der lebensbedrohlichen Situation in ihrem Heimatland entronnen zu sein? Dass sie von der demokratischen Regierung dieses Landes, und das wohlgemerkt ohne jegliche Gegenleistung, neben Schutz ein Dach über dem Kopf, Essen und sogar ein wenig Taschengeld gestellt bekamen?
Als halbwegs verständliche Reaktion auf die vielen negativen Vorkommnisse mit Flüchtlingen schlugen den Freiberger Heimbewohnern Vorurteile und manchmal auch purer Hass der ortsansässigen Bevölkerung entgegen. Darunter hatten auch Solaras und Kalmes zu leiden. Scheele Blicke der Anwohner waren noch das Harmloseste, was sie erdulden mussten.
»Wenn ich daran denke, dass wir Tiberianer an diesen ganzen durch religiöse Ansichten verursachten Konflikten schuld sind, könnte ich wahnsinnig werden. Jesus hat kläglich versagt«, ging Solaras oft hart mit sich ins Gericht.
Kalmes pflegte ihn in solchen Phasen zu trösten. »Wir haben den Menschen auf Terra durch die Propheten Jesus von Nazareth und Mohammed nur das Angebot gemacht, sich an sinnvollen Wertvorstellungen zu orientieren. Pervertiert und ins Gegenteil verkehrt haben sie die Lehren selbst. Im Übrigen sind nicht alle Terraner schlecht. Dieser falsche Eindruck wird nur durch die einseitige, sehr negative Berichterstattung genährt. Wie kann man nur den Planeten, auf dem man lebt, in einem derart üblen Licht darstellen?«
Als Solaras sich sechs Monate später einen lange gehegten Herzenswunsch erfüllen und seine Kalmes ehelichen wollte, erlebte er auf dem Standesamt eine böse Überraschung. Man hatte das Paar in Passau versehentlich als Mutter und Sohn alHaruni registriert. Da die beiden keine Originalurkunden aus ihrem Heimatland vorweisen konnten, war es nicht möglich, diesen fatalen Irrtum aufzuklären. Ein Gentest verbot sich, denn der hätte das Paar sofort als mutmaßlich Außerirdische in die Schlagzeilen gebracht. Tiberianische DNS unterschied sich nun mal leider marginal von der terrestrischen. Auch ihre Blutgruppe war auf Terra inexistent.
So kam es, dass Solaras und Kalmes ihre Liebe im Verborgenen leben mussten. Aber sie gingen wenigstens gemeinsam durchs Leben, was auf ihrem Heimatplaneten völlig undenkbar gewesen wäre. Und das war es, was zählte.
Terra, 18. Dezember 2021 nach Christus, Samstag
eutschland gab den mittlerweile bestens integrierten Flüchtlingen von Tiberia immer noch einige Rätsel auf. Sie lebten nun schon seit drei Jahren in einer eigenen,
kleinen Sozialwohnung in KölnDeutz. Solaras arbeitete an der Kasse einer Großtankstelle Schicht. Kalmes war Küchenhilfe, schnippelte in Teilzeit Gemüse für ein angesagtes Restaurant nahe der Domplatte. Ab und zu half sie im Service aus.
Beide hatten die deutsche Gründlichkeit und Zuverlässigkeit schätzen gelernt, haderten jedoch mit ihrer beruflichen Unterforderung. Potentielle Arbeitgeber pochten auf Zeugnisse und Referenzen, sobald es um besser bezahlte Jobs ging, anstatt auf Lebenserfahrung oder probeweises Arbeiten zu setzen. Der Konkurrenzkampf unter den Bewerbern erschien gnadenlos. Alles in Deutschland war streng reguliert, fast wie auf ihrem Heimatplaneten, und die Tiberianer mussten sich wohl oder übel den Gegebenheiten beugen.
Besonders schwer fiel es Kalmes und Solaras naturgemäß, ihre Biografie glaubhaft darzustellen. Sie mussten eine berufliche Laufbahn in Syrien erfinden – ohne dafür Nachweise vorlegen zu können – und vor allem die lange Zeitspanne verschweigen, die sie auf dem fernen Tiberia zugebracht hatten.
Da blieb nichts übrig, was man als Berufserfahrung hätte ins Feld führen können. Der Sachbearbeiter im Jobcenter hatte für die hochmotivierten Flüchtlinge daher nur Billiglohnjobs auftreiben können, obwohl sie in Rekordzeit Deutsch gelernt hatten.
»Was ist, wollen wir jenen seltsamen Brauch mit den Weihnachtsbäumen heuer mitmachen? Ich finde den heimeligen Anblick so hübsch«, fragte Kalmes beim Frühstück an einem Samstagmorgen.
»Du willst einen Weihnachtsbaum … obwohl du weißt, dass der Kult um dieses Fest völliger Schwachsinn ist? Angeblich wird an Weihnachten meine Wiedergeburt auf Terra gefeiert und deswegen eine Geschenkeschlacht veranstaltet. Aber was bitte sollten Tannenbäume damit zu tun haben? Die gab und gibt es in Galiläa überhaupt nicht! Eine einzige Heuchelei ist das. Drei Tage lang Friede, Freude, Eierkuchen – obwohl es hinter den Festtagsfassaden gehörig brodelt. Und wieso feiert man das Fest im Dezember, wenn ich doch im März geboren bin?«
Kalmes musste lachen. Der Gedanke, dass man hier auf Terra in Wirklichkeit ihren außerirdischen Lebensgefährten feierte ohne zu ahnen, dass er gerade unter ihnen weilte, amüsierte sie. Jesus von Nazareth alias Solaras alias Raschid alHaruni oder Joshua Goldberg konnte wahrlich als multiple Persönlichkeit gelten.
»Ach, sieh das doch nicht so eng. Die Menschen biegen sich immer und überall alles so zusammen, wie sie es gebrauchen können. Da vermag man schon mal alte Bräuche mit neueren Religionen zu mixen. Es geht mir persönlich um die Optik, ich mag eben Bäume.«
»Na schön, wenn du Wert darauf legst. Wir müssen beim Kauf nur genau darauf achten, dass sich keine dunkelhaarigen Männer mit Rucksäcken in der Nähe aufhalten. Ich habe gehört, dass es einige Selbstmordattentate an Orten gegeben hat, die mit Weihnachten zu tun hatten. Zum Beispiel letztes Jahr, auf dem Frankfurter Weihnachtsmarkt. Da hat die Detonation sogar jede Menge unschuldiger Kinder erwischt.«
»Stimmt, wir sind besser vorsichtig. Doch schwarzhaarige Menschen zu umgehen, wird zunehmend schwieriger. Dieses Land quillt vor Migranten aus dem Nahen Osten über. Blonde, hellhäutige Typen haben bereits Seltenheitswert, auch weil sich die Rassen vermischen und das Dunkle genetisch meist dominiert. Ich finde das übrigens ein bisschen schade. Dabei geht Vielfalt verloren, die die Evolution über Jahrtausende hinweg aufgebaut hat.«
»Haarfarben und Hautpigmente sind aber noch das geringste Problem, das ich damit habe. Für mich ist es hart mitanzusehen, was aus meiner und Mohammeds Lehre geworden ist. Mein Lebenswerk wird da mit Füßen getreten. Auch scheinen die beiden Religionen keineswegs kompatibel zu sein, obwohl sich Koran und Bibel in wichtigen Punkten kaum unterscheiden. Von Bombenattentaten, Weihnachtsgänsen, Lichterbäumen und Kopftüchern oder gar Burkas steht jedenfalls nichts in den Heiligen Büchern«, sagte Solaras betrübt.
»Das ist richtig. Aber wir müssen nach vorne sehen, dürfen nicht ständig auf Vergangenes zurückblicken und uns grämen. Hast du dich schon entschieden, welcher Sternwarte wir die Aufzeichnung auf unserem Holographen vorführen werden? Das sollten wir gleich zu Beginn des neuen Jahres in Angriff nehmen. Inzwischen sprechen wir schließlich beide gut genug
Deutsch, um Zusammenhänge erklären zu können.
Auch wenn wegen Alannas fatalem Hang zu Intrigen nicht vollständig sicher ist, ob wirklich bald ein Asteroid auf Terra einschlagen wird oder das Ganze nur meisterlich inszeniert war – wir müssen die Bevölkerung zumindest warnen. Es ist in jedem Fall angezeigt, Vorkehrungen für einen solchen Fall zu treffen. Das Weltall ist voll von vagabundierenden Brocken. Alles nur eine Frage der Zeit, wann sich einer von ihnen hierher verirren wird. Diese Gefahr unterschätzt man auf Terra bis dato noch.«
»Ein wahres Wort. Mit ein bisschen Glück werden die Astronomen erkennen, was an Fachkenntnissen in mir steckt. Und dann ade, Tankstelle. Ich habe im Internet recherchiert und würde am liebsten zum LeibnizInstitut für Astrophysik in Potsdam fahren. Die unterhalten mehrere Observatorien und sind Partner von Einrichtungen in Arizona, Teneriffa und der Antarktis. Das Institut forscht auf den Gebieten Astronomie und Astrophysik. Ich bin Wissenschaftler mit Leib und Seele, und als solcher würde ich mich endlich gerne wieder betätigen.«
*
Kalmes drehte sich vor dem Spiegel, betrachtete kritisch ihr Abbild. Wie fremdartig ihr das leuchtend sonnengelbe Gewand inzwischen doch vorkam! Solaras, der
sich ebenfalls in die traditionelle tiberianische Tracht geworfen hatte, erging es ähnlich.
»Wie gut, dass man jetzt im Januar auf Terra Mantel tragen muss. Wir würden sonst wohl auf der Straße ziemlich auffallen«, lachte der in Blau gekleidete Wissenschaftler.
»Stimmt. Aber glaubst du wirklich, dass unsere Gewänder die Story, die wir den Astronomen in Potsdam auftischen werden, glaubhafter erscheinen lassen?«, zweifelte Kalmes.
»Einen Versuch ist es wert. Eigens zu diesem Zweck haben wir sie ja mit auf unsere abenteuerliche Schlauchbootfahrt genommen, nicht wahr? Außerdem fühle ich mich so selbstsicherer, wieder mehr wie ein anerkannter Wissenschaftler.
Aaron und Levi hat einst die Ausstrahlung des Holographen tief beeindruckt, sie haben uns geglaubt. Wissenschaftler müssten eigentlich erst recht sehr daran interessiert sein, ihre rudimentären Kenntnisse über das Weltall zu erweitern und dankbar brisante Informationen von waschechten Außerirdischen anzunehmen. Unser andersartiger Blickwinkel auf dieses Sonnensystem müsste sie über die Maßen faszinieren. Ach, es wird schon gut gehen.«
»Das hoffe ich sehr.«
Es sollte bedauerlicherweise ganz anders kommen. Schon bei der Ankunft in der Sternwarte gab es die ersten Schwierigkeiten. Man wollte sie nicht ohne weiteres zum Leiter der Einrichtung vorlassen, sie borniert mit der Bemerkung abspeisen, sie sollten sich per EMail mit der für Presseund Öffentlichkeitsarbeit zuständigen Dame in Verbindung setzen. Es war nur Solaras‘ Hartnäckigkeit zu verdanken, dass sie am Ende doch noch bei der Sekretärin des Wissenschaftlichen Vorstandes ihre Bitte um einen Gesprächstermin vortragen durften.
»Wir sind extra aus Köln angereist. Er wird doch eine halbe Stunde für uns erübrigen können? Es geht um eine Entdeckung globaler Tragweite«, bemerkte Solaras trocken.
Die Dame blickte säuerlich drein, wirkte desinteressiert. »Wir haben hier öfters mit Hobbysternguckern zu tun, die meinen, einen neuen Himmelskörper entdeckt zu haben. Da wären Sie beileibe nicht der erste!«
Solaras zog den Holographen aus dem Stoffbeutel. »Um so etwas geht es doch gar nicht. Auf diesem Gerät befindet sich die Simulation eines Asteroideneinschlags mitsamt den zugehörigen Daten, wie er sich in der – in kosmischen Zeitdimensionen gesehen – nächsten Zukunft hier auf der Erde ereignen wird.«
»Ach so … und das wissen Sie … aus welcher Quelle?«, fragte die Sekretärin schnippisch.
»Verzeihen Sie, aber darüber würde ich gerne mit jemandem reden, der wissenschaftlich ausgebildet ist«, gab der Tiberianer bissig zurück. Er war am Ende seiner Geduld angelangt.
Die Tür zum Allerheiligsten öffnete sich einen Spalt, und der Wissenschaftliche Leiter steckte den Kopf heraus. Die hitzig geführte Diskussion in seinem Vorzimmer war ihm offensichtlich nicht verborgen geblieben.
»Was gibt es hier?«
Die Sekretärin schnaubte wie ein wütendes Walross. »Diese mir nicht bekannten Herrschaften hier behaupten … «
»…dass sie sehr wichtige Informationen für Sie und Ihre Kollegen haben«, beendete Solaras den Satz. Das kobaltblaue Wissenschaftlergewand schien ihm tatsächlich Selbstbewusstsein zu verleihen. Er entledigte sich demonstrativ seines Mantels, und Kalmes tat es ihm nach.
Der Mann trat vollends ins Vorzimmer, taxierte die beiden Besucher in den farbigen Gewändern erstaunt von oben bis unten. Die Sekretärin räusperte sich, grinste hochmütig.
»Sie tauchen hier in Karnevalskleidung auf und erwarten, dass man Sie ernst nimmt?«
Solaras ließ sich nicht beirren. »Das ist auf dem Planeten, von dem wir kommen, die Bekleidung der Wissenschaftssektion, ergo Ihres Standes. Meine Begleiterin ist dort eine angesehene Dozentin und trägt daher Gelb. Die Farbe unserer Gewänder zeigt die Sektionszugehörigkeit an.«
Missbilligendes Kopfschütteln.
Die Tiberianer merkten, dass sie mit Reden nicht weiter kamen. Verstohlen aktivierte Solaras den Holographen, was die beiden Ignoranten mit einem erschrockenen Keuchen quittierten. Wie damals auch Aaron und Levi, wähnten sie sich urplötzlich umgeben vom Weltall, welches aus undurchdringlicher Schwärze zu bestehen schien.
Als der bedrohlich aussehende Asteroid schließlich in einem Flammenmeer durch die Erdatmosphäre raste, wimmerte die Sekretärin, die inzwischen merklich an Arroganz verloren hatte, wie ein kleines Kind. Der Wissenschaftliche Leiter wirkte wie paralysiert, er drehte die Augäpfel heraus.
Die eindrucksvolle Show war kurz darauf zu Ende. Die überrumpelten Terraner brauchten eine Weile, bis sie sich wieder gefangen hatten. Beide waren ein wenig blass um die Nase.
»Ich muss schon sagen! Etwas Vergleichbares habe ich in der Tat noch nie zuvor gesehen«, krächzte der terrestrische Professor. »Was sind Sie wirklich – ein Entwickler für PCGames oder ein FXSpezialist aus der Filmindustrie? Ich werde Ihre Vorführung gerne im Gedächtnis behalten und Sie informieren, wenn wir eine gelungene Simulation zu Unterrichtszwecken oder für unsere Webseite gebrauchen können. Lassen Sie Frau Stenglein einfach Ihre Visitenkarte da. Und nun entschuldigen Sie mich bitte«, sagte er in versöhnlichem Ton. Er stand immer noch sichtlich unter dem Eindruck des Erlebten.
Solaras riss der Geduldsfaden.
»Nein, warten Sie! Ich bin kein FX … Dingsda. Bitte verzeihen Sie, dass wir uns noch nicht richtig vorgestellt haben. Wir hatten einen negativen Start und fangen einfach noch mal ganz von vorne an, ja?
Auch wenn das für Sie schwer zu akzeptieren sein muss – jedes Wort ist wahr. Wir beide kommen von einem zirka zweitausenddreihundert Lichtjahre entfernten Planeten namens Tiberia, der im CygnusSystem angesiedelt ist. Wir beherrschen die Raumzeitkrümmung und haben in der Vergangenheit wiederholt in die terrestrische Geschichte eingegriffen. Der Raumgleiter, mit dem wir direkt vom Mars hierher reisten, liegt in der Nähe der libyschen Stadt Darna unter Wüstensand begraben. Ich heiße Solaras, bin meines Zeichens Raketenwissenschaftler. Das hier ist meine Lebensgefährtin Kalmes, eine angesehene Dozentin für Bildung und Ideologie.
Was Sie vorhin beobachtet haben, war die holographische Simulation eines fatalen Asteroideneinschlags, und zwar mitsamt sämtlichen Berechnungen, wie er sich in einigen Jahrhunderten zutragen wird. Wir wollen die Erdbevölkerung warnen, damit sie rechtzeitig Vorkehrungen treffen kann, die Katastrophe abzuwehren.«
Der Professor und seine Vorzimmerdame sahen sich für einen Augenblick verblüfft an, dann lachte der Wissenschaftliche Leiter schallend los.
»Jetzt reicht es mir aber. Auch wenn Ihre alberne Vorstellung recht amüsant ist, muss ich jetzt weiterarbeiten. Sie sollten sich überlegen, wem Sie diesen frei erfundenen Schwachsinn zeigen. Ich finde es übrigens verwerflich, aus Spaß und Tollerei mit den Ängsten der Menschen zu spielen. Auf Wiedersehen!« Mit dieser süffisanten Bemerkung verschwand er kopfschüttelnd in seinem Büro, schlug die Tür hinter sich zu.
»Sie haben es gehört! Wir müssen heute auch noch einiges Sinnvolle tun. Ich darf Sie also bitten …?«, blaffte die Sekretärin unfreundlich und wandte den Blick demonstrativ auf den Monitor vor ihrer Nase.
Ein paar Minuten später standen die Tiberianer draußen auf der Straße. »Solche eitlen Ignoranten! Manchmal frage ich mich ernsthaft, ob die Terraner einen verheerenden Asteroideneinschlag nicht doch verdient hätten«, schimpfte Solaras mit gerunzelter Stirn. Er sperrte das kleine Elektroauto, einen Renault Zoe, auf. Sie hatten sich den Wagen erst vor einem Monat gebraucht zugelegt.
»Wir dürfen wegen einem ersten Misserfolg nicht gleich aufgeben«, warnte Kalmes. »Lass es uns bei einer kleineren Sternwarte versuchen. Vielleicht sind die Mitarbeiter dort nicht ganz so borniert. Wir sollten die zwei Tage Urlaub nutzen und noch weitere Institute mit unserer Aufzeichnung belästigen.«
Die InternetSuchmaschine lieferte eine Vielzahl von Eintragungen auf Solaras‘ Smartphone. Es gab Vereine, Stiftungen und jede Menge Privatpersonen, die ihre neugierigen Blicke über kleine und mittelgroße Observatorien gen Himmel richteten. Anstatt kreuz und quer durch die Bundesrepublik zu fahren, entschlossen sich die Außerirdischen, systematisch vorzugehen und suchten sich deshalb ausschließlich Einträge in der weiteren Umgebung von Potsdam heraus.
Die Reaktionen der Berufsund Hobbyastronomen in den Sternwarten Berlin, Demmin, Oranienburg, Prenzlau, Rostock und Stralsund waren ähnlich derer in Potsdam. In einer Einrichtung beschimpfte man die Tiberianer gar als ›lächerliche Kasper‹, die sich zum Teufel scheren sollten, anstatt einen ehrbaren Berufsstand mit voller Absicht in den Dreck zu ziehen.
»Über die Kleiderwahl sollten wir lieber nochmal nachdenken«, brummte Kalmes und parkte den Renault kurzentschlossen vor der Filiale einer Bekleidungskette.
*
Völlig entmutigt und todmüde kamen die missverstandenen Tiberianer am späten Nachmittag des zweiten Tages der Rundreise bei einer kleinen Privatsternwarte
namens Adlerhorst an. Ein findiger Hobbyastronom hatte die Observationskuppel kurzerhand auf den Neubau seines Einfamilienhauses in der Uckermark gesetzt, empfing die beiden Besucher mit offenen Armen.
»Sie hatten vorhin angerufen, nicht wahr? Gestatten, Rainald Hemmauer. Kommen Sie, ich zeige Ihnen mein Reich und stelle Ihnen meine Frau vor. Danach können wir bei einem Bierchen in Ruhe über Ihre sensationelle Entdeckung reden«, plauderte der launige, ungefähr sechzigjährige Mann mit dem dichten Vollbart. Sie betraten eine breite Diele, von der aus Zimmertüren in alle Himmelsrichtungen abgingen und eine metallene Wendeltreppe unters Dach führte. Die weiß gestrichene Diele mit dem ebenfalls weißen Fliesenboden wirkte ein wenig steril. Vermutlich waren die Hausherren erst vor kurzem hier eingezogen. Persönliche Gegenstände, die das Haus zu einem Heim gemacht hätten, fehlten noch.
»Es war gar nicht so einfach, das hier zu ermöglichen. Hat eine Stange Geld gekostet. Kuppel, Teleskop, Montierung und Betonsäule benötigen ein massives Fundament, damit nachher die Gesamtkonstruktion möglichst steif und schwingungsarm ist. Dafür mussten wir eine zwanzig Zentimeter starke Stahlbetonplatte verwenden, die auf das Treppenhaus aufgelegt wurde und bereits die Armierung für die Betonsäule des Teleskops bereitstellte«, referierte Rainald Hemmauer voller Besitzerstolz. Sie stiegen hintereinander die Metalltreppe hinauf, welche unter der Belastung vibrierte. Oben angekommen, offenbarte sich eine völlig andere Welt. Neben der, verhältnismäßig kleinen, Observationskuppel gab es ein großzügiges Zimmer mit Dachflächenfenstern, das mit einem Schreibtisch, einer Computeranlage, einem sehr bequem aussehenden braunen Ledersessel und raumhohen Bücherregalen ausgestattet war. Darin stapelten sich unordentlich Bücher, Skripten, Rollen und Stapel mit Blättern, die zum Teil auch überall auf dem Fußboden verteilt waren. ›Das gemütliches Refugium eines Individualisten‹, dachte Solaras.
»Zum Ärger meiner Frau verbringe ich die Freizeit meistens hier oben. Das ist mein Allerheiligstes«, enthüllte Rainald augenzwinkernd.
Kalmes studierte aufmerksam die Buchrücken, während ihr Gefährte sich mit dem ambitionierten Sterngucker unterhielt. Die Titel gaben durchaus Anlass zur Hoffnung. Asteroids, Erde in Gefahr, Die Bedrohung aus den Tiefen des Alls, stand da unter anderem zu lesen. Der Hobbyastronom hatte sich also zumindest bereits mit dem einschlägigen Thema befasst; anscheinend sogar ausgiebig, die Bücher wirkten abgegriffen. Man konnte sich mühelos vorstellen, wie Rainald hier oben stundenlang in den klaren Himmel blickte, Sternkarten studierte oder gemütlich in den dicken Bänden schmökerte. Vermutlich bekam ihn seine Frau nicht allzu oft zu Gesicht.
»Dieser Kuppelraum, der mein Teleskop beherbergt, ist letztes Jahr als erster fertig geworden. Das restliche Haus haben wir quasi drum herum gebaut. Damit habe ich mir einen jahrzehntelangen Traum erfüllt«, strahlte er mit blitzenden Augen.
»Und was für ein Gerät tragen Sie da so behutsam unter dem Arm? Hat das mit der Sensation zu tun, die Sie mir versprochen hatten?«
»Und ob! Sollen wir gleich loslegen?«
»Später. Meine Frau hat ein bescheidenes Abendessen vorbereitet. Es kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass sich ein fachkundiger Kollege in diese abgelegene Gegend verirrt. Wir verfügen über ein Gästezimmer. Sie können gerne darin übernachten, falls es heute spät werden sollte«, sagte der Bärtige mit einem gewinnenden Lächeln und geleitete seine Besucher höflich zur Wendeltreppe.
»Das wird nicht gehen. Wir müssen beide morgen Nachmittag in Köln wieder arbeiten und somit noch in der Nacht zurückfahren. Aber danke für Ihr nettes Angebot. Nach den bitteren Erfahrungen mit anderen Sternwarten sind wir schon froh, wenn uns überhaupt jemand zuhören möchte.«
»Ja ja, der berüchtigte Standesdünkel der hochdotierten Wissenschaftler. Den kenne ich nur zu gut«, grinste Hemmauer, verdrehte die Augen und lotste die Tiberianer ins Esszimmer.
»Rainald, nervst du die bedauerlichen Leute etwa schon wieder mit den wilden Geschichten über deine Entdeckung des winzigen Lichtpünktchens?« Eine korpulente Frau mit rotem schulterlangem Lockenhaar und Sommersprossen im Gesicht kam grinsend aus der Küche, wischte sich die Hände an der Schürze ab.
»Mensch, Marit – du sollst das doch nicht immer ins Lächerliche ziehen. Das ist höchstwahrscheinlich ein noch nicht katalogisierter Planet und kein ›Lichtpünktchen‹!« Rainald knuffte seine Frau zärtlich in den Oberarm. Die zuckte mit den Schultern und verschwand in der Küche, um kurz darauf mit einem dampfenden Topf wieder aufzutauchen. Auf den Unterarmen balancierte sie noch zusätzlich ein geflochtenes Körbchen mit geschnittenem Weißbrot.


