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»Nehmen Sie bitte schon mal Platz. Ich hoffe, Sie mögen Chili. Ich habe das Gericht nicht zu scharf gewürzt, da ich Sie und Ihre Vorlieben ja nicht kenne. Was darf ich Ihnen zum Trinken anbieten?«
Nach dem Essen und jeder Menge Smalltalk kam Solaras ohne weitere Umschweife zum Wesentlichen. Allerdings erst, nachdem Marit Hemmauer gegangen war und wieder geschäftig in der Küche werkelte. Er erzählte Rainald dieselbe Geschichte, die er schon in Potsdam zum Besten gegeben hatte; allerdings trugen er und Kalmes nun normale terrestrische Kleidung.
Rainald stand der Mund offen.
»Äh … ich hatte ja einiges erwartet, doch das …!«
»Nur zu, zweifeln Sie ruhig. Das ist verständlich. Aber würden Sie mir den Gefallen tun, sich zunächst die Aufzeichnung auf meinem Holographen anzusehen? Sie spricht für sich.«
»Ihrem was?«
»Meinem Holographen. Ich würde Sie bitten, dafür mit uns nach oben zu gehen. Ihre Frau … nun, sagen wir, sie könnte sonst hinterher ein bisschen verstört sein.«
Die Wangen des Hobbyastronoms röteten sich. »Jetzt haben Sie mich neugierig gemacht. Na klar, gehen wir also ins Observatorium. Marit taucht dort so gut wie niemals auf. Sie toleriert mein Hobby zwar halbwegs, aber teilen oder gar verstehen kann sie es offenbar zeitlebens nicht. Wir haben mit den Jahren eine Art Waffenstillstand erreicht. Ich darf nach Herzenslust HansguckindieLuft spielen, sie dafür zweimal pro Woche in ihren sauteuren Yogakurs gehen.«
Solaras stellte das Gerät mitten in Rainalds Hobbyraum, aktivierte es. Schon als sich die samtene Schwärze überall ausbreitete, musste der Gastgeber sich mit weit aufgerissenen Augen hinsetzen. Sein Gesicht sah aus, als würde er jeden Augenblick einen Schlaganfall erleiden.
Der Asteroid rauschte an ihm vorbei. »Das ist … das ist … «, stammelte er. Mehr brachte er nicht heraus. Nach dem dumpfen Einschlag hob er unwillkürlich die Füße von der brennenden Erdoberfläche, stellte sie auf die Vorderkante des Sessels und umschlang die Knie mit den Armen.
Die Vorstellung war vorüber. Rainalds Hände zitterten, doch die Augen strahlten. »Und das blüht der Erde tatsächlich? Du meine Güte … ich habe erkannt, woher der Asteroid geflogen kam. Die Sonne muss ihn wohl lange vor irdischen Blicken verborgen haben, er war wie ein Geisterfahrer unterwegs. Das für die Asteroidensuche eigens letztes Jahr reaktivierte Infrarotteleskop Wise würde ihn viel zu spät entdecken. Kann man die Datenfolgen auch ohne die restliche Aufzeichnung abspielen?«, japste Hemmauer ergriffen.
Solaras zog ein paar Blatt Papier aus seiner Tasche. »Natürlich. Ich habe sie in ausgedruckter Form mitgebracht. Sie sind übrigens der Erste, der sich mit der Möglichkeit befassen will, dass wir die Wahrheit sagen. Mithilfe der Berechnungen können Sie die Flugbahn anhand Ihrer Himmelskarte nachvollziehen. Vielleicht verstehen Sie jetzt, weshalb wir die Terraner … also, die Erdbevölkerung, warnen wollen. Die berechtigte Frage ist nur: Wie sollen wir das bewerkstelligen? Und werden Sie uns dabei helfen?«
Hemmauer antwortete spontan. »Selbstverständlich, unbedingt! Leute … entweder seid ihr und dieser Asteroid die Entdeckung des Jahrhunderts, oder ich bin soeben auf den besten Schwindel ever hereingefallen. Wann soll das Ding auf der Erde einschlagen?«
»Nicht zu unseren Lebzeiten, es dauert noch ein paar Generationen. Berechnet ist der 5. April 2272 hiesiger Zeitrechnung. Aber wirksame Vorkehrungen zur Abwehr dieses Planetenkillers kann man ja kaum von heute auf morgen treffen, da sind hundert Jahre schneller vorbei als man denkt.«
»Stimmt! Es müssen erst neue Technologien entwickelt oder Evakuierungsmöglichkeiten für die Menschen geschaffen werden. Man muss so früh wie möglich damit anfangen, Möglichkeiten auszuloten.
Klar … ich helfe euch, die Gefahr publik zu machen. In der offiziellen Fachwelt werden wir allerdings nicht weit kommen. Mein Ruf dort ist … hm … nicht der beste. Dieses Schicksal teilen die meisten Amateurastronomen, sie werden eher belächelt als dass man sie ernst nehmen würde. Wir sollten uns besser der sozialen Netzwerke sowie You Tube bedienen, um die Sache innerhalb kürzester Zeit auf breiter Front in die Öffentlichkeit zu tragen.
Irgendwann müssen sich dann auch die renommierten Wissenschaftler damit befassen, schon weil sie äußerst interessiert daran sein werden, die vermeintlich getürkte Aufzeichnung zu widerlegen – was ihnen gleichwohl kaum gelingen dürfte. Ich überlege mir was! Bierchen gefällig?«
Halbwegs zufrieden, aber total erschöpft, fuhren Kalmes und Solaras nach ausgiebigem Brainstorming und zwei Bieren in den frühen Morgenstunden nach Hause. Es ging auf der reifglatten Straße nur langsam voran. Die Fahrt und der nachfolgende Arbeitstag versprachen hart zu werden.
Terra, 19. Juli 2028 nach Christus, Mittwoch
Zum dritten Mal an diesem Tag bebte die Erde am Golf von Neapel. Um 11:28 Uhr Ortszeit begann der Boden zu zittern, im Hafenbecken kräuselten sich die Wellen im Rhythmus der Erschütterungen. Die Einwohner der Großstadt schraken auf, blieben wie gelähmt auf der Straße stehen oder unterbrachen ihre jeweilige Tätigkeit. Mancherorts fielen lockere Dachziegel zu Boden.
Furcht machte sich in der Bevölkerung breit. In den Nachrichtensendungen diskutierten sich renommierte Seismologen die Köpfe heiß, ob die jüngste Serie von Schwarmbeben und die sechs stärkeren Ereignisse mit einer Magnitude zwischen 3,1 und 4,7 auf der Richterskala seit vergangenem Freitag als Vorboten von etwas weitaus Schlimmerem zu bewerten seien. Manch ein Bewohner Neapels überlegte bereits, ob er seine Familie aus der bedrohten Stadt schaffen sollte.
Unter solchen Umständen erinnerten sich die Leute schlagartig daran, dass man eigentlich in einer brandgefährlichen Gegend lebte. Direkt am westlichen Stadtrand begannen die Phlegräischen Felder, eine Gegend von rund hundertfünfzig Quadratkilometern Durchmesser mit extrem hoher vulkani scher Aktivität, die sich unterseeisch bis zu den Inseln Ischia, Procida und Nisida fortsetzte. An Land gab es Thermalquellen und Fumarolen, giftige Schwefeldämpfe stiegen an zahlreichen Stellen auf und färbten das Gestein gelb. Die bestens erhaltenen Ruinen von Pompeji legten ein beredtes Zeugnis davon ab, wozu der Vesuv fähig war.
Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts war durch ein internationales Konsortium von namhaften Vulkanologen festgestellt worden, dass der aktive Vulkan und die besagten Phlegräischen Felder eine gemeinsame Magmakammer besaßen, deren gewaltiger Umfang das gesamte Gebiet zu einem sogenannten Supervulkan machte. Seit dem Jahr 2012 hatten die Forscher zudem verstärkte unterirdische Aktivitäten festgestellt, weshalb der italienische Zivilschutz die Warnstufe für das Gebiet dauerhaft erhöht hatte.
Bis vor ein paar Wochen hatte diese Tatsache niemanden in besonderem Maße geängstigt. Die mehr als eine Million Neapolitaner lebten seit Generationen mit der abstrakten Gefahr, sie liebten ihre Stadt über alles. Doch nun, da die Erdbeben den Boden unter ihren Füßen schwanken ließen, erinnerten sie sich unangenehm an die Schauergeschichten ihrer Großeltern, die im Jahr 1944 einen leichteren Ausbruch des Vesuvs miterleben hatten müssen. Seither schlummerte der trügerische Feuerberg, zierte das Panorama der Postkarten Neapels. Kündigte sich nun eine neue Phase der Aktivität an?
Man benötigte eine Vorwarnzeit von mindestens zwei Wochen, um sämtliche Einwohner des dicht besiedelten Gebietes im Rahmen des Il Programma Vesuvìa – la scelta possibile zu evakuieren. Touristen aus aller Herren Länder, die beim entspannten Stadtbummel die PiktogrammSchilder zur Markierung der Fluchtwege entdeckten, verspürten meist kribbelnde Schauder, die ihnen die Wirbelsäule entlang liefen – und vergaßen dieses beunruhigende Gefühl der latenten Gefährdung gleich wieder, sobald sie sich bei strahlendem Sonnenschein und einem lauen Sommerlüftchen in einem der vielen Straßencafés niederließen. Jedenfalls war das bis zu jener Woche im Juli 2028 so gewesen.
Zum Zeitpunkt des neuerlichen Erdbebens befanden sich auch Solaras und Kalmes in Neapel. Sie warteten am Bahnhof Napoli Centrale auf den Nachtzug, der sie in rund einer halben Stunde über Rom zurück nach Deutschland befördern sollte.
Seit sich die Simulation des zu erwartenden Asteroideneinschlags mit Rainald Hemmauers Hilfe über YouTube, Instagram und ähnliche Plattformen im Netz verbreitete, wurden die beiden ehemaligen Tiberianer gelegentlich von Sternwarten zu Gesprächen eingeladen. Meist allerdings leider nicht, weil die dort arbeitenden Astronomen der Warnung vor dem Asteroid Glauben schenken wollten, sondern weil sie die tolle Machart des wirklichkeitsgetreuen 3DFilms brennend interessierte. Wie schon damals in Potsdam, so konnte man sich auch andernorts eine Verwendung dieser Technik für Seminare und Kurse für Studenten vorstellen.
Insgesamt fiel das Echo im Internet bislang frustrierend aus. Jede Menge abgedrehte Endzeitjünger, selbst ernannte Katastrophenpropheten und andere Spinner kontaktierten Solaras und Kalmes, nur die wenigsten Zuschriften waren ernst zu nehmen. Als die schriftliche Anfrage des Osservatorio Astronomico di Capodimonte Napoli aus Italien gekommen war, hatte Solaras achselzuckend zu seiner Gefährtin gesagt:
»Komm, lass uns einfach hinfahren. Italien muss wunderschön sein zu dieser Jahreszeit. Ich gebe die Hoffnung immer noch nicht auf, dass ich in solch einer Einrichtung einen Job finden könnte. Es muss doch zwei, drei Leute geben, die mich als Wissenschaftler gebrauchen könnten, meinen Wert erkennen. Ich habe es längst satt, dauernd nur schlecht bezahlte Hilfsjobs anzunehmen. Warum sind den Terranern nur Papiere so immens wichtig? Ich wollte, mich würde mal jemand auf die Probe stellen, anstatt wichtigtuerisch Zeugnisse und Referenzen zu verlangen.«
Diese Hoffnung hatte sich auch auf dem Capodimonte nicht erfüllt. Dennoch, bis zu den beängstigenden Erdstößen vor einigen Minuten hatten sie den Trip nach Kampanien in vollen Zügen genossen.
»Hast du gesehen? An der Säule vor uns hat sich ein Riss gebildet. Es kam Staub von der Decke. Solaras, mir wäre lieber, wir würden im Freien auf dem Bahnhofsvorplatz warten. Es ist ja noch Zeit bis zur Abfahrt«, sagte Kalmes beunruhigt. Ihr Blick schweifte prüfend umher.
»Falls der Zug überhaupt noch fährt. Wir wissen nicht, ob bei dem Beben Gleise beschädigt wurden. Es war ganz schön heftig«, sinnierte Solaras voller Sorge.
In einem Pulk von weiteren, mehr oder weniger stark aufgeregten Fahrgästen strömten sie auf die Piazza Giuseppe Garibaldi hinaus. Man diskutierte gestikulierend, mutmaßte und fürchtete sich.
Plötzlich sorgte ein ohrenbetäubender, dumpfer Schlag, der die gesamte Stadt erzittern ließ, für banges Innehalten.
»Um Himmels willen, was war das denn?«, wisperte Kalmes erschrocken. Sie war im Gesicht kreidebleich geworden. Aller Augen richteten sich nach Südosten. Hochhäuser verstellten den Blick; die Einheimischen wussten jedoch sehr genau, dass dort der Vesuv über der Stadt thronte. Sirenengeheul ertönte, es kam augenblicklich Bewegung in die Massen.
Den FluchtwegMarkierungen zum Trotz, liefen die Leute in ihrer Panik wild durcheinander. Die einen wollten zu Hause nach ihren Lieben sehen, andere wiederum zur nächstbesten Ausfallstraße gelangen, nur möglichst weit weg vom Feuerberg. Innerhalb weniger Minuten bildete sich auf den Straßen eine unüberschaubare Blechlawine, die kein Fahrzeug mehr vorankommen ließ. Überall krachte Metall aufeinander. Niemand wusste, was da genau vor sich ging, nur dass sich etwas Katastrophales ereignet haben musste. Die Menschen in den Orten Ottaviano, Torre del Greco, San Giuseppe Vesuviano und San Giorgio a Cremano hingegen wurden zu unfreiwilligen Zeugen, wie der in der Magmakammer des Vulkans über die Jahre stetig angewachsene Druck den Pfropfen aus Gestein und erkalteter Lava durch den Vulkanschlot heraus schleuderte. Die gesamte Spitze wurde weggesprengt.
Danach stieg eine Eruptionssäule aus heißem Wasserdampf, Kohlenstoff und vulkanischem Auswurf über dem Kegel auf. Das 750 Grad heiße Magma spritzte mit Überschallgeschwindigkeit aufwärts, schwarze Lavabomben schlugen mit zweihundert Stundenkilometern in der Umgebung ein. Danach blies ein Gasstrahl das fein zerriebene Gestein der glühenden Schlotwände bis hinauf in die Stratosphäre. Der mäßig starke Wind trug leichtere vulkanische Produkte nach Südosten. Ein dichter Niederschlag aus Asche und Bimssteinen fiel auf die Häuser der umliegenden Ortschaften, tauchte die Landschaft in düsteres Grau.
Solaras und Kalmes stiegen geistesgegenwärtig in ein Taxi.
»Aus der Stadt, aber auf schnellstem Weg!«, kommandierte Solaras keuchend.
Der ältere Mann starrte nur teilnahmslos aufs Armaturenbrett, schüttelte immer wieder den roten Kopf. Er schwitzte stark, hyperventilierte. Draußen hallten Schreie der Verzweiflung durch die Straßen. Er stand wohl unter Schock.
»Haben Sie nicht gehört, was ich sagte? Sie sollen losfahren!«, schrie Solaras. Kalmes kauerte sich im Fond zusammen und wimmerte vor Angst.
Endlich drehte der Fahrer mit irrem Blick den Zündschlüssel, lenkte das Fahrzeug mit hektischen Bewegungen in Richtung der Ausfahrt. Doch dort war kein Vorwärtskommen. Ein Auto reihte sich an das andere, nahezu jedes hupte. Alle wollten nach Westen, weg vom Vulkan. Sie konnten ja nicht ahnen, dass genau dort, in den Phlegräischen Feldern, aus mehreren Eruptionsherden ebenfalls grell leuchtende Feuerfontänen gen Himmel stiegen. Die Ortschaft Pozzuoli war bereits verloren.
Solaras sprang kurz entschlossen aus dem Taxi, zog seine Begleiterin vom Rücksitz. Er packte ihre Hand, begann zu rennen. »Es hat keinen Sinn, wir müssen zu Fuß fliehen! Uns wird nur wenig Zeit bleiben, die Stadt zu verlassen, vielleicht zwei bis drei Stunden. Wir sollten uns nach Norden wenden, dort liegt meines Wissens der Flughafen. Ich habe allerdings keine Ahnung, ob dort noch Maschinen starten können. Vulkanasche kann die Triebwerke der Jets lahmlegen.«
Am Nachmittag, etwa fünf Stunden nach dem Beginn des Ausbruchs, war Neapel mit einer mehr als fünfzig Zentimeter dicken Schicht vulkanischen Materials bedeckt, und die Dächer der halbverlassenen Stadt begannen einzubrechen. Der leer geschossene Schlot des Vulkans stürzte mehrfach ein und wurde anschließend durch heftige Explosionen wieder freigeräumt. Die AscheEruptionen steigerten sich, in der Stadt fiel der Strom aus. Kalmes und Solaras hatten ihre dünnen Sommerjacken über die Köpfe gezogen, atmeten durch Papiertaschentücher.
Gegen Mitternacht, etwa zwölf Stunden nach dem Beginn, erreichte die erste Eruptionsphase ihren Höhepunkt. Sie war von heftigen vulkanischen Erdbeben begleitet, die viele Häuser vollends zum Einsturz brachten. Ein wolkenbruchartiger Eruptionsregen an der Westflanke des Feuer speienden Vulkans verwandelte die scharfkantigen Aschepartikel in zerstörerische Schlammströme, auch Lahare genannt. Sie ergossen sich zu Tal und vernichteten alles, was in ihrem Weg lag.
Ein erster pyroklastischer Strom überrollte mit achthundert Stundenkilometern den Südosten Neapels und tötete zahlreiche Menschen, die am Ufer der Bucht Schutz gesucht hatten. Alle verfügbaren Boote waren gleich zu Beginn der Katastrophe in See gestochen, um dem Feuerinferno zu entkommen. Die zurückgebliebenen Leute saßen in der Falle, vor sich den tobenden Vulkan und hinter sich die aufgewühlte See. Beim schweren Ausbruch im Jahr 79 nach Christus war Ähnliches im benachbarten Herculaneum geschehen – nur mit erheblich weniger Menschen.
Der Zusammenbruch der Eruptionssäule generierte mehrere Phasen. Er erzeugte fünf mit schwerem Material stark gesättigte, glühend heiße Ströme, deren schiere Wucht die aus den Fallablagerungen herausragenden Häuser zerstörte und den allerletzten Überlebenden im östlichen Teil Neapels und den Dörfern rings um den Krater den schnellen Tod brachte. Die Ausgrabungsstätte von Pompeji erlebte ein schreckliches Déjàvu.
Solaras und Kalmes waren über die Via Arenaccia und die Calata Capodichino in Richtung des Internationalen Flughafens geflüchtet. Um sie herum tobte ein Meer aus Fahrzeugen, zusammenbrechenden Gebäuden und aschgrauen Menschen, die kraftund ziellos umherirrten. Es gab auch zu Fuß nahezu kein Vorwärtskommen. Verlassene Autos standen mit offenen Türen mitten auf der Fahrbahn, die mittlerweile mehr an einen unstrukturierten Parkplatz erinnerte.
Die Zufahrt zum Flughafen kam im Morgengrauen in Sicht. Als die erschöpften Tiberianer dort voller Entsetzen feststellen mussten, dass der Flugbetrieb längst eingestellt war und das Passagierterminal, verlassen und seiner riesigen Fensterscheiben beraubt, nutzlos und völlig verwaist im gelblichen Zwielicht des Ascheregens lag, brach Kalmes weinend zusammen. Solaras kniete sich entkräftet neben sie, barg ihren Kopf in seinen Armen. Zärtlich strich er ihr mit einem Ärmel seines Hemdes den schmierigen grauen Belag vom Gesicht. Rehbraune, von Lachfältchen umgebene Kulleraugen sahen ihn forschend an.
»Bereust du, dass wir von Tiberia geflüchtet sind? Dort gäbe es keine Vulkane und auch keine Erdbeben«, fragte er.
»Nein. Wenn es so kommen soll, sterben wir hier eben zusammen. Ich liebe dich bis zu meinem Lebensende, das habe ich dir geschworen. Wenn es sein muss, auch jetzt gleich. Wir sind frei, Solaras, und wir kannten das Risiko. Am Ende muss man hier auf Terra immer bezahlen, das habe ich gelernt.«
Der sechste und zugleich letzte pyroklastische Strom bäumte sich in diesem Moment drohend hinter dem Flugfeld auf. Er überrollte nur Sekunden später als mächtige todbringende Glutwalze die beiden Liebenden.
Terra, 01. März 2051 nach Christus, Mittwoch
Thomas Maier saß nach seiner Augenoperation wieder den ersten Tag vor der riesigen, leicht gebogenen Plexiglasfläche, auf der sich, jetzt gestochen scharf, das Bild einer Marslandschaft erstreckte. Er hatte sich nach dem Willen seiner Ehefrau Sheila lasern lassen müssen, um seine altmodischen, dicken Brillengläser endlich loszuwerden. Das jahrzehntelange, angestrengte Starren auf herkömmliche Bildschirme hatte seinen Tribut gefordert.
Aktuell befanden sich acht Rover verschiedener Bauart auf der Marsoberfläche. Noch immer war das ideale Gefährt für Einsätze auf dem Roten Planeten nicht gefunden. Seit man dort regelmäßig Regenfälle verzeichnete, mussten die Dinger auch auf schlammigem Boden souverän zurechtkommen. Was besonders für bemannte Missionen galt.
Bei der fehlgeschlagenen NASA/ESAMarsmission Stepstone von 2038 waren zwei der Astronauten ums Leben gekommen, weil deren Fahrzeug an einem steilen Hang abrutschte, sich mehrfach überschlug und in einen Krater stürzte. Die beiden verunglückten Männer hatten auf dem Heimflug gefehlt, so dass der Rest der Crew mit der aufwändigen Routine an Bord überfordert gewesen war. Die übrigen zwei Männer und drei Frauen bezahlten das menschliche Versagen mit ihrem Leben.
Noch heute flog die Raumkapsel mit ihren fünf toten Insassen ohne Treibstoff durch die Weiten des Alls. Ein sehr unangenehmer Gedanke. Es verging kein einziger Tag, an dem Maier sich nicht bittere Vorwürfe machte, weil er sich selbst eine kleine Teilschuld anrechnete. Vielleicht wäre das Unglück zu vermeiden gewesen, wenn er rechtzeitig andere Kommandos gegeben hätte …
Ein junger Kollege riss ihn unsanft aus seinen schwermütigen Überlegungen. »Stimmt es, was ich heute früh auf dem Flur aufgeschnappt habe? Du willst heuer noch in Rente gehen?«
Maier drehte sich gemächlich auf seinem altersschwachen Bürostuhl um. Das gut dreißig Jahre alte Möbelstück knarzte und ächzte unter seinem Gewicht. Thomas Maier weigerte sich seit Jahren, einen der moderneren und wirbelsäulenfreundlichen Sitzbälle anzufordern. Er galt bei der ESA als verschrobenes Urgestein, das sich Innovationen meist verschloss und mit altbackenen Klamotten umher lief. Alles Moderne beäugte er skeptisch – es sei denn, es ging um Technik.
»Von Wollen kann gar keine Rede sein. Man hat es mir … sagen wir, nahe gelegt, und Sheila piesackt mich auch andauernd. Es wäre besser für meine Gesundheit, meint sie.«
»Da hat sie nicht ganz Unrecht. Dir fehlt Bewegung, wie man sieht. Bald können wir dich rollen«, grinste Will Urban.
Thomas Maier hatte noch nie zu den Schlanksten oder Sportlichsten gehört. Doch mittlerweile hatte sein Körper Ausmaße angenommen, die an ein fettes Nilpferd erinnerten. Dazu gingen ihm die Haare aus, nur ein dünner Kranz zog sich wie ein nach unten verrutschter Heiligenschein um seinen Hinterkopf. Dafür sprossen ihm dichte Haarbüschel aus Nase und Ohren, und sein ergrauter Vollbart reichte ihm bis auf die Brust.
»Komm du nur erst mal in mein Alter. Hundertfünfzig Kilo sind dann noch das Harmloseste, was du mit dir herumschleppen musst«, gab er milde lächelnd zurück. Er drehte sich um und richtete den Blick wieder auf die Plexiglasfläche. In der Mitte zeigte ein großes Bild die CydoniaRegion, während die sieben kleineren Ausschnitte rundum das übertragene Bildmaterial der anderen Rover wiedergaben.
Urban trat einen Schritt näher heran, kniff beide Augen zu Schlitzen zusammen. Kannst du mal auf Bild 4 umschalten? Ich habe da was Seltsames gesehen … bin nicht sicher, aber das sah wie eine Pyramide aus.«
»Ausgerechnet in der unwegsamen Xanthe Terra–Region? Eher unwahrscheinlich«, brummte Maier ungläubig, kam dem Wunsch aber nach.
»Potzblitz! Du könntest Recht haben. Der Laufrover Arachnon wird von Britt Ballwitz gesteuert. Du weißt schon, die rothaarige NASATante mit den Nippelringen, die man immer so schön durch das TShirt sehen kann. Könntest du schnell hinüber laufen und ihr sagen, dass sie das spinnenbeinige Ding weiter Richtung Nordost tappen lassen soll?«
»Wird erledigt!« Urban verschwand auf dem Flur.
Zehn Minuten später kam er zurück, seine grasgrünen Augen versprühten Funken. Thomas Maier bemerkte es gar nicht, er klebte mit der Nase an der Scheibe.
»Eindeutig von Menschen hergestellt, keine Frage. Endlich, wir haben so lange nach halbwegs erhaltenen Bauwerken der früheren Marskultur gesucht«, murmelte er erregt.
»Ich glaube nicht, dass diese Dinger uralt sind. Sie wirken zu intakt. Sieh doch hin! Auf der Oberfläche ist eine Art Muster zu sehen … ja, genau, die Blume des Lebens, wenn dir das etwas sagt.«
Maier blickte ihn verständnislos an.
»Stimmt ja, du interessierst dich nicht für Esoterik. Die sogenannte Blume des Lebens besteht aus sich überschneidenden Kreisen, als Sinnbild für die Verschmelzung des männlichen und weiblichen Prinzips. Die Überschneidungsmenge symbolisiert das neu entstandene Dritte … wenn du so willst, das Produkt der Verschmelzung, die nächste Generation. Mehrfach aneinandergereiht sehen die Überschneidungsmengen dann aus wie symmetrische Blütenblätter.«
»Ach so?«, staunte Maier. »Für mich wirkt das eher, als hätte jemand riesengroße Förmchen benutzt und den roten Marssand damit zusammengepresst, genau wie ein Kind im Sandkasten. Ich frage mich nur ernsthaft, wozu das Ganze dienen soll. Schwer vorzustellen, dass jemand symbolträchtige DekoObjekte von mangelhafter Haltbarkeit herstellen wollte. Wie viele sind das insgesamt? Ich zähle vier Stück – oder?«
Das Bild blieb auf einmal bewegungslos stehen. Die neunundzwanzigjährige Britt Ballwitz betrat den Raum. Ihre vielen bunten Tattoos verliehen ihr die Optik eines lebenden Bilderbuchs. Motive der alten Kultserie Star Trek verzierten ihre Arme und es sah von weitem aus, als stecke ein rosarotes Laserschwert in ihrem schlanken Hals.
»Hallo Jungs! Na, schon die starken Beruhigungspillen aus dem Schrank geholt?«, flachste sie.
»Dass du auch nie ernst bleiben kannst. Was meinst du zum Sinn und Zweck dieser Pyramidenstrukturen?«
Die Ballwitz verschränkte ihre Arme hinter dem Kopf, streckte sich, bis die Gelenke knackten. Will Urban beobachtete fasziniert, wie sich ihr sehenswerter Busen nach vorne reckte, die Ringe sich durch den Stoff ihres Shirts drückten. Sie bemerkte es, quittierte das offensichtliche Interesse mit einem Lächeln.


