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»Was da aussieht wie gepresster Marssand, muss wohl aus einem anderen, stabileren Material bestehen. Seht euch mal die Spitze der zuvorderst stehenden Struktur an, sie glänzt golden im Sonnenlicht. Also ist sie höchstwahrscheinlich aus irgendeinem Metall gefertigt.«
Drei Augenpaare richteten sich neugierig auf das obere Achtel der Strukturen. Maier atmete tief durch.
»Mensch, richtig analysiert! Dann handelt es sich vielleicht um eine Maschine, die nur mit diesen sandartigen Platten getarnt ist. Um ein Haar hätten wir sie übersehen. Man muss wirklich nah dran sein, um die Pyramidenformen in der gleichfarbigen Umgebung überhaupt zu erkennen. Aber könnten sie tatsächlich neueren Datums sein? Von uns stammen die Dinger definitiv nicht. Wartet mal, das würde ja bedeuten … «
» … dass sich außer uns noch jemand anderes auf dem Mars tummelt«, beendete Britt ungeduldig den Satz. »Diese Vermutung wird schließlich schon länger laut, weil wir uns die Entstehung der neuen, noch recht dünnen Atmosphäre nicht anders erklären können. Wenn man genau hinsieht, könnte man meinen, dass über den glänzenden Pyramidenspitzen besonders dichte Wolkenformationen hängen, nicht wahr?«
»Du meinst, da betreibt – wer auch immer – Marsforming? Das ist nun doch ein wenig weit hergeholt«, protestierte Urban.
»Wieso? Die Symbolik der Blume des Lebens würde perfekt dazu passen. Schließlich entsteht durch diese Maschinen etwas Neues für die nächste Generation«, sinnierte Thomas Maier.
Britt nickte, anscheinend war auch sie esoterisch bewandert. Anschließend verschwand sie wieder in ihrem eigenen Büro, um sich mithilfe von Arachnon noch näher heranzutasten. Das stellte sich jedoch als unmöglich heraus. Spitze, etwa fünf Meter hohe, dicht nebeneinander aufragende Felsnadeln versperrten dem Laufrover rundum den Weg, vereitelten ein sicheres Durchkommen.
»Wetten, diese spitzigen Scheißdinger sind auch nicht natürlichen Ursprungs«, knurrte Maier frustriert.
»Und wer, glaubst du, könnte sich da oben herumtreiben? Wir hätten es doch sicher gemerkt, wenn sich jemand heimlich von der Erde aus zum Mars aufgemacht hätte.«
»Ha, den Russen traue ich alles zu. Wer weiß, was die in der Abgeschiedenheit Sibiriens alles ersonnen und getestet haben, ohne dass der Westen Wind davon bekommen hat. Hoffentlich irre ich mich«, seufzte der Astrophysiker und faltete die Hände über seinem feisten Schmerbauch.
Terra, 26. Oktober 2116 nach Christus, Montag
Wütend schmetterte der fünfunddreißigjährige Philipp André Emmerson die Küchentür aus Hartplastik hinter sich zu. Er hatte die ständige Jammerei seiner um drei Jahre jüngeren Ehefrau allmählich satt. Besonders nach anstrengenden Tagen wie diesem konnte er alles gebrauchen – nur eben keine leidigen Diskussionen um dieses immer gleiche Thema. Seine Swetlana wollte auf Biegen und Brechen eine der neumodischen Mediatapeten kaufen, die seit einiger Zeit den Markt revolutioniert hatten. Weil inzwischen angeblich jeder Haushalt eine besaß.
Die arbeitslose Frau dachte gar nicht daran, ihn in Frieden seinen wohlverdienten Feierabend genießen zu lassen. Nach dem Vollzeitjob in der städtischen Kläranlage arbeitete Philipp nebenbei noch als Hausmeister für die total heruntergekommene Wohnanlage in BerlinNeukölln, in der sie wohnten. So sparte er einen Teil der Miete.
Das einstmals todschicke, siebzehnstöckige Apartmenthaus war 2031 in der Hoffnung erbaut worden, aus dem Kiez Neukölln nach und nach ein Wohnviertel für Gutbetuchte zu machen. Die Stadtväter hatten damals alles drangesetzt, die sozialen Brennpunkte zu entschärfen und der Hauptstadt wieder zu einem besseren Ruf zu verhelfen. Täglich negative Schlagzeilen, das war irgendwann untragbar geworden.
Die Rechnung war allerdings nicht im Geringsten aufgegangen. Zuerst waren die elf neu erbauten Luxuswohnblocks jahrzehntelang nahezu leer gestanden, dann hatte man die geräumigen Apartments notgedrungen in kleine Sozialwohnungen umgestaltet. Dazu waren einfach weiße Plastikcontainer, die je eine vollmöblierte KleinstWohneinheit von ungefähr vierzig Quadratmetern enthielten, in die Apartments eingebaut worden. Seither lebten im Stadtteil Neukölln, wie eh und je, die sozial Schwachen, viele Migranten und gescheiterte Existenzen auf engstem Raum zusammen.
Heute hatten die Anrufe und das Klingeln an der Türe der Emmersons kein Ende nehmen wollen. Eine kaputte Glühbirne im Treppenhaus, ein klemmendes Fenster, ein versehentlich ausgelöster Feueralarm, eine rüde Prügelei unter Nordafrikanern im Eingangsbereich, ein umgekippter Müllcontainer … er war am Ende seiner Kräfte. Seine depressive Erkrankung machte sich in letzter Zeit wieder stärker bemerkbar.
Nun stand seine Frau erneut mit verschränkten Armen im Türrahmen, zog ein ärgerliches Gesicht. »Du musst ja schließlich nicht den ganzen Tag hier herumsitzen, darauf warten, dass der Tag vorüber geht und dich langweilen«, meckerte sie vorwurfsvoll.
»Dann geh gefälligst spazieren oder suche dir sonst irgendeine Beschäftigung. Zum Beispiel könntest du hier drin wieder mal gründlich sauber machen«, gab er wütend zurück.
»Das kann ich wohl kaum den ganzen Tag lang tun. In dieser scheußlichen Bruchbude ist das ohnehin vergebliche Liebesmüh. Der helle Kunststoff ist dank unserer Vormieter total verkratzt, den bekommt man nie mehr sauber. Und wo wäre eigentlich das Problem, wenn wir uns so eine Mediatapete holen würden? Sogar die asoziale Sabine von nebenan hat schon eine und ist total glücklich damit!«
Philipp seufzte. Er hatte es ihr schon so oft erklärt. »Weil wir kein überzähliges Geld besitzen! Jetzt haben wir grade erst das alte Auto abbezahlt, auf dem Konto ist Ebbe.«
»Aber das ist bei der Sabine auch nicht anders. Sie hat sich einfach so eine NullProzentFinanzierung beim MegatechMarkt besorgt. Wenn sie eines Tages die monatlichen Raten nicht mehr bezahlen kann – na und? Dann geht sie eben in Privatinsolvenz. Das hat sie vor ein paar Jahren schon einmal gemacht. Wer nichts hat, dem kann man auch nichts wegnehmen. Wir sind doch eh ständig pleite. Aber mit Mediatapete könnte ich das sicherlich besser ertragen.«
»Die Sabine arbeitet nicht, das ist ein großer Unterschied. Mir könnte man jedoch im Zweifelsfall den Lohn pfänden.
Wir würden am Ende unser Auto verlieren, und wie sollte ich dann bitteschön zur Arbeit, ans andere Ende der Stadt, gelangen? Du weißt doch genau, wie beschissen es um die Öffentlichen Verkehrsmittel bestellt ist. Sie sind zu jeder Tagesund Nachtzeit total überfüllt. Mittlerweile ist es lebensgefährlich, sich in die Bahnhöfe der TransrapidMagnetbahn zu wagen. Erst neulich ist mein Arbeitskollege Erik an der Station Alexanderplatz halb tot geprügelt worden.«
Swetlana gingen vorläufig die Argumente aus. Sie seufzte resigniert, entfernte sich schmollend.
Terra, 24. Dezember 2116 nach Christus, Donnerstag
Am späten Vormittag wurden vier Rollen, allesamt in Raumhöhe, bei der Wohnung der Emmersons angeliefert. Swetlana hatte das Sonderangebot des Elektro großmarkts genutzt und, ohne das Einverständnis ihres Ehemanns einzuholen, auf Pump eine halbwegs erschwingliche Mediatapete geordert. Zwei kräftige MegatechMänner schleppten die silbrig glänzenden Rollen fluchend das Treppenhaus hinauf bis zum siebten Stockwerk. In den Aufzug passten die sperrigen Dinger nicht hinein.
Philipp wollte drei Stunden später vor Wut schier platzen. Noch stand er mit gezückter Chipkarte vor der Wohnungstür, aber schon von hier draußen vernahm er überdeutlich die charakteristische Geräuschkulisse einer Nachrichtensendung, die immer wieder von Werbeeinblendungen unterbrochen wurde.
Neuerdings waren die Fernsehanstalten dazu übergegangen, selbst die Informationen über das Weltgeschehen mit, scheinbar bestens zum jeweiligen Thema passenden, Werbespots zu durchbrechen. Lief beispielsweise ein Beitrag zu den Gefahren der Privatisierung der öffentlichen Wasserversorgung, wurde gleich danach ein besonders reines Mineralwasser angepriesen.
Der Berichterstattung über den erneut ausgebrochenen Krieg zwischen Nord- und Südkorea folgte ein holografisches 3D-Game, mit dem man haargenau diesen Konflikt spielerisch im heimischen Wohnzimmer nachvollziehen konnte; so realistisch, als befände man sich tatsächlich im Kriegsgebiet.
Philipp zog die Karte durch den Schlitz und wartete zwei Sekunden, bis die Kontrollleuchte grünes Licht zeigte. Er atmete tief durch und betrat mit gerunzelter Stirn seine Miniwohnung. Swetlana sah ihn gar nicht kommen, denn sie übte sich vor der riesigen Bildfläche in Gestensteuerung.
Er tippte ihr auf die Schulter. »Hör mal, musst du mir diesen Tag vollends vermiesen? Es reicht mir schon dicke, dass ich heute ab 18 Uhr Bereitschaft für das Klärbecken aufgedrückt bekommen habe. Wer weiß, was die Leute am Weihnachtsabend wieder alles ins Klo schmeißen!
Zusätzlich kann ich mir hier im Haus den Hintern aufreißen. Manche Dinge ändern sich eben nie, jedes Jahr dasselbe Theater. Abfackelnde Weihnachtsbäume, Selbstmordkandidaten, tätlich ausgetragene Familienkonflikte … ich könnte kotzen, wenn ich an das letzte Weihnachtsfest zurückdenke. Und zur Krönung des Ganzen bugsierst du uns mit dem verdammten Ding da ins finanzielle Abseits. Eigentlich könnte ich ja gleich aus dem Fenster springen!«
Swetlana strahlte immer noch, schloss Philipp anstelle einer Erwiderung in die Arme. Er vermochte die merkwürdige Reaktion nicht einzuordnen, blieb hölzern stehen.
»Nun rege dich bitte wieder ab, mein Schatz. Wir haben heute auf jeden Fall Grund zum Feiern. Zum ersten Januar werde ich eigenes Geld verdienen. Die Hausverwaltung hat mir eine Putzstelle verpasst. Ich säubere in Zukunft unser Treppenhaus. Also können wir uns diese Mediawand durchaus leisten. Na, was sagst du?«
Philipp war immer noch nicht zum Lachen zumute, doch er liebte seine Frau. Also schluckte er die Bemerkung, dass man üblicherweise zuerst Geld verdiente und es dann erst ausgab, im letzten Moment hinunter.
»Na schön … wenn das Ding nun mal da ist, sehe ich mir jetzt den Rest der Nachrichten an«, meinte er augenzwinkernd. Gemeinsam setzten sie sich auf die verschlissene Couch.
» … scheint dank der Mikrorobotik nun endlich der finale Coup gegen die Terrormiliz IS gelungen zu sein. Ferngelenkte Nanodrohnen in Wespenform spritzen den Führungspersonen hochwirksames Nervengift unter die Haut, worauf sie in fürchterlichen Zuckungen einen grausamen Tod sterben. Mittlerweile finden sich für höhere Positionen kaum noch Kandidaten. Dem Dschihad geht allmählich der Nachschub aus«, vermeldete der geschniegelte Nachrichtensprecher.
»Na endlich. Lange genug hat es gedauert«, knurrte Philipp schadenfroh. Die zugehörigen Bilder flimmerten in brillanter Qualität über die Tapete. Ein bärtiger Araber mit Turban und Maschinengewehr hauchte soeben schlotternd und sabbernd sein Leben aus. Fast meinte man, der Islamist würde inmitten des Wohnzimmers verenden, so täuschend echt wirkten die dreidimensionalen Aufnahmen.
Unvermittelt erschien eine überdimensional große Tablettenpackung auf der Bildfläche. Eine schmale, top manikürte Frauenhand reichte sie quasi aus der Tapete.
»Die lang ersehnte Rettung für Epileptiker – garantiert ohne lästige Nebenwirkungen. Gleiter fliegen, zum Mars reisen, an Maschinen arbeiten, pure Lebensqualität genießen … mit diesem innovativen Medikament wird das künftig kein Problem mehr sein«, versprach eine säuselnde weibliche Stimme.
*
Sechs Monate später flimmerte eine Werbung der besonderen Art über die oft und gern genutzte Wundertapete. Sie wurde von der Bundesregierung in Kooperation mit der Europäischen Union und der ESA ausgestrahlt, entsprechend plakativ in Szene gesetzt.
Man sah eine attraktive Frau mittleren Alters, die lächelnd in einem kleinen Gemüsegarten stand. Im Hintergrund leuchtete ein Wohnmodul aus weiß glänzendem Kunststoff, das sich kontrastreich gegen den blauvioletten Himmel abhob. In einiger Entfernung erkannte man schroffe rötliche Bergkämme.
»Wollen Sie der Enge der Großstadt entkommen, Stress und Hektik entsagen, Ihrem Leben eine vollkommen andere Ausrichtung geben? Wir bieten Ihnen ein einfaches, aber zufriedenes Leben in dieser faszinierend neuen Welt. Kontaktieren Sie uns! Sollten sich mehr als tausend geeignete Bewerber aus Europa und den USA für das Siedlungsprojekt bei uns melden, entscheidet das Los«, verkündete der adrette junge Sprecher, während die Kamera langsam durch das Modell der im Schachbrettmuster angelegten Siedlung schwenkte. In Wirklichkeit waren die weißen Plastikmodule wohl noch im Bau. Mailadresse und Telefonnummer der für Europa zuständigen Sondierungsbehörde wurden eingeblendet.
Philipp Emmerson notierte beides. Was für eine angenehme
Vorstellung … keine Kläranlage, keine unangenehmen Mieter mehr, die er zufriedenstellen müsste. Swetlana und er könnten endlich in einem eigenen Haus wohnen, bräuchten sich nur noch um das Gärtchen und ein paar Wartungsarbeiten kümmern. Ade Überbevölkerung, ade eiskalter Kapitalismus. Auf dem Mars wurden einem die benötigten Waren kostenfrei zur Verfügung gestellt, Nahrung konnte man zum Teil selbst anbauen. Der Rest wurde halbjährlich mit Raumfrachtern angeliefert. Ein reguliertes Leben wie im Sozialismus, der in diesem Fall jedoch wohl kaum von macht- und geldgierigen Funktionären korrumpiert wäre. Natürlich … es handelte sich um ein Pilotprojekt zur Marsbesiedlung, das nicht völlig frei von unwägbaren Gefahren sein würde – aber lebte man denn in diesen Tagen auf der Erde sicher und komfortabel? Nein, beileibe nicht.
Swetlana, die neben ihm saß, erahnte seine Gedanken. »Du denkst ernsthaft darüber nach, nicht wahr? Man muss natürlich im Hinterkopf behalten, dass es ein One WayTicket wäre. Bist du einmal oben, kommst du nie mehr zurück zur Erde. So lauten die Bedingungen. Auch müssten wir uns zuvor umfangreichen Psychotests und körperlichen Untersuchungen unterziehen. Sie nehmen für dieses Siedlungsprojekt nur absolut gesunde Menschen, was ja auch Sinn macht. Sie begründen schließlich eine neue Zivilisation.«
»Schon klar. Aber stelle dir doch vor, welch ein Abenteuer das wäre! Man kann auf dem Mars inzwischen ganz normal atmen, die kosmische Strahlung ist akzeptabel. Man benötigt nur handelsübliche Cremes mit Lichtschutzfaktor. Der Planet ist inzwischen sehr wasserreich, es gibt bizarre, unerforschte Landschaften zu entdecken. Also mich reizt der Gedanke sehr, dass wir beide demnächst als Pioniere dorthin ziehen könnten. Und dort wäre es wahrscheinlich sogar möglich, ein Kind in die Welt zu setzen, einen kleinen Marsmenschen«, lockte Philipp, nicht ohne Hintergedanken.
Seine Frau war sofort Feuer und Flamme. Wie oft hatte sie ihren Kinderwunsch aufgeschoben, weil die finanzielle Situation zu prekär gewesen war. Ihre biologische Uhr tickte.
»Siehst du? Es war ein Fingerzeig des Schicksals, dass ich unbedingt diese Mediatapete haben wollte. Ansonsten hätten wir den Aufruf vermutlich nicht einmal mitbekommen. Morgen früh vereinbare ich bei der halbstaatlichen Sondierungsbehörde einen Termin zur Antragstellung für uns beide. Einverstanden?«, freute sich Swetlana.
»Einverstanden«, nickte Philipp, während ein riesiger Schokoriegel durchs Wohnzimmer zu schweben schien. Er drehte sich um sich selbst. Mars, stand auf der metallicbraunen Umhüllung zu lesen.
Tiberia, KINZeit: KINZeit: 13.5.15.16.6, Donnerstag
Der Vorderste der Sektion Archiv, Geschichte und Schrift strich mit dem rechten Zeigefinger nachdenklich über das Relief einer Schreibfeder, die auf dem Deckel sei nes Kommunikators angebracht war. Er und sein heiß geliebter Schreiber Zamor taten sich regelmäßig schwer damit, die gesammelten Dokumentationen von Terra psychisch zu verarbeiten. So auch heute.
Seit einigen Wochen waren sie dabei, die Ereignisse auf Terra seit dem Jahr des ersten bemannten Marsflugs 2023 zu sichten. Die umfangreiche Tätigkeit kostete jede Menge Zeit und Nerven. Sie war jedoch unabdingbar. Erstens konnte man aus der wechselhaften Geschichte einer parallel existierenden menschlichen Zivilisation wertvolle Lehren ziehen und zweitens erkannte man so die signifikanten Momente, in denen es ratsam erschien, auf Terra rückwirkend in das Geschehen einzugreifen.
Regentin und Vorderste Alanna, der Arden in regelmäßigen Abständen Bericht erstatten musste, war trotz einiger Fehlschläge bei solchen Eingriffen immer noch felsenfest der Meinung, dass man ein wachsames Auge auf jene unbedarften Brüder und Schwestern haben müsse, die demnächst zu direkten Nachbarn des tiberianischen, bald wieder marsianischen Volkes werden würden. Am liebsten hätte sie im Nachhinein die ersten Schritte der Terraner auf dem Mars ungeschehen gemacht, die AuroraMission sabotiert, doch sie ahnte, dass diese Manipulation den Griff nach dem Mars höchstens aufgeschoben hätte.
Es musste nach Lage der Dinge eines Tages zwangsläufig zur Konfrontation kommen, dann jedoch am besten kontrolliert und nach den Regeln ihres Volkes. Den degenerierten Terranern würde entweder die Vertreibung vom Mars oder ein Leben in larvierter Sklaverei blühen, das hatte sie sich insgeheim auf die Fahnen geschrieben.
»Der Mensch neigt anscheinend dazu, alles aufzuteilen und seinen vermeintlich gerecht erworbenen Anteil eifersüchtig zu bewachen«, meinte Zamor betrübt. »Bei uns richtet sich die Aufteilung in verschiedene Sektionen wenigstens nach einem sinnvollen System. Aber bei denen? Ost und West, Arm und Reich, Christentum und Islam, Nationalisten und Freigeister … da blickt doch keiner mehr durch.«
»Du sprichst ein wahres Wort. Da überschneiden sich Grenzen, das macht das Wirrwarr aus egoistischen Intentionen und Machtspielen unübersichtlich. Dazu kommen noch die Folgen des Klimawandels, die einerseits wegen der selbst ausgelösten Erderwärmung, andererseits wegen geheimer Wetterexperimente des Militärs auftraten. Die massiven Unwetter verwüsteten ganze Landstriche, die Küstengebiete wurden zunehmend überflutet und somit unbewohnbar. Wie kann man so blind sein? Schließlich lebte der Großteil der terrestrischen Menschen bis dato in Städten am Meer!«, echauffierte sich Arden.
»Geheime Wetterexperimente?«, wunderte sich sein Gefährte.
»Ja, so krank das auch klingen mag. Wer das Wetter kontrolliert, kann seinem Feind über die Auswirkungen großen Schaden zufügen. Dürren, Überflutungen, Tornados – all das wurde bedenkenlos ausgelöst, um eigene Exporte in das betroffene Land zu steigern oder den Gegner militärisch zu schwächen, je nach Interessenlage. Sie setzten hierzu unter anderem innovative Mikrowellentechnik und Silberionen ein. Heimlich natürlich, um die Bevölkerung nicht auf die Barrikaden zu treiben. Man schob einfach alle Wetterkapriolen auf die unvermeidliche Erderwärmung. Kaum zu glauben, nicht wahr?«
»Unfassbar. Und die Leute merkten wirklich nicht, was man da mit ihnen veranstaltete?«
»Es wurden auf dem Wetterradar unerklärliche Phänomene gesichtet, die eher wie Bildstörungen aussahen. Über manchen Gebieten schien die Anzeige durch weiße Kreise überlagert zu sein; kurz darauf kam es dort prompt zu massiven Regenfällen. Zuerst wurden die kreisförmigen Strukturen über Australien gesichtet, weil dieser Kontinent nicht so stark mit dem Rest der Welt in diplomatische Querelen verstrickt ist. Man erkor ihn quasi als Testgelände aus. Außer den Unkenrufen von ein paar Verschwörungstheoretikern hat die Öffentlichkeit keine Notiz von den Vorgängen über ihren Köpfen genommen.«
»Ich wiederhole: Unfassbar!«, kommentierte Zamor.
»Das wahrhaft Erstaunliche daran ist, dass die Terraner um die Zerbrechlichkeit ihres ökologischen Systems wussten. Im Jahr 2030 haben sie die sogenannte DoomsdayClock auf eine Minute vor zwölf vorgestellt. Das ist die symbolische Uhr eines wissenschaftlichen Berichtsblattes über den Zustand der Welt, die der Öffentlichkeit verdeutlichen soll, wie groß jeweils das derzeitige Risiko einer globalen Katastrophe ist. Im Jahr 2015 stand sie noch auf fünf vor zwölf.«
»Und das öffnete denen nicht die Augen, sondern man spielte sogar noch leichtsinnig an den Wettersystemen herum?«
»Sie wussten es, Zamor, rannten mit offenen Augen in ihr Verderben. Die Belastungsgrenzen Terras wurden immer stärker tangiert. Sie hatten sogar einen Erdüberlastungstag festgelegt, und der trat jedes Jahr früher ein. Während die natürlichen, sich innerhalb eines Jahres regenerierenden Ressourcen Terras im Jahr 2016 noch Anfang August aufgebraucht waren, reichten sie 2030 lediglich bis Ende Juni. Ab diesem Jahr hätte man eigentlich bereits zwei Planeten von gleicher Größe und Beschaffenheit gebraucht, um eine ausreichende Lebensmittelproduktion zu gewährleisten sowie die Mittel für Wohnen und Brennstoffe zu gewinnen.
Die Berechnung geht auf das Konzept des Ökologischen Fußabdrucks zurück, der besagt, wie viel Fläche benötigt wird, um sämtlichen Ressourcenbedarf inklusive der Energieversorgung zu stemmen. Die terrestrische Menschheit lebte also immer in der zweiten Jahreshälfte unbekümmert von den stillen Reserven Terras – bis diese eines furchtbaren Tages komplett aufgebraucht sein würden.«
»Jedenfalls wäre das so gekommen, wenn sich die Erdbevölkerung nicht in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts wesentlich reduziert hätte.«
»Nichts vorweg nehmen, lieber Zamor. Einen Schritt nach dem anderen. Wir müssen Jahr für Jahr akribisch durchsehen um zu erkennen, weswegen es so und nicht anders kam. Auch unser eigenes Volk hat einst ähnliche Fehler auf dem Mars begangen, weshalb er bis vor kurzem unbewohnbar gewesen ist. Dem Menschen scheint der eigene Untergang bereits in die Wiege gelegt zu sein … das Omega ist im Alpha verborgen, verstehst du? Dem Aufstieg folgt stets der Niedergang, das unabwendbare Ende. Es fragt sich nur wann – und auf welche Weise es kommt. Danach beginnt ein neuer Zyklus.
Es geht mir auch nicht nur um diesen Komplex. Wir haben in demselben Zeitraum ebenso zu studieren, wie die Europäische Union sich langsam auflöste, wie die Verhältnisse in Amerika sich Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts entwickelten und was in Syrien, der Türkei und in Korea vor sich ging. Wir dürfen keinesfalls terrestrischen Medienberichten oder gar der offiziellen Geschichtsschreibung trauen, sondern müssen uns mit dem gesunden Menschenverstand ein eigenes Bild von Ursache und Wirkung machen.
Die Verantwortung lastet schwer auf meinen Schultern. Schon die allerkleinste Fehlinterpretation kann unsere impulsive Alanna zu weitreichenden Schritten treiben«, warnte Arden seinen in Violett gekleideten Schreiber und Geliebten. Manchmal verleitete Zamors Jugend ihn zu unangebrachter Oberflächlichkeit.
*
Über dem Regentenpalast gingen die zwei Monde Tiberias auf, das Zentralgestirn versank hinter dem Horizont. Für das jüngste Mitglied der Marsdynastie neigte sich damit der Tag dem Ende zu. Regent Kiloon geleitete seine sechsjährige Tochter in ihr Schlafgemach. Er konnte nur wenig Zeit mit ihr verbringen, doch das allabendliche Ritual ließ er sich nicht nehmen.
Behutsam hob er die jüngere der beiden Alannas in ihre ovale Schlafkoje aus transparentem, zartgelbem Plantolaan. Kaum reagierte der im Boden verbaute Sensor auf ihr Gewicht, ertönte ein kaum vernehmbares Zischen. Unzählige kleine Düsen, die rundum von der Schulterhöhe bis zu den Zehenspitzen an der Innenverkleidung angebracht waren, verströmten eine bläuliche Gasmischung. Diese wog schwerer als Luft, duftete wie Lavendel und legte sich wie eine schützende, wärmende Hülle um den Körper des Kindes. Erst vor einigen TUN hatte diese innovative Lösung gewöhnliche Decken abgelöst. Sie garantierte eine stets gleich bleibende Körpertemperatur, lästiges Schwitzen oder Frieren in der Nacht gehörten damit der Vergangenheit an.
»Vater, erzählst du mir zum Einschlafen eine Geschichte?«, gurrte die Kleine mit einem gewinnenden Lächeln. Der Tonfall erinnerte unangenehm an ihre gleichnamige Mutter, die, wenn sie etwas erreichen wollte, ganz ähnlich zuckersüß klang.


