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Kiloon schüttelte den schauerlichen Gedanken ab. Er führte eine Zweckehe, die nichts mit einer liebevollen Beziehung gemein hatte. Genauer gesagt, hatte ihn die ältere Alanna quasi fest an den Eiern. Dieses selbst verschuldete Dilemma wollte er natürlich nicht an seiner süßen Tochter auslassen, somit nickte er und streichelte ihr zärtlich übers blonde Haar.
Er erzählte dem Mädchen sehr gerne Geschichten, stets darauf achtend, dass diese einen lehrreichen Hintergrund enthielten. Vielleicht gelang es ihm ja auf diese schonende Weise, die künftige Imperiumserbin gegen die – zumeist selbstsüchtigen – Pläne ihrer Mutter zu konditionieren. Und doch fühlte er, dass sich die Vater-Tochter-Beziehung bereits in Nuancen veränderte. Alanna war kein Kleinkind mehr, würde in wenigen Jahren in die Pubertät kommen.
»Bist du allmählich nicht schon ein bisschen zu groß für Gutenachtgeschichten?«, fragte er augenzwinkernd.
»Überhaupt nicht!«, strahlte das Mädchen und schloss genießerisch die Augen. Kiloon brummte zufrieden.
»Es war einmal … ein Volk aus glücklichen Menschen, die im Überfluss lebten. Sie besaßen nur das, was man zum Leben unbedingt braucht. Sie jagten Tiere und sammelten gemeinsam Beeren und Früchte. Abends saß man am Lagerfeuer zusammen«, begann Kiloon seine Geschichte.
»Iiiiih«, schüttelte sich die Kleine. »Wir haben im Unterricht schon gehört, dass die Menschen früher Tiere aßen. Das finde ich eklig. Wie können sie dann aber glücklich gewesen sein?«
»Sie kannten es nicht anders. Wir Menschen waren erst viel später in der Lage, uns die notwenigen Nährstoffe aus synthetischer Nahrung zu ziehen. Obst und Gemüse sind eben auf Dauer nicht ausreichend, um den Körper fit und gesund zu halten. Wenn man körperlich arbeitet, benötigt man viele Proteine«, erklärte ihr Vater geduldig.
»Trotzdem! Tiere töten und sie anschließend essen, das könnte ich bestimmt nicht«, beharrte Alanna. Sie besaß denselben Dickkopf wie ihre Mutter.
»Musst du ja auch nicht. Aber nun höre gut zu, wie es dem Volk in meiner Geschichte weiter erging. Im Laufe der Zeit vermehrten sich die Menschen immer weiter. Familien schlossen sich zu Clans zusammen, Clans zu Dorfgemeinschaften und diese wiederum zu größeren Siedlungen, die man später Städte nannte. Nun mussten sie sich um die Dinge des alltäglichen Lebens streiten, denn die Zeit des Überflusses war vorbei. Jeder wollte möglichst viel für sich selbst beanspruchen: Ländereien, Wasser, Jagdgebiete, Nahrung. Es entstand Konkurrenz, und hieraus resultierten kriegerische Konflikte.«
»Dann war das aber ein sehr, sehr dummes Volk«, entschied Klein-Alanna selbstbewusst. »Sobald ein Mensch stirbt, darf ein neuer an seine Stelle treten, so lautet bei uns die Regel. Wie konnte es also passieren, dass auf einmal so viele existierten, dass sie sich sogar ums Essen streiten mussten?«
»Damals gab es eine solche Regelung noch nicht. Die Familien entschieden selbst, wie viele Kinder sie in die Welt setzen wollten. Doch das war noch das kleinere Problem. Man erfand Maschinen, die den Leuten die Arbeit abnahmen und produzierte damit lauter Dinge, die im Grunde genommen überflüssig waren. Jedermann wollte das Zeug besitzen, für alles gab es Abnehmer. Je mehr Gegenstände man besaß, desto größer war das Ansehen.
Zuerst tauschte man die Waren untereinander, später bezahlte man sie mit runden, glänzenden Metallstücken. Um wiederum diese Metallstücke zur Verfügung zu haben, musste man arbeiten – doch dies war immer weniger Menschen möglich, weil die Maschinen sie einen nach dem anderen ersetzten. Die Roboter erledigten die Aufgaben oft schneller und zuverlässiger, daher setzte man sie überall ein. Die großen Maschinen, die diese Roboter bedienten, verpesteten die Luft und entzogen dem Planeten jede Menge Bodenschätze. Das brachte das natürliche Gleichgewicht ins Wanken.«
»Die haben also vor lauter Gier den eigenen Planeten kaputt gemacht?«, fragte das Mädchen mit großen Augen.
»Ja, über Generationen hinweg, so nach und nach. Die Menschen verlernten mit der Natur zu leben, bis diese eines Tages zurückschlug. Es entstanden durch all das Gift im Boden und in der Luft neue Krankheiten, die Atmosphäre wurde dünner und konnte nicht mehr vor der tödlichen Strahlung des Weltalls schützen. Sehr viele Bewohner sind gestorben, andere todkrank geworden. Am Ende konnte niemand mehr jene Maschinen bedienen, für welche man zuvor alles Lebenswerte geopfert hatte. Die letzten überlebenden Menschen flohen Hals über Kopf auf andere Planeten.«
Alanna gähnte herzhaft, kuschelte sich in ihr Kissen. »Das ist aber eine traurige Geschichte. Selber schuld, dieses unvernünftige Volk. Wo hat es denn einst gelebt?«
»Auf dem Mars. Dies war leider unsere eigene Geschichte, wie sie sich vor einigen CALABTUN auf unserem Heimatplaneten zugetragen hat. Nun stehen wir im Begriff, diese zerstörte Welt wieder neu zu besiedeln. So etwas Schlimmes darf dort nie wieder geschehen. Unsere Dynastie trägt die schwere Last der Verantwortung, damit die Chance auf einen Neuanfang richtig genutzt wird. Wenn du erwachsen bist, musst du sehr klug und umsichtig handeln. Versprichst du mir das?«
»Ja, Vater. Mutter sagt, dort auf dem Mars wird alles besser und schöner werden als es hier jemals gewesen ist.«
»Das hoffe ich in unser aller Interesse, mein kleiner Schatz. Nun schlaf schön«, flüsterte Kiloon und drückte seiner Tochter einen Gutenachtkuss auf die Stirn. Selig schlummerte sie ein, nicht ahnend, dass ihr Vater insgeheim vom glatten Gegenteil überzeugt war.
Terra, 07. November 2118 nach Christus, Montag
Annähernd hundert Jahre, nachdem Rainald Hemmauer erstmals die beängstigende AsteroidenAnimation ins Internet gestellt hatte, war diese noch immer nicht in Vergessenheit geraten. Natürlich hatten die beiden tiberianischen Exilanten damals explizit erwähnt, dass bei der Aufzeichnung außerirdische Technik im Spiel gewesen war und allein diese eine derart realistische Simulation ermöglicht habe. Solaras hatte sie über den Holographen ablaufen lassen, mit sich selbst im Mittelpunkt, und Rainald war derweil im Türrahmen gestanden und hatte das fulminante 3DSzenario samt der infernalischen Geräuschkulisse von außen gefilmt.
In den ersten Jahrzehnten war der Beitrag belächelt worden, es hatte sogar Drohungen gegen die Urheber gegeben. Manche Blogger hatten es überaus witzig gefunden, schnoddrige Kommentare zu posten. Doch je mehr Zeit verstrich und je weiter die irdische HologrammTechnik voranschritt, desto mehr kam man auf den Gedanken, dass die Simulation doch identisch sein könnte. Schließlich war man auf der Erde inzwischen in der Lage, ähnlich klare Trugbilder zu erzeugen.
Hinzu kam noch, dass der blaue Planet mehrfach mit einem ebenso blauen Auge davon gekommen war. Drei Asteroiden waren gegen Ende des 21. Jahrhunderts der Erde gefährlich nahe gekommen. Ein Objekt von der Größe eines Wohnblocks hätte um ein Haar den Mond zerschmettert, hatte sich dem Erdtrabanten bis auf 12.000 Kilometer genähert und aufgrund der Massenanziehung sogar dessen Umlaufbahn geringfügig verändert.
Man war sensibilisiert. Was, wenn der riesige Asteroid aus der Aufzeichnung tatsächlich existierte und, von den vielen wachsamen Teleskopen unbemerkt, hinter der Sonne hervorträte und am 5. April 2272, also in etwas mehr als hundertfünfzig Jahren, einschlüge? Keine Frage, man musste vorbereitet sein. Für diesen oder einen anderen Planetenkiller.
Neben verschiedenen mehr oder weniger durchführbaren Theorien zur Umleitung der vagabundierenden Himmelsbrocken schien die rechtzeitige Evakuierung der Erde inzwischen einer der gangbarsten Denkansätze zu sein. Der Mars lockte mit einem halbwegs gemäßigten Klima, in dem wieder Menschen existieren konnten. Es gab dort flüssiges Wasser, die Grundvoraussetzung für Leben. Nie und nimmer würde es zwar gelingen, die gesamte Bevölkerung der bedrohten Erde auf den ehemals roten, inzwischen eher rotgrünen Planeten zu transferieren – dafür hätte man die notwendigen Kapazitäten an Geld und Transportmitteln gar nicht besessen – aber die Menschheit an sich würde im dortigen Exil jegliche Megakatastrophe überdauern können.
Insofern war es ein sehr beruhigendes Gefühl, dass die ersten Marssiedler aus dem staatlichen Pionierprogramm schon bald ihr neues Zuhause beziehen sollten. Zehn Raumfrachter der NASA, mit jeweils hundert Passagieren an Bord, befanden sich bereits auf der monatelangen Reise ins All. Man konnte bloß hoffen, dass dieser beispiellose Exodus ein glückliches Ende nahm. Falls alles gut ging, würden die Raumfrachter in wenigen Jahren die nächsten Siedler zum Mars transferieren.
Unter den ersten Pionieren waren auch Swetlana und Philipp Emmerson, die zuvor monatelange Gesundheitschecks, ermüdende psychologische Sitzungen und straffe Fitnessprogramme durchlaufen hatten. Das Ehepaar haderte mittlerweile mit seiner Entscheidung, weil es in der bedrückenden Enge des Frachters wiederholt zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen den Marsmenschen in spe gekommen war. Selbst stabilste Psychen schienen das tatenlose Herumhängen sehr schlecht zu verkraften. So flammten bei geringfügigsten Anlässen schon erbitterte Streitigkeiten auf, die nicht selten in der Krankenstation endeten.
»Wir müssen eisern durchhalten, Swetlana. Ein paar Wochen noch, und danach werden wir so viel Platz haben, dass wir all diesen aggressiven Idioten aus dem Weg gehen können«, tröstete Philipp seine entmutigte Gattin.
Tiberia, KINZeit: 13.5.15.17.4, Montag
Alanna schritt mit der Körperhaltung einer Königin durch die Eingangshalle der Sektion Archiv, Geschichte und Schrift. Lichtreflexe in verschiedenen Grünund ViolettSchattierungen fielen durch die riesigen, transparenten PlantolaanScheiben, irrlichterten über ihre makellose Alabasterhaut. Für wenige Augenblicke erstrahlte ihr schneeweißes wadenlanges Gewand, welches sie als Mitglied der Regentenfamilie auswies, in einem Farbenmeer. Wer ihr begegnete, verneigte sich tief.
Sie befand sich auf dem Weg zu Ardens Räumlichkeiten, um sich wieder einmal über den neuesten Stand der terrestrischen Geschichtsaufarbeitung zu informieren. Der Vorderste dieser Sektion musste ihr in unregelmäßigen Abständen Rede und Antwort stehen, was so an zukunftsweisenden Ereignissen auf Terra in den vergangenen zweihundert TUN abgelaufen war. Heute fand sie endlich wieder etwas Zeit, um ihm einen Besuch abzustatten.
Arden empfing die weizenblonde Schönheit mit der gebotenen Höflichkeit. Schreiber Zamor, der die Prozedere rund um den hohen Besuch schon kannte, zog sich mit einer Verbeugung zurück. Er war im Rang zu niedrig, als dass er die Regentin mit seiner Anwesenheit hätte beleidigen dürfen.
Nach etwas Smalltalk kam die Regentin ohne weitere Umschweife zur Sache. »Nun, sehr verehrter Arden, berichtet mir bitte kurz und bündig über die einschneidenden Ereignisse auf Terra. Wo waren wir bei meinem letzten Besuch stehen geblieben? Im terrestrischen Jahr 2025 nach Christus?«
»2023. Aber das nächste katastrophale Ereignis hat sich erst 2028 ereignet. Dazwischen gab es nur die üblichen politischen Rangeleien zwischen Ost und West und ein paar Terroranschläge, mit denen ich Euch jedoch nicht langweilen möchte.«
»Gut, das weiß ich zu schätzen. Und was geschah 2028?«
»Im südlichen Europa brach ein Supervulkan aus. Er verwüstete weite Teile Mittelitaliens, Tausende fanden bei dieser Eruption den Tod. Etliche Kubikkilometer Lava wurden aus der Magmakammer bis in die Stratosphäre geschleudert. In einem Umkreis von ungefähr zweihundertfünfzig Kilometern konnte durch Lavaströme und Pyroklastika nichts und niemand überleben. Dazu wurde feiner Staub um den gesamten Globus getragen, was einen sogenannten vulkanischen Winter auslöste.«
»Eine Klimakatastrophe?«
»Genau. Die Temperaturen sanken weltweit gleich um mehrere Grad. Pflanzen und Tiere starben, Ernten fielen aus, die Nahrung auf dem überbevölkerten Planeten wurde knapp. Allein dadurch reduzierte sich die Bevölkerung im ersten Jahr nach dem Ausbruch um rund fünfzehn Millionen Terraner.
Die Langzeitfolgen waren gleichwohl noch verheerender. Manche Menschen starben einen grauenvollen, elenden Tod, weil die feine Asche in die Lungen eindrang und sie mit der Zeit funktionsunfähig machte. Es kam zu einem Artensterben bei Säugetieren und fliegenden Insekten, wie zum Beispiel bei den Bienen. Diese ähneln übrigens unseren Sitargas, auch sie bestäuben die Pflanzen. Eine Reduzierung hätte hier ebenfalls katastrophale Folgen für die Landwirtschaft.
Es kam für Terra aber noch schlimmer. In den benachbarten Ländern Europas sowie den im Osten angrenzenden Gebieten brachen wegen den Missernten kriegerische Konflikte um die verbleibenden Ressourcen aus, bei denen zahllose Terraner getötet wurden. Innerhalb von zehn Jahren nach dem Vulkanausbruch hatte sich die Erdbevölkerung um fast zweieinhalb Milliarden reduziert.«
»Kleine Ursache, große Wirkung«, murmelte Alanna. »Der verdammte Vulkanismus wird uns leider auch auf dem Mars wieder in Atem halten, davor graut mir jetzt schon. Dennoch bin ich felsenfest der Ansicht, dass die Vorteile alle möglichen Nachteile überwiegen werden.«
»Darauf vertraue ich. Ihr seid für Eure Weitsicht bekannt«, schmeichelte Arden devot. Insgeheim hegte er völlig andere Ansichten, die er jedoch keinesfalls laut äußern durfte.
»Nun ja, wenigstens war Terra danach nicht mehr ganz so überbevölkert«, sinnierte die Regentin.
»Das ist zutreffend. Es gab bis 2070 übrigens noch weitere Naturereignisse. Die letzten Riffe starben ab, das Ökosystem in den Meeren veränderte sich. Man fing kaum noch Fische, die man hätte essen können. Das Meer färbte sich vielerorts blutrot, was an einer massenhaften Vermehrung von giftigen Blaualgen beziehungsweise Cyanobakterien lag. Ursache war eine Überdüngung mit Phosphat, in Verbindung mit der stetigen Klimaerwärmung, welche die Temperatur in den Gewässern exponentiell ansteigen ließ.«
»Da ist ja einiges zusammengekommen.«
»Richtig, aber das war längst noch nicht alles. Im Jahr 2093 wurde ein neu designtes Supervirus aus einem militärischen Hochsicherheitslabor im Westen der United States Of America gestohlen. Jemand hat den Erreger anschließend im Stausee Lake Mead freigesetzt, der die Wasserversorgung Südkaliforniens gewährleistet, unter anderem diejenige der Millionenstadt Las Vegas. Mit dem Wasser dieses Reservoirs werden überdies Felder in den Staaten Arizona und Nevada versorgt. Da sich das hoch ansteckende Virus nicht nur über Wasser und Nahrung sondern auch durch die Luft übertragen ließ, gab es unzählige Tote innerhalb kürzester Zeit.
Ich bin mit meiner Sichtung zwischenzeitlich beim Jahr 2101 nach Christus angekommen. Zu diesem Zeitpunkt scheint die Infektionswelle seit einiger Zeit bereits überwunden gewesen zu sein. Wahrscheinlich hatte man ein Gegenmittel entdeckt. Die Bevölkerung Terras betrug aber nur noch rund 4,5 Milliarden Seelen.«
»Und wer hatte dieses todbringende Virus in den See entlassen? Der alte Erzfeind Russland etwa?«, wollte die Regentin neugierig wissen.
»Das kann ich Euch nicht sagen. Bis Anfang des 22. Jahrhunderts hatte man es jedenfalls noch nicht herausgefunden. Es gab nur verschiedene Mutmaßungen und Schuldzuweisungen, die wiederum zu Spannungen führten.«
»Furchtbar«, seufzte Alanna. »Wenn ich daran denke, dass diese minderwertige Rasse ihre blutbesudelten Finger neuerdings ebenfalls nach dem Mars ausstreckt, ist mir nicht wohl zumute. Wir werden das angelandete Grüppchen dauerhaft unter unserer strengen Kontrolle halten müssen, sonst zerstören sie unseren Heimatplaneten – und unsere Kultur gleich mit.«
Arden stimmte ihr spontan zu, und dieses Mal meinte er es ernst. Auch er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Zusammenleben mit den Terranern auf Augenhöhe von Erfolg gekrönt sein konnte. Dafür hatte er bei seinen Recherchen zu viel Schlimmes gesehen, was auf deren Konto ging.
*
Kaum war Alanna vom Kurzbesuch bei Arden in den Regentenpalast zurückgekehrt, hielten sie die unguten Umwälzungen auf Tiberia wieder in Atem. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich Gesuche um Verwendung in einer anderen als der bisher zugewiesenen Sektion.
Alanna gab es nur ungern zu, aber der alte Archivar Tirim hatte Recht behalten, als er eine solche Entwicklung zum Ende seiner Dienstzeit vorhergesagt hatte. Ihr schwacher, beeinflussbarer Ehegatte Kiloon hatte ja unbedingt zulassen müssen, dass der kleine Schreiber Zamor von Landwirtschaft und Versorgung zu Archiv, Geschichte und Schrift wechseln durfte.
Nun war der Unzufriedenheit Tür und Tor geöffnet, viele Tiberianer wollten sich dieselbe Freiheit herausnehmen. Und ausgerechnet ihr war seit ihrer Eheschließung mit dem Regenten die fragwürdige Ehre zuteil geworden, diese undankbaren Entscheidungen treffen zu müssen.
Genervt machte sich die Regentin daran, einen Antrag nach dem anderen abzulehnen. Nur so ließ sich die Flut nach und nach eindämmen. Das unbedarfte Volk, meist aus den Sektionen Landwirtschaft und Versorgung oder Transport und Verkehr würde mit der Zeit schon merken, dass sie nicht im Traum daran dachte, die althergebrachten Strukturen aufzuweichen. Jedenfalls nicht hier auf Tiberia.
Plötzlich schrak sie hoch. Lautes Stimmengewirr drang von draußen herein, irgendetwas aus Plantolaan splitterte mit einem hässlichen Knirschen. Wahrscheinlich ein Fenster.
Alanna sprang auf, eilte zum Ausgang und prallte im Portal ihres Arbeitsraums fast mit einem in Rot gekleideten Wachmann der Sektion Schutz und Verteidigung zusammen. Normalerweise waren die muskulösen Hünen die Ruhe selbst, doch dieser Wachmann wirkte geradezu aufgelöst.
»Wir müssen Euch sofort in Sicherheit bringen, Vorderste, da draußen tobt ein Mob«, stieß er hervor. Drei weitere Wachen erschienen, umringten Alannas Leib zum Schutz.
Die Regentin blickte zuerst ungläubig, dann wütend drein.
»Wie konnten diese Leute überhaupt bis zum Palast vordringen, habt ihr geschlafen? Ist wenigstens meine Tochter schon in Sicherheit? Ich möchte auf der Stelle mit Moros sprechen!«
»Alanna junior sitzt mit unserem Regenten bereits im Magnetzug. Wir müssen Euch nach Südosten zu der Sektion Wissenschaft und Technik im benachbarten Distrikt 2 bringen, dort herrscht noch Ruhe. Moros wird Euch am Bahnhof erwarten«, antwortete der Wachmann ausweichend. Seine aufmerksamen Frettchenaugen scannten stetig die Umgebung, das Cerepilum hielt er betriebsbereit im Anschlag.
Alanna stemmte entrüstet die Fäuste in die Hüften. »Das darf doch jetzt nicht wahr sein! Über wie viele Distrikte haben sich die Tumulte mittlerweile ausgebreitet?«
»Soweit wir wissen, ist planetenweit gut ein Drittel betroffen. Also erstreckt sich die Revolte etwa auf um die hundert Distrikte, wobei sich jeweils nicht alle Sektionen in gleichem Maße an den gewalttätigen Ausschreitungen beteiligen, manche auch gar nicht. Generell lässt sich feststellen: Je höher der Bildungsstand, desto weniger Interesse besteht an der Revolte. Dennoch, die Lage ist sehr ernst, Regentin. Ihr solltet die Macht der Massen besser nicht unterschätzen und sofort mit mir kommen.«
»Keinesfalls! Ich werde hierbleiben. Es wäre ja noch schöner wenn ich zuließe, dass diese Vandalen meinen schönen Palast verwüsten. Schafft mir gefälligst den Vordersten Moros hierher und sorgt dafür, dass der Magnetzug mit meiner Familie endlich abfährt! Sagt Kiloon, ich würde später nachkommen. Aber erst, wenn die brenzlige Situation hier bereinigt ist.«
Der Wachmann zögerte einen Moment, weil er von seinem Vordersten eigentlich anders lautende Befehle erhalten hatte. Dann besann er sich der Hierarchie, deutete eine Verbeugung an und griff zu seinem Kommunikator. »Wie Ihr wünscht, Regentin.«
Mit ihrem weißen Gewand, den funkelnden blauen Augen und dem wallenden langen Blondhaar, das wie ein seidiger Schleier hinter ihr her wehte, glich Alanna einem Racheengel. Sie marschierte im Stechschritt geradewegs in die Richtung, aus der die Geräusche der Zerstörung an ihr Ohr drangen. Wachmann Zandro 208/13.4.0.1.19 forderte nervös Verstärkung an. Sie mussten die Regentin um jeden Preis schützen. Das Schicksal Tiberias lag allein in ihren Händen. Insgeheim bewunderte er diese mutige, draufgängerische Frau.
Vor dem Palastkomplex wurden Sprechchöre laut. »Schluss mit der Gleichmacherei. Wir wollen persönliche Freiheit, wir wollen Familie!«, skandierten die Aufständischen frenetisch, während sie die Palastfassade demontierten.
»Ich werde eine Ansprache halten. Die war zwar erst später geplant, aber sei es drum«, entschied Alanna selbstbewusst, während rund zwanzig Wachleute auf sie zutrabten, höflich die signalroten Helme abnahmen.
Der Vorderste Moros erschien als letzter. Sie erkannte ihn schon von weitem an seinem kastenförmigen Oberkörper und der Halbglatze, die stets etwas schweißfeucht glänzte. »Eure gesamte Familie ist auf dem Weg zu Eurer alten Wirkungsstätte. Ihr hättet mitfahren sollen«, merkte er vorwurfsvoll an.
»Papperlapapp. Ich werde auf der Treppe vor dem Haupteingang eine Rede halten, sofern diese noch nicht beschädigt ist. Überprüft das, sichert diesen Bereich weiträumig und holt mich ab. Ich warte solange im Atrium. Sofern sich jemand der Räumung verweigert, hat er sein Leben verwirkt. Wir werden ausnahmsweise Recht vor Gnade ergehen lassen.«
»Ihr wollt da hinaus, mitten ins unüberschaubare Getümmel? Vollkommen unmöglich, da könnte ich für Eure Sicherheit keineswegs garantieren. Zeichnet die Rede lieber auf und wir strahlen sie über einen Holographen aus. Das Unterfangen ist auch so noch gefährlich genug. Falls es dem Mob gelingen sollte, die Reihen meiner Leute zu durchbrechen, wärt Ihr sogar hier drin in höchster Gefahr! Wurfgeschosse könnten Euch treffen, und außerdem … «
Alanna unterbrach ihn ungeduldig. »Ich wollte hier keine Diskussion Für und Wider anstoßen, sondern habe Euch einen klaren Befehl erteilt. Werdet Ihr ihn buchstabengetreu ausführen oder muss ich Euch ersetzen und wegen schwerwiegender Befehlsverweigerung zur Jagd freigeben? Die versammelte Lynchjustiz da draußen würde sich bestimmt freuen.«
Moros wurde blass, setzte sich gehorsam in Bewegung. Er bedeutete ein paar Wachleuten, mit ihm zu kommen.
Man konnte im Inneren des Palasts anhand der Geräuschkulisse verfolgen, wann er damit begann, den Treppenbereich von den Aufständischen zu räumen. Wütende Rufe, Krachund Splittergeräusche nahmen zu. Ab und an durchbrachen gellende Schmerzensschreie diese Kakophonie.
Moros‘ Männer griffen also endlich durch, machten von der gefürchteten Mikrowellenfunktion der Cerepilums Gebrauch. Diese hocheffektiven Tötungswaffen brachten die Körperflüssigkeiten eines Angreifers binnen eines Wimpernschlags zum Kochen, eine Chance zur Gegenwehr bestand somit nicht. Die Opfer krepierten unter fürchterlichen Schmerzen.
Unter dem Eindruck dieses verstörenden Anblicks stehend, zogen sich die gewaltbereiten Demonstranten vom Palastgelände zurück. Die Bewohner Tiberias waren es nicht gewohnt, dass die Dynastie mit einer solchen Härte gegen die eigene Bevölkerung vorging. Ohne ordentlich erwirkte Jagdfreigabe wurde sonst niemand körperlich angetastet.
›Zum Glück ist dieser zimperliche Feigling Kiloon beizeiten vom Ort des Geschehens getürmt. Mein werter Gatte würde niemals zulassen, dass seinen Untertanen ein Haar gekrümmt wird. Der hätte sich eher abschlachten lassen‹, dachte Alanna befriedigt.
Moros kehrte im militärischen Laufschritt zurück, flankiert von drei Wachleuten. »Ihr könnt jetzt loslegen, die Lage ist halbwegs unter Kontrolle. Wir eskortieren Euch zum Haupteingang. Zwei Techniker installieren die Übertragungstechnik, sie sind gleich fertig. Ihr müsst nur noch kurz Bescheid geben, ob Eure Rede planetenweit ausgestrahlt werden soll.«
»Aber selbstverständlich, bis in den hintersten Winkel. Meine ›lieben‹ Untertanen müssen doch wissen, woran sie sind.«
Moros bedeutete seiner Regentin, einige Schritte hinter dem Portal stehen zu bleiben. Umringt von Moros und seinen Getreuen trat sie anschließend selbstbewusst ins Freie, wo das zornige Geschrei der Menge augenblicklich verstummte. Offenbar hatte niemand damit gerechnet, dass es ein Mitglied der Regentenfamilie wagen könnte, sich zu zeigen.


