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Die Regentin sah sich kurz um, Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen. Große Teile der glänzend weißen Palastfassade wiesen Löcher auf, die Plantolaanfenster waren mit Kratzern und Bruchstellen verunziert. So viel sinnlose Zerstörung … nur gut, dass die Tage ihres Aufenthalts hier gezählt waren. Sie straffte den Rücken und gab den Technikern ein Zeichen. Ein Signal wurde freigesetzt, und die Kommunikatoren, die jeder Bewohner Tiberias um den Hals trug, sprangen an. Sie zeigten die Übertragung dreidimensional.
»Normalerweise beginne ich meine Rede stets mit den Worten: ›Verehrte Tiberianer‹ – doch heute werde ich mir diese Ehrbezeugung sparen, denn ihr habt meinen Respekt durch eure Schandtaten verwirkt«, schallte Alannas helle Stimme über den Platz. Erste Zwischenrufe wurden laut.
»Wie ihr inzwischen gemerkt habt, werden wir gegen Störer und jede Form der Gewalt mit unerbittlicher Härte vorgehen. Darüber beschweren braucht ihr euch nicht, denn ihr wart es, die sich über das geltende Recht hinweg gesetzt und es damit außer Kraft gestellt habt. Nun müsst ihr mit den Folgen leben. Wem sein Leben lieb ist, der sollte sich besser zurückhalten.«
Alanna zeigte vielsagend auf eine übel zugerichtete Leiche, die zusammengekrümmt am Fuß der Treppe lag, damit alle Tiberianer deren durch die Hitzeeinwirkung der Mikrowellen aufgeplatzten Wunden in Großaufnahme zu sehen bekamen. Ein entsetztes Stöhnen ging durch die Menge. Es stank nach gegrilltem Menschenfleisch.
»Die Regenten Tiberias lieben ihre Untertanen, obwohl sie momentan schwere Fehler begehen und sich auflehnen«, fuhr sie in weicherem Tonfall fort. »Wenn ihr den unsinnigen Aufstand beendet, könnten wir über euren Ungehorsam hinwegsehen, und niemand muss mehr zu Schaden kommen. Es gibt übrigens sehr gute Gründe, den leidigen Konflikt beizulegen. Wenn ich erst unsere Zukunftspläne erläutert habe, werdet ihr euch für den Vandalismus schämen.«
Jetzt besaß sie die volle Aufmerksamkeit. Es war so mucksmäuschenstill, dass man eine Stecknadel zu Boden fallen hören hätte können.
Auch Kiloon, der sich mittlerweile am sicheren Zielort befand, lauschte der Übertragung. Was die Regentin im Folgenden bekannt gab, ließ ihm den kalten Schweiß ausbrechen.
*
Zwei KIN später kehrte die Regentenfamilie einschließlich Kiloon und Alanna junior in den Palast zurück. Es wäre viel zu früh gewesen, von Entwarnung zu sprechen, aber die Tumulte waren an den meisten Orten halbwegs zum Erliegen gekommen. In einigen Distrikten streikten die Arbeiter von Landwirtschaft und Versorgung noch, so dass es zu Engpässen bei der Lieferung von Lebensmitteln kam, aber die Lagerhallen waren glücklicherweise gut gefüllt. Niemand musste vorerst Not leiden.
Kiloon sah sich genötigt, seine selbstherrliche Gattin sofort auf ihre ungeheuerlichen Äußerungen anzusprechen. Er traf sie an ihrem Schreibtisch an, wo sie gemeinhin die Nachmittagsstunden verbrachte. Ohne Umschweife kam er zur Sache.
»Was hast du dir dabei gedacht, der Bevölkerung ohne vorherige Rücksprache mit mir einen solchen Humbug zu erzählen, nur um die Gemüter zu beruhigen?«
Alanna lehnte sich zurück, fuhr sich mit einer aufreizenden Geste durchs lange Haar. Aufreizend vor allem deshalb, weil sie bedächtige Ruhe ausstrahlte, während Kiloon gierig auf eine Antwort wartete. Er gedachte seine lang aufgestaute Wut loszuwerden, und dieses skrupellose Weib tat, als wäre nichts geschehen.
»Ja ich freue mich auch, dich wohlbehalten wiederzusehen«, behauptete sie, scheinbar heiter gestimmt. »Und entschuldige bitte vielmals, dass ich innerhalb kürzester Zeit den Planeten befriedet und unsere nackten Leben gerettet habe, während du den Schwanz eingeklemmt und die Flucht ergriffen hast. Wo warst du denn, als ich dich dringend hier gebraucht hätte?«
Sie lächelte immer noch, wenn auch nur mit dem Mund. Die Augen fixierten ihr Gegenüber knallhart.
»Das ist wieder typisch! Ich habe unsere Tochter in Sicherheit gebracht, falls dir das entgangen ist. Das gab dir jedoch nicht das Recht, Entscheidungen von solcher Tragweite zu fällen und diese nach außen zu kommunizieren. Und Menschen ohne Jagdfreigabe töten zu lassen, das ist barbarisch!«
»Ach ja? Ich musste improvisieren, ein Exempel statuieren! Wäre es dir denn lieber gewesen, ich hätte gar nichts unter nommen, wäre dem Mob zum Opfer gefallen und hätte Tiberia dem sicheren Untergang überlassen?«, bemerkte sie spitz.
»Das natürlich nicht! Aber ein wenig mehr Besonnenheit … was glaubst du, was los sein wird, wenn die Leute merken, dass du sie nur beschwichtigt hast und in Wirklichkeit deine Versprechen, die du bedauerlicherweise in unser beider Namen abgegeben hast, nicht einhalten kannst?«
»Wer sagt denn, dass ich das nicht kann oder will! Selbstverständlich wird alles so umgesetzt. Anstatt erst wie geplant 13.5.18.17.4 mit dem Siedlungsbau auf dem Mars zu beginnen, werden wir ab sofort damit anfangen und die Bevölkerung sukzessive dorthin transferieren. Wir wissen ja, in welchen Distrikten die größten Unruhestifter sitzen. Die werden zuerst hier verschwinden, damit Ruhe einkehrt. Wir schlagen somit zwei Fliegen mit einer Klappe.«
»Ich meinte nicht das Siedlungsprojekt, obwohl auch da Eile keineswegs angebracht wäre! Wir wollten aus gutem Grund abwarten, inwieweit die Terraner sich auf unserem Heimatplaneten etablieren und rechtzeitig Verhandlungen mit ihnen aufnehmen. Mir liegt viel an einem friedlichen Zusammenleben. An diese Vorgehensweise fühlst du dich offenbar nicht mehr gebunden, wahrscheinlich weil der Vorschlag von mir gekommen war. Manchmal denke ich, du gehst grundsätzlich in Opposition.
Noch schlimmer finde ich dein vollmundiges Versprechen, wir würden auf dem Mars von Beginn an ein kapitalistisches System mit freier Berufswahl einführen und Familienverbände zulassen. Willst du allen Ernstes riskieren, dass unser Volk zum zweiten Mal den gesamten Planeten ruiniert? Man sieht doch auch auf Terra, wohin das führt!«
Alanna winkte ab. »Wir werden uns hüten, das Volk mitbestimmen zu lassen. Unsere Dynastie wird klare Regeln vorgeben. Wer sich weigert zu kooperieren, wird nichts mehr verdienen. Wir ziehen einfach zur Strafe das komplette Vermögen der notorischen Querdenker ein. Glaube mir … sobald es den Leuten ans Geld geht, tun sie alles, um es nicht zu verlieren. Es ist wie eine Droge, die man zwingend zum Überleben braucht. Sie macht verdammt schnell süchtig.
Und was die paar Terraner angeht … sie werden sich alledem fügen, sich am unteren Rand unserer Gesellschaft integrieren – oder wieder gehen müssen. Keiner hat sie je eingeladen, sich auf unserem Territorium niederzulassen.«
»Du willst auf dem Mars zur allein herrschenden Tyrannin mutieren und mich geflissentlich übergehen, ja?«, schrie Kiloon. Er war außer sich.
Seine Ehefrau sah ihn missbilligend an und eilte hastig zur Schwebetür, die sich soeben mit einem leisen Zischen geöffnet hatte. Da stand ihre gemeinsame Tochter. Sie wirkte wegen des lautstark geführten Disputs ein bisschen verängstigt. Alanna nahm sie schützend in den Arm.
Ein böser und zugleich triumphierender Blick aus weit aufgerissenen Augen traf den Regenten. »Da siehst du, was du mit deiner cholerischen Art angerichtet hast! Was ich unternehme, wird letzten Endes ihr zugutekommen. Sie wird uns dereinst beerben, Kiloon. Und ich sorge nach Kräften dafür, dass es da noch etwas zu erben gibt! Du mit deiner defensiven, allzu duldsamen Art würdest schon jetzt alles den Bach hinunter gehen lassen.«
Und wieder hatte die eiskalte Schlange ein verbales Duell gewonnen. Zudem gab der Erfolg ihr Recht. Kiloon resignierte und schlich wie ein geprügelter Hund von dannen.
Mars, 16. Mai 2119 nach Christus, Dienstag
Die lange, strapaziöse Reise neigte sich ihrem Ende zu. Der sowohl mit chemischen Brennstoffen als auch mit Ionenantrieb sowie zwei zusätzlichen Sonnensegeln ausgestattete Raumfrachter New Horizons 8 setzte nach einer Flugzeit von viereinhalb Monaten sanft auf der Marsoberfläche auf. Von den insgesamt zehn baugleichen Passagierfrachtern waren vier bereits in den Tagen zuvor angekommen, der Rest noch in den Weiten des Weltalls unterwegs.
Der Passagierfrachter hatte die riesige Distanz zwischen den Planeten auf einer sogenannten Hohmannbahn zurückgelegt, einem energetisch günstigen Übergang zwischen zwei Bahnen um einen dominierenden Himmelskörper wie der Erde. Den guten, alten Mond hatte man für ein SwingByManöver benutzt, um die Geschwindigkeit zu erhöhen.
Swetlana und Philipp Emmerson kramten die wenigen persönlichen Gegenstände, die sie von der Erde hatten mitbringen dürfen, aus der verschließbaren Schublade unter ihrer Doppelkoje und machten sich zum Ausstieg bereit. Sie waren angewiesen worden, paarweise zur Luke zu gehen und dort auf weitere Instruktionen zu warten.
Das heitere Szenario, wie die Paare Händchen haltend aus den Kabinen traten und, fröhlich plaudernd, in Zweierreihen den Flur entlang marschierten, erinnerte ein wenig an einen Kindergartenausflug, was Swetlana scherzhaft anmerkte.
»Oder an die Arche Noah«, lachte Philipp ergänzend. Beide platzten schier vor Aufregung, und genauso erging es auch den anderen Passagieren. Gespannte Aufbruchsstimmung lag in der Luft. Sie alle begannen hier nicht nur ein neues Leben, sondern schrieben auch Menschheitsgeschichte – als allererste Siedler, die dauerhaft auf dem Mars leben und arbeiten sollten. Aus Theorie wurde nun Praxis, ein himmelweiter Unterschied.
Das Ehepaar Emmerson gehörte zu den Ältesten. Die meisten Umsiedler waren zwischen dreiundzwanzig und dreißig Jahren alt, also im gebärfähigen Alter. Da Swetlana jedoch kerngesund war und bislang noch keine Kinder geboren hatte, sollte sie die Chance bekommen. Das Los hatte am Ende zu ihren Gunsten entschieden.
»In wenigen Augenblicken ist es so weit und wir werden die Ausstiegsluke öffnen. Ab sofort wird jeder Ihrer Schritte für die Daheimgebliebenen mitgeschnitten. Ich darf Sie also bitten, sich so zu verhalten, wie es für eine Zeitzeugendokumentation angemessen ist. Wir gehen geordnet zu den Rovern, in die jeweils vier Personen einsteigen können, und bringen Sie auf dem schnellsten Wege nach und nach zu Ihren Quartieren«, befahl die Stimme aus dem Lautsprecher.
»Bitte wundern Sie sich nicht, wenn Ihnen das Atmen nach dem Ausstieg ein wenig schwer fällt. Die Lungen müssen sich erst an die veränderten Druckverhältnisse und die leicht abweichende Zusammensetzung der Atemluft gewöhnen. Atmen Sie einfach ruhig weiter und hyperventilieren Sie nicht. Über die ersten Tage werden Sie sich müde, schwindelig und kraftlos fühlen. Gehen Sie zunächst lieber tagsüber nicht ins Freie. Auch Ihre sonnenentwöhnte Haut braucht einige Zeit, sich an die marsianische Lichteinstrahlung anzupassen. Machen Sie sich keine Sorgen, der menschliche Körper ist anpassungsfähig. Die Adaption wird schnell vonstattengehen.
Wie Sie alle bereits wissen, beträgt der Sol, also der Marstag, 39 Minuten und 35,244 Sekunden mehr als der irdische Tag. Es ist daher gut möglich, dass Ihnen Ihre innere Uhr ein wenig verstellt vorkommen wird. Um diesem Phänomen Herr zu werden, sind in allen Häusern klassische irdische Uhren installiert, die einfach etwas langsamer laufen, um die Zeitdifferenz auszugleichen. So fühlen Sie sich wie zu Hause. Es ist wichtig, dass Sie die Pflichtveranstaltungen pünktlich besuchen. Dazu werden Sie rechtzeitig Informationen erhalten.«
»Ein bunter Katalog an Verhaltensregeln – hoffentlich geht das nicht so weiter«, murmelte Philipp augenrollend.
Die Versiegelung der Luke wurde mithilfe von Druckluft geöffnet. Im Zeitlupentempo senkte sich eine mit rutschfesten Noppen überzogene Rampe zu Boden. Jeder der zuvorderst stehenden Passagiere versuchte angestrengt, über die Schulter seines Vordermanns hinweg, einen schnellen Blick auf die Marsoberfläche zu erhaschen. Man sah auf dem Landeplatz oxidroten Sand und ein paar Steine, sonst nichts.
Die schneeweiße Siedlung in Modulbauweise lag etwa drei Kilometer entfernt. Man hatte die fünfhundert Häuser für tausend Bewohner nach langem Hin und Her am Ufer eines uralten Flussbettes in der Aram Dorsum-Region erbaut, das sich dank der Regenfälle aktuell wieder mit Wasser füllte. Die Häuschen hoben sich in starkem Kontrast von der überwiegend rotbraunen Landschaft ab, doch waren rund um die Häuser sattgrüne Pflanzeninseln erkennbar. Auch am Flussufer zeigte sich zartes Grün.
»Da liegt sie, unsere neue Heimat. Sieht sie nicht wunderschön aus? Und schau mal, die riesengroßen Gewächshäuser. Alle schön in Reih und Glied aufgestellt«, schwärmte Swetlana ergriffen.
»Nun ja … ein bisschen karg und auf dem Reißbrett entworfen, aber besser als unsere alte Behausung«, relativierte Philipp, dessen Atemfähigkeit deutlich eingeschränkt schien. Er röchelte leicht beim Luftholen.
Der geländegängige Marsrover rumpelte hart über unebenes Gelände, fuhr durch ein Tor und hielt im Herzen der Siedlung. Eine in Kreisform errichtete Ansammlung von Gebäuden kam in Sicht. Der Fahrer drehte sich um und erklärte:
»An diesem zentralen Platz finden Sie sämtliche Gemeinschaftsgebäude, die für Versammlung, Freizeitspaß und Verwaltung vorgesehen sind. Dort drüben ist die Krankenstation. Alle Straßen gehen von hier ab, Sie können diesen Ort also nicht verfehlen. Bitte steigen Sie jetzt aus und folgen Sie der blauen Markierung in den flachen Bau links, dort werden die Wohneinheiten verwaltet. Man wird Ihnen Ihr Haus zuweisen.«
Die Emmersons leisteten der Aufforderung Folge, trabten den anderen Siedlerpaaren hinterher. Und schon schnurrte das solarbetriebene Elektrofahrzeug davon, um die nächsten Einwohner abzuholen.
Die Bürokratie im Office glich derjenigen auf der Erde, wie sie seit hunderten von Jahren nahezu unverändert funktionierte. Man musste Nummern aus einem Automaten ziehen, um irgendwann an die Reihe zu kommen. Schließlich wurde Swetlana und Philipp das Haus Nummer 144 am westlichen Rand der Siedlung zugewiesen, die man auf den Namen Phönix 1 getauft hatte.
Sie machten sich zu Fuß auf den Weg. Alle Häuschen sahen gleich aus, in den kleinen Gärten zur Selbstversorgung standen exakt die gleichen Nutzpflanzen zur Verfügung. Kohlrabi, Möhren, Zucchini, Tomatenpflanzen und einen Obstbaum konnte Swetlana von weitem erkennen. Eine Bewässerungsanlage berieselte die grüne Pracht gleichmäßig.
»150, 148, 146 … dort, das hier muss Unseres sein!«, keuchte Swetlana, der der kurze Fußmarsch körperlich zugesetzt hatte. »Hier sind überall deutsche Fahnen an den Zäunen angebracht. Geht die Zuteilung nach Nationalitäten, oder was?«
Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Die verantwortlichen Planer der Urbanisation hatten der Tatsache Rechnung getragen, dass sich Menschen gleicher Sprache und Herkunft stets zusammenzurotten pflegen. Auf der Erde konnte man diesen Effekt bei Migranten quer durch alle Länder beobachten. Man hoffte darauf, dass auf diese Weise schnell Freundschaften und Arbeitsgemeinschaften zustande kommen könnten, denn ohne sozialen Zusammenhalt würde das Leben im Exil für Manche zur Hölle werden.
Sie durchquerten den Vorgarten ihrer neuen Behausung. Philipp hielt seinen rechten Daumen auf das Identifikationsfeld neben der Schiebetür aus Aluminium, die augenblicklich zur Seite glitt. Neugierig lugten er und seine Frau ins Innere des quadratischen Hauses.
Weißer Kunststoff, soweit das Auge reichte. Das gesamte Gebäude, einschließlich des mit leistungsfähigen Solarkollektoren verkleideten Daches, schien aus einem Guss gefertigt worden zu sein. Das galt auch für die wichtigsten Möbel.
Schränke, Esstisch, Küchenzeile – alles war fest eingebaut, verschmolz nahtlos mit den Wänden und dem Fußboden. Das Doppelbett im Elternschlafzimmer hatte man in eine Mulde des Bodens eingelassen.
Neben jeder Tür gab es ein Glasfeld in Regenbogenfarben. Philipp wischte vorsichtig mit der flachen Hand über eines davon. Das Pad reagierte, summte leise. Gedimmtes, indirektes Licht schaltete sich ein. Je nachdem, auf welchem Teilbereich des Feldes man sich mit den Fingern befand, erstrahlten die Plastikmodule in unterschiedlichsten Pastellfarben. Man hatte diese Technik einst von der Versammlungshalle in der CydoniaRegion abgeschaut. Mit einer Innovation: Die Helligkeit des Lichtspektakels ließ sich über den jeweiligen Fingerabstand vom Pad steuern.
»Klasse Idee! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass uns das sterile Weiß bald in den Wahnsinn treiben könnte«, freute sich Philipp und spielte ein wenig mit dem Pad. Er entschied sich im Wohnzimmer für einen warmen Orangeton, der bestens mit den hellgrauen Auflagen der Couchlandschaft harmonierte.
»Auf der Erde hätten wir uns eine solche Spielerei niemals leisten können. Hier hingegen gehört sie offensichtlich zum Standard«, stellte er begeistert fest.
Das Badezimmer konnte durchaus als spektakulär bezeichnet werden. Der türkisblaue Kunststoff war hier mit glitzernden, sandfarbenen Körnchen durchsetzt, die dezent vor sich hin funkelten und den Raum größer erscheinen ließen. Der Anblick erinnerte angenehm ans Meer. An der Zimmerdecke strahlte eine stilisierte Sonne gelbliches Licht ab, während die Beleuchtung von Badewanne und Boden in sanften Wellen bläulich pulsierte. Die Optik suggerierte Bewegung, als befände man sich mit den Füßen im seichten Wasser eines Strandes.
Erfreut stellte Swetlana bei ihrem weiteren Rundgang fest, dass man bereits für zwei Kinder vorgesorgt hatte. Es gab ein relativ großes Zimmer, in dem zwei Betten frei schwingend von der Decke hingen, die sich rundum mit Plexiglas gegen Herausfallen absichern ließen. Man erreichte sie bequem über eine kunterbunte, elektrisch betriebene Aufzugkapsel an der Wand. Mehrfach probierte die künftige Mutter aus, wie man die Betten mittels einer Fernbedienung an die Kapsel andockte, so dass Kinder gefahrlos in ihre hängenden Betten umsteigen konnten. Dank dieser intelligenten Lösung blieb am Boden genügend Platz zum Spielen und Toben.
»Dann kann der erste kleine Marsmensch ja bald kommen«. Swetlana schmiegte sich glücklich in Philipps Arme.
*
Schon am folgenden Tag mussten die Emmersons feststellen, wie festgefügt und überreguliert in der Marsexklave Phönix 1 der Tagesablauf war. Es gab Schulungen in Gartenbau und Haushaltsführung, dazu einen Kurs mit albernen Rollenspielen über Konfliktbewältigung, Kommunikation und den allgemeinen zwischenmenschlichen Umgang; Teilnahme war Pflicht. Man musste feste Tageszeiten für die Gartenarbeit einhalten und durfte seine Behausung ansonsten nur nachts verlassen. Dabei hatten die Leute jedoch innerhalb des mit einer zwei Meter fünfzig hohen Mauer befriedeten Siedlungsgebietes zu bleiben.
Das Freizeitangebot umfasste ein 5D-Kino, ein hochmodernes Schwimmbad und diverse Tanzveranstaltungen, die jedoch nicht täglich stattfanden. Die Organisation wirkte reichlich chaotisch, hatte sich noch nicht eingependelt.
»Freiheit habe ich mir ein wenig anders vorgestellt«, lamentierte Philipp nach zwei Wochen Stubenhockerei. »Ich möchte gerne die umliegende Gegend erkunden und meinen Tagesablauf selber bestimmen. Die können uns doch nicht ewig an der kurzen Leine halten! Wenn das so weiter geht, bekomme ich einen Lagerkoller.«
Am Ende der dritten Woche suchte er die Verwaltung auf, um nach Sondererlaubnissen zu fragen. Mittlerweile fehlten nur noch zwei Raumfrachter, also insgesamt zweihundert Personen. Da hätte es nach seiner Ansicht doch möglich sein sollen, allmählich so etwas wie Alltagsnormalität in der Siedlung aufkommen zu lassen.
Aber weit gefehlt. Die unattraktive Dame im Verwaltungsbüro erklärte ihm, dass auf der Erde noch Verhandlungen im Gange seien, wie eventuell anwesenden Außerirdischen zu begegnen wäre. Es gebe Hinweise darauf, dass sich weitere, nicht von der Erde stammende Marsianer auf dem Planeten aufhielten. Bis das vollends geklärt sei, solle man sich ruhig und unauffällig verhalten und die Urbanisation aus Sicherheitsgründen keinesfalls verlassen.
»Das kann lange dauern«, seufzte die dürre Brünette mit dem Nasenhöcker. »Sobald mehrere Nationalitäten an der Entscheidungsfindung beteiligt sind, ist eine Einigung schwer zu erzielen. Soll man sich den Fremden zu erkennen geben, wie soll man zu kommunizieren versuchen, könnten die Anderen uns womöglich feindlich gesinnt sein, wie verteidigen wir im Ernstfall unser Territorium … über solche und andere Dinge redet man sich die Köpfe heiß.
Momentan liegen die USA mit den Osteuropäern im Clinch. In nächster Zeit besteht wohl keine Chance auf eine einheitliche Gangart, tut mir leid. Ich muss Sie also bitten, sich strikt an die bestehenden Regeln zu halten.«
»Super! Und ich habe geglaubt, es gäbe hier die Möglichkeit zu einem echten Neubeginn. Dabei ist alles beim Alten. Wir haben gleich die unangenehmsten Kulturgüter der Erde hier installiert, wie es scheint«, schimpfte Philipp. Er war desillusioniert und musste sich eingestehen, dass er und seine Frau wildromantischen Vorstellungen über ein schönes Leben auf dem Mars aufgesessen waren, die mit der Realität wenig gemein hatten.
»Schlimmer noch«, erwiderte die dürre Krähe sarkastisch.
»Wir hängen trotz der riesigen Entfernung an stählernen Marionettenfäden. Hätte ich das vor meiner Bewerbung geahnt, würde ich jetzt bestimmt nicht hier auf dem Mars sitzen und meinen Mitmenschen unfreiwillig auf die Nerven gehen. Ich hatte es früher so bequem auf meinem Verwaltungsposten im Europäischen Parlament.«
Mars, 12. August 2121 nach Christus, Dienstag
In Phönix 1 war nach und nach so etwas wie Alltag eingekehrt, auch wenn dieser mit den alten Gewohnheiten von der Erde wenig zu tun hatte. Bis auf weiteres galt für den Mars dasselbe Zeitsystem wie auf der Erde, weil die Siedlung als Kolonie und nicht als eigenständiges Land galt. Ein marsianisches SolJahr betrug zwar aufgrund der weiten Entfernung zur Sonne rund 668 Sol, war also annähernd doppelt so lang wie ein irdisches, aber das interessierte auf der Erde niemanden. Somit lag beispielsweise der August in dem einen Jahr im Hochsommer, im nächsten im tiefsten Winter. Manche Einwohner verwirrte das, denn die willkürlich festgelegten Monate wirbelten den natürlichen Rhythmus durcheinander.
Dabei wäre es so einfach gewesen, ein sinnvolleres Zeitsystem einzuführen. Bereits 1985 hatte der Raumfahrtingenieur und Politologe Thomas Gangale einen Marskalender entworfen und diesen nach seinem Sohn Darius Darischer Kalender benannt. Dieser Kalender teilte das SolJahr in 24 Monate auf, wobei der Jahresbeginn zugleich den Frühlingsanfang auf der nördlichen Hemisphäre des Planeten markierte. Aber nein, die Mächtigen der fernen Erde wollten offenbar vermeiden, Umrechnungen vornehmen zu müssen, wenn es um gemeinsame Termine ging. Der Mars duckte sich unter der irdischen Knute.
Als mindestens genauso gewöhnungsbedürftig empfanden die Marskolonisten die Temperaturen. Wollte man vor die Tür gehen, musste man sich meistens dick anziehen. Im Sommer kletterte das Thermometer tagsüber selten auf 20 Grad Celsius, während die Temperatur nachts auf kalte 6 bis 10 Grad sank. Richtig unangenehm waren die langen, eiskalten Winter. Temperaturen von minus 50 Grad waren da keine Seltenheit.
Swetlana grämte sich. Sie war immer noch nicht schwanger geworden, während die ersten Frauen mittlerweile ihre Babys schon zur Welt gebracht hatten, manche sogar Zwillinge. Nun nahm sie auf Anraten des Frauenarztes Hormone ein.
Philipp Emmerson hatte man gleich nach der Ankunft zur Wartung der Bewässerungsanlagen in den Gewächshäusern am südlichen Stadtrand eingeteilt, während Swetlana zusammen mit einer Schar anderer Frauen die Verwaltungsgebäude putzte. Die weitaus größere Anzahl der Kolonisten wurde für Wartung und Pflege, Versorgung und Verwaltung der Siedlung gebraucht. Es gab zudem noch einige Wissenschaftler, die Experimente durchführten und die Ergebnisse regelmäßig zur Erde schickten. Jeder Einwohner hatte genügend zu tun.
Dennoch kam häufig eine latente Unzufriedenheit auf, die vor allem daraus resultierte, dass man die Siedlung so gut wie gar nicht verlassen konnte. Die zehn Marsrover waren ausschließlich zur Erledigung offizieller Aufgaben gedacht, durften nur von einer Handvoll Personen gesteuert werden. Es gab zwar monatlich PicknickAusflüge auf benachbarte Hügel, doch die frustrierten Philipp eher. All das Geplauder und Geplapper, das neugierige Taxieren … Hin und wieder musste er einfach mal alleine sein, um in Ruhe seinen Gedanken nachzuhängen.


