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»Wir müssen nur fest daran glauben. Wir sind nicht so weit gekommen, um irgendwann aufzugeben«, entgegnete ihr Gatte im Brustton der Überzeugung. Doch insgeheim nährte er Zweifel. Es gab viele Faktoren, die das Unternehmen jederzeit scheitern lassen konnten. Was sollte er hier draußen im Nirgendwo unternehmen, falls Swetlana beispielsweise gesundheitliche Probleme bekam? Die sorgenvollen Überlegungen hielten ihn für den Rest der Nacht wach, obgleich er sich zerschlagen und übermüdet fühlte.
Gegen fünf Uhr früh erhob er sich mit steifen Gliedern, füllte den Wasserkanister noch einmal auf und weckte Swetlana. Sie litt an Kreuzschmerzen, ihre Laune fiel dementsprechend aus. Philipp konnte keinerlei Rücksicht auf Befindlichkeiten nehmen, trieb sie unbarmherzig zur Eile an.
Eine Viertelstunde später war das gesamte Equipment wieder abgebaut und im Rover verstaut, es konnte weitergehen. Von eventuellen Verfolgern war weit und breit nichts zu erkennen.
Beim Fahren kam Philipp das geheimnisvolle Glitzern wieder in den Sinn, das er weiter östlich gesehen hatte. Vielleicht würde sich bald eine Möglichkeit ergeben, dieser Stelle einen Besuch abzustatten, sobald das Zelt an seiner endgültigen Position aufgeschlagen war. Er konnte und wollte nicht tagelang nur herumsitzen und abwarten, dass die Zeit verstrich.
Gegen Mittag war die Hügelkette zum Greifen nah. Philipp entschloss sich, sie an ihrem westlichsten Punkt zu umrunden und zwischen Fluss und Erhebung nach einem Lagerplatz zu suchen. Eine Stelle schien so gut oder schlecht wie die andere zu sein. Es gab keine Höhlen oder Felsspalten, in denen man ein Zelt hätte verbergen können. Wenigstens mussten sie jetzt nicht mehr befürchten, dass man die Staubwolke des Rovers weithin erkennen könnte.
Entmutigt stellte der Deutsche, dessen amerikanischer Vater schon in seiner frühesten Jugend das Weite gesucht hatte, das Gefährt am Flussufer ab, um Rast zu machen. Hier war das Ufer noch frei von Bewuchs, weil man es nur in Siedlungsnähe künstlich begrünt hatte. Er warf sich etwas Wasser ins Gesicht, um es vom Staub zu säubern. Als er wieder klar sehen konnte, fiel sein Blick auf eine dunkle Delle am Hang neben ihnen. Wie hoch mochte sie liegen, so sieben, acht Meter?
»Swetlana, ich klettere mal eben da hinauf. Rühre dich bitte nicht vom Fleck, ich bin gleich wieder da!« Er kramte in der Werkzeugkiste, förderte Hammer und Meißel zutage. Damit schlug er provisorische Trittstufen in die steilste Stelle des relativ weichen Felsens. Er bestand aus rotem Sandstein. Behände kletterte er hinauf, erreichte ein kleines Plateau. Geröll löste sich, ein paar größere Brocken plumpsten direkt neben Swetlanas Füßen zu Boden. Erschrocken sprang sie zur Seite. Dann war Philipp aus ihrem Blickfeld verschwunden.
Kurz darauf tauchte sein dunkelblonder Haarschopf wieder auf, gefolgt vom gesamten Körper. »Was für ein Glück, dass wir hieran nicht achtlos vorbeigefahren sind! Hier oben gibt es zur Linken ein Loch in der Felswand, in das unser Zelt hineinpasst. Der wellige Untergrund ist voller angewehtem Sand, so dass der Boden schön weich ist. Ich hole jetzt die Sachen, stelle das Zelt auf – und danach helfe ich dir beim Aufstieg. Wir haben ein stabiles Seil dabei«, rief Philipp.
Die Schwangere formte ihre Hände zum Trichter, um gegen das Heulen des Windes anzukommen. »Und wo verstecken wir unseren Rover? Wenn sie den finden und mitnehmen, sind wir hier draußen verloren.«
»Darum kümmere ich mich später!«
*
Am nächsten Tag machte sich Philipp gegen den Willen seiner Frau auf den Weg gen Osten. Natürlich hatte er ihr vorsichtshalber kein Wort von einem mysteriösen Glitzern erzählt, das er untersuchen wollte. Er ließ sie in dem Glauben, dass er lediglich nach eine Stelle forschte, an der man den Rover ungesehen parken konnte. Sie würden ihn ja bis zur Rückfahrt nicht mehr benötigen.
Die werdende Mutter war hinund hergerissen. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn, und das war nicht nur hormonell bedingt. Einerseits verstand sie, dass das verräterische Fahrzeug hier weg musste, andererseits jedoch verspürte sie große Angst vor dem Alleinsein. Schließlich war man auf dem Mars wirklich so einsam und verlassen wie ein Mensch nur sein konnte, sobald man sich von der bis dato einzigen menschlichen Siedlung ein Stück entfernte.
Philipp legte noch einen ausreichenden Wasservorrat an und schärfte ihr ein, keinesfalls vom Felsplateau herunterzuklettern oder auch nur bis zur abbröckelnden Kante zu gehen. Sie solle sich möglichst viel hinlegen und entspannen. Er versprach ihr feierlich in die Hand, dass keine Macht der Welt ihn davon abhalten werde, vor Einbruch der Dunkelheit zu ihr zurückzukehren.
Angespannt fuhr er los. Die schreckliche Vorstellung, dass Swetlana und die ungeborenen Kinder in dieser lebensfeindlichen Einöde unweigerlich sterben würden, falls er verunglückte, schärfte seine Sinne. Er achtete auf jede Bodenrinne, fuhr langsam und vorausschauend. Mehrfach musste er Gerölllawinen ausweichen, die sich am Fuße der Hügel auftürmten. Vermutlich hatte sie der Regen im Frühjahr zu Tal befördert. Die Abbruchkanten sahen frisch aus. Ein Grund mehr, sich gegen Gefahren von oben vorzusehen.
Nach dreieinhalb Stunden ging die steile Felsformation in moderate Hügel über, die an ihrer höchsten Stelle aber dennoch zackige Kanten aufwiesen. Regenfälle und Erosion hatten merkwürdige Formen geschaffen, von denen einige an Forken erinnerten. Gerade als Philipp eine davon in Gedanken Mistgabel des Teufels taufte und einen Moment abgelenkt war, prallte er fast gegen sein Ziel. Verdattert hielt er den Rover an und stieg aus.
Vor seiner Nase erhob sich ein etwa zwei Meter hohes Gebilde aus mattglänzendem Metall, das von der Form her an ein Iglu erinnerte. Den Durchmesser schätzte Philipp auf rund sieben Meter. Auf einer Plattform daneben waren antennenähnliche Vorrichtungen angebracht. Die einen Stäbe wiesen kugelförmige Enden auf, andere sahen eher wie Schalen aus, die ihre Öffnung dem Himmel entgegen streckten. Bestimmt handelte es sich da um Messinstrumente – nur wofür, und wer hatte sie aufgestellt?
Die Gedanken überschlugen sich. Konnte das eine Außenstation der Kolonie sein? Warum aber hielt man sie geheim? So ein Ding musste doch sicherlich regelmäßig gewartet werden! Andererseits konnte es keinen Zweifel daran geben, dass die Messstation, oder worum es sich hier handeln mochte, menschlichen Ursprungs war.
Geräusche drangen an sein Ohr. Machte sich jemand im Inneren des mutmaßlichen Aluminiumiglus zu schaffen, war das Ding vielleicht sogar bemannt? Neugierig schlich er dicht an der metallenen Oberfläche entlang, bis er auf dünne Ritzen stieß. Das musste der Eingang sein, auch wenn er beim besten Willen keinen Öffnungsmechanismus entdecken konnte.
Philipp war mit den Rücken zum Hügel gestanden. Einer intuitiven Eingebung folgend, drehte er sich um – und erstarrte zu einer Statue. Oben auf dem Hügel, in etwa fünfzehn Meter Entfernung, stand ein schlanker, groß gewachsener Mensch! Auch dieser schien unschlüssig, was er nun anstellen sollte. Sein leuchtend kobaltblaues, knielanges Gewand flatterte im Wind. Nach kurzem Zögern setzte er sich in Bewegung, kam geradewegs auf Philipp – oder das in seinem Rücken stehende Iglu – zu.
In Philipps Gehirn stritten sich die Reflexe. Einer verlangte nach sofortiger Flucht, ließ ihn verstohlen zum Rover blicken. Der zweite jedoch hieß Neugier. Was hätte in dieser Situation näher gelegen als herauszufinden, wer diese Leute waren und mit welchem Auftrag sie hier in der Einöde forschten? Der Typ hatte ihn offenkundig gesehen und hegte vermutlich ähnliche Gedankengänge. Falls diese unerwartete Begegnung Folgen zeitigen würde, wäre es zur Flucht ohnehin schon zu spät.
Mit jedem Schritt, den der Fremde näher kam, erkannte Philipp mehr Details. Der Mann musste mindestens zwei Meter dreißig groß sein, ähnelte einem Basketballprofi. Er war sehr schlank, seine Füße steckten in teuer aussehenden Stiefeletten. Das einem Kaftan ähnliche Gewand mochte aus veredelter Seide oder einer glänzenden Kunstfaser bestehen, wirkte leicht und luftig. Um den Hals trug er ein rundes Schmuckstück, das er soeben aufklappte und etwas hinein murmelte. Philipp hatte noch nie von derartigen Funkgeräten gehört.
Er fasste sich ein Herz, ging dem Unbekannten entgegen. In der auf dem Mars gebräuchlichen Universalsprache Englisch begrüßte er ihn. »Hello, how are you? I have never seen you here before. Do you live in Phoenix One?«
Der Mann antwortete nicht, musterte ihn nur. Die Luke im Iglu öffnete sich. Im Eingang wurde ein weiterer Mann sichtbar, doch dieser war kräftiger gebaut und trug ein feuerrotes Gewand von gleicher Machart. Er äußerte etwas für Philipp vollkommen Unverständliches, scheuchte den Blauen ins Innere der Metallbehausung und verschloss sie von innen.
»Hey! It is not very friendly, to leave me standing out here without any explanations!«, protestierte Emmerson. Aber keiner der beiden Fremden reagierte darauf. Das Iglu war und blieb verschlossen.
Philipp widerstand der Versuchung, einfach an Ort und Stelle zu bleiben und das Ding zu observieren. Er musste vor Einbruch der Dunkelheit bei Swetlana im Versteck ankommen und vorher noch irgendwo in der Nähe den Rover loswerden. Schweren Herzens startete er sein Gefährt, warf einen letzten Blick auf die geheimnisvolle Station und wendete.
Die Rückfahrt bot genügend Zeit und Muße, Analysen anzustellen. Er wälzte Gedankenfragmente durch seinen Hirnkasten, zog ein paar hervor, beleuchtete sie im Licht des Verstandes und stellte sie, innerlich kopfschüttelnd, wieder an ihren Platz zurück. Das Ganze wollte einfach keinen Sinn ergeben.
Wieso sollten sich, um alles in der Welt, seltsam verkleidete Wissenschaftler der eigenen Kolonie da draußen im absoluten Niemandsland tummeln? Falls es welche gewesen wären, hätten sie doch sicher mit ihm geredet und gefragt, was er dort zu suchen hätte. Ihm waren außerdem Personen dieser Körpergröße nicht erinnerlich. Bei den monatlichen Versammlungen wären solche Riesen doch unweigerlich aufgefallen!
Es gab da noch eine halbwegs plausible Möglichkeit. Vielleicht hatte man diese Leute von der Erde aus separat hergeschickt, nicht als Siedler, sondern nur für eine zeitlich begrenzte Forschungsmaßnahme? Waren sie Wartungstechniker? Aber halt – blieben immer noch die seltsame Kleidung und der Unwille oder die Unfähigkeit zu jeglicher Form der Kommunikation.
Aliens? Wie Jedermann wusste natürlich auch Philipp, dass man hier auf dem Mars Zeugnisse einer Zivilisation gefunden hatte. Dass Vertreter dieser Spezies aber noch heute auf dem Planeten leben könnten, davon hatte er kein Sterbenswörtchen gehört. Musste seine Unkenntnis aber zwangsläufig bedeuten, dass es sie nicht gab? Vertuschte die Obrigkeit etwas? Zuzutrauen wäre es den Regierenden der Erde durchaus gewesen. Ihn schauderte bei dem Gedanken, dass die Kolonie von humanoiden Intelligenzen umringt sein könnte, die nicht von der Erde stammten.
Sein suchender Blick fiel auf eine Geröllhalde, die auch dicke Felsbrocken enthielt. Wenn er ein paar kleinere Steine entfernte, würde es gelingen, den Rover dahinter zu parken.
Er holte einen Klappspaten aus der Werkzeugkiste und begann zu schippen. Perfekt! Man musste schon um die Felsen herumgehen und explizit an dieser Stelle suchen, um das völlig verstaubte, khakifarbene Gefährt zu entdecken. Beim bloßen Vorbeifahren gelänge das hingegen keineswegs, Philipp probierte es mehrfach aus. Dann trat er, halbwegs zufriedengestellt, einen längeren Fußmarsch an.
In der Abenddämmerung kehrte er zu Swetlana zurück. Sie hing ihm weinend am Hals.
»Philipp, sie werden spätestens morgen hier sein! Ich habe Staubwolken am Fluss gesehen«, lamentierte sie ängstlich.
Er strich ihr übers weißblonde Kurzhaar. »Keine Sorge! Der Rover ist jetzt gut versteckt, und wir verhalten uns hier oben einfach ruhig. Aber du wirst nie erraten, was ich vorhin Aufregendes gesehen habe.«
Für diesen Abend war die Entspannung gelaufen. Swetlana fragte ihrem Mann ein Loch in den Bauch – und am Ende waren sie sogar im Besitz einer mehr oder weniger glaubhaften Geschichte, die sie Philipps Vorarbeiter und Marcel Dubois bei der Rückkehr auftischen konnten.
*
Die Tiberianer spähten beunruhigt durch die von der Innenseite her transparente Außenhaut ihrer Station. Das Iglu, bei den Tiberianern Celludrom genannt, bestand hauptsächlich aus hartem Plantolaan, war aber mit einer hauchdünnen Schicht einer porösen Metalllegierung bezogen. Wie bei einem Spiegel konnte man nicht hinein, sehr wohl aber hinaus blicken.
Als sie den ungebetenen Gast in einer rötlichen Staubwolke davon fahren sahen, atmeten sie auf. Es war bereits schlimm genug, dass der lästige Terraner Notiz von ihrer Anwesenheit genommen hatte, aber wenigstens zog er zeitnah wieder ab. Sie würden den Zwischenfall bei der Vordersten Alanna melden müssen. Es konnte nicht lange dauern, bis weitere terrestrische Kolonisten hier auftauchten. Wahrscheinlich musste man die Station aus Vorsichtsgründen sogar dauerhaft aufgeben.
»Was wird er bei seiner Rückkehr in der Siedlung erzählen? Ober er wohl ahnt, woher wir stammen oder was wir hier machen?«, sinnierte der rotblonde Wissenschaftler namens Weenihas 283/13.5.18.12.4.
Der Wachmann lachte markig. »Also, von der Existenz Tiberias ahnt er mit Sicherheit nichts. Dass wir Marsianer sind und die terrestrische Siedlung observieren, darüber hinaus meteorologische Messungen vornehmen und die Luftqualität prüfen, klänge für die schon eher plausibel. Diese Terraner sind zwar mit uns kaum zu vergleichen, aber völlig unterbelichtet sind sie auch nicht.«
Keine der beiden interplanetaren Parteien ahnte indes, welche Tragweite diese erste, harmlose Begegnung dieses Nachmittags noch bekommen sollte.
*
Swetlana und Philipp Emmerson hatten es tatsächlich geschafft, ihre Flucht auf Zeit unbeschadet zu überstehen. Die neunzehnte Schwangerschaftswoche war angebrochen und ihr drittes Baby damit aus dem Schneider. Ab sofort war es unerheblich, ob sie jemand hier oder auf der Rückfahrt in die Kolonie entdeckte. Ein sehr beruhigendes Gefühl.
Blieb also nur noch die Sorge, was man mit Philipp anstellen würde, sobald er sich wieder in der Siedlung blicken ließ. Aber was konnte man ihm schon Schlimmes vorwerfen? Er hatte den Rover samt Ausrüstung schließlich nicht gestohlen, sondern nur ausgeliehen. Ungehorsam, unerlaubte Abwesenheit vielleicht, aber kein schweres Verbrechen. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie in solchen Fällen das Strafmaß ausfiel. Ob man ihm die zurechtgelegte Geschichte als glaubhaft abnehmen wollte oder nicht – er würde eben nur diese und keine andere anbieten. Basta.
Nach eineinhalb Tagen Fahrt näherten sie sich der Siedlung. Eine Staubwolke wallte ihnen entgegen.
»Sieh mal, die kommen uns abholen. Scheinbar hatten sie die Suche noch immer nicht ganz aufgegeben«, rief Swetlana aufgeregt.
»Ja, klar! Die brauchen den Rover, konnten sich nicht erklärten wo er abgeblieben war. Denke nur nicht, die wären um uns beide so besorgt. Wir werden ja bald sehen, ob sie erfreut sind, uns wohlbehalten zurück zu haben«, erwiderte Philipp voller Sarkasmus.
Flankiert von zwei Seiten eskortierte man sie zur Siedlung. Die Fahrt endete vor den Verwaltungsgebäuden, womit Philipp durchaus gerechnet hatte. Völlig gerädert, von oben bis unten mit feinem Staub bedeckt, stiegen die Emmersons aus.
Dubois wartete bereits auf sie. Sein Kopf nahm eine hochrote Farbe an, als die beiden Vermissten in sein Büro gebracht wurden. Er knirschte vernehmlich mit den blendend weißen Zähnen. Zwei Stühle standen vor seinem Schreibtisch. Er bedeutete den Delinquenten, dort Platz zu nehmen. Sie kamen der Aufforderung nach, entledigten sich ihrer Atemschutzmasken.
»Na, haben Sie Ihren kleinen Ausflug in die Einöde genossen? Welch eine glückliche Fügung, dass nun die Frist zur Abtreibung verstrichen ist. Was Sie natürlich sehr genau wissen!« Pure Ironie tropfte aus seinen anklagenden Worten.
»Es ist aber nicht so, wie Sie denken!« Noch beim Sprechen fiel Philipp auf, was für eine Plattitüde er gerade von sich gab. Dieser dämliche Satz wurde wohl in achtundneunzig Prozent aller Ausreden gebraucht.
»Sondern? Na, auf diese Geschichte bin ich gespannt«, sagte Dubois lauernd. Er wirkte höchst verärgert.
»Also … Sie wissen sicher, dass mich mein Vorarbeiter Frank Wagener mit dem Rover zum Fluss schickte. Zuvor sollte ich Carl Snider abholen. Die Sache schien sehr eilig, denn die Wasserversorgung der Gewächshäuser war vollständig ausgefallen. Wagener hatte mir außerdem von seinen Sorgen mit der Personalknappheit berichtet. Als ich später Carl Snider in seinem Haus nicht antraf, überlegte ich daher fieberhaft, wen ich als zweite Person zur Einsatzstelle mitnehmen könnte. Da fiel mir spontan nur meine Frau ein.«
Dubois schüttelte den Kopf, lachte schallend, ein spöttisches, verächtliches Lachen. Gleich darauf wurde er wieder ernst. »Ist es denn die Möglichkeit! Eine Schwangere als Hilfskraft für Installationsarbeiten, wer soll Ihnen das abnehmen? Ein bisschen mehr Fantasie hätte ich Ihnen schon zugetraut.«
»Daran bin ich schuld«, ließ sich Swetlana kleinlaut vernehmen. »Ich habe meinen Mann seit Monaten mit der Forderung genervt, zu einem der organisierten Picknickausflüge mitzukommen. Er wollte aber nicht. Wissen Sie, ich war noch niemals außerhalb des Siedlungsgebietes gewesen. Es interessierte mich einfach, was einen dort draußen erwartet. Wenn die Kinder erst geboren sind, werde ich lange keine Möglichkeit mehr finden, dorthin zu gelangen. Philipp hat nachgegeben.«
Dubois warf seinen Kopf in den Nacken, schnaubte wie ein Stier, der mit den Hufen scharrt. Er fixierte Philipp mit seinen kalten graublauen Augen. »Tja nun … die Wasserleitung ist aber leider nicht repariert worden, jedenfalls nicht von Ihnen – und zurückgekommen sind Sie ebenso wenig. Also, welchen Bären wollen Sie mir aufbinden, um das zu rechtfertigen?«
Emmerson räusperte sich verlegen, rutschte unruhig auf seinem Kunststoffstuhl herum. »Wir wurden entführt, noch bevor wir die maßgebliche Stelle erreichten.«
Der Verwaltungsleiter guckte perplex aus der Wäsche, fand seine Fassung halbwegs wieder, sprang wütend auf, griff nach einem Stift und schmetterte ihn zu Boden. Viel lieber hätte er sein Gegenüber angegriffen und ihm eine reingehauen.
»Das ist ja unglaublich! Da gebe ich Ihnen die Chance, sich zu erklären … und Sie kommen mir mit lächerlichen Ammenmärchen daher, beleidigen meine Intelligenz!«
Philipp blieb vollkommen ruhig, tätschelte seiner erschrockenen Ehefrau den Arm. »Es ist aber so gewesen. Wollen Sie nun Näheres über die Aliens erfahren oder nicht?«
»Aliens?! Das ist doch die Höhe«, japste Dubois.
»Ja. Sie sind menschlich, über zwei Meter groß, tragen farbenfrohe Kaftane und sprechen in einer völlig unverständlichen Sprache. Sie haben uns zu einer Art Iglu gebracht. Dort wurden wir festgehalten. Sie veranstalteten Intelligenztests mit uns, ähnlich wie wir es auf der Erde mit Laborratten handhaben. Vorgestern ließen sie uns endlich ziehen. Vielleicht sind sie uns feindlich gesinnt und wollen abchecken, ob wir ihnen gefährlich werden könnten.«
»Sie erwarten doch wohl nicht, dass ich Ihnen diesen Nonsens abnehme! Farbige Kaftane … pah. Fiel Ihnen nichts Besseres ein, Emmerson?«
»Sie müssen mir das gar nicht glauben. Ich kann es schließlich beweisen. Ich weiß noch ziemlich genau, wo das Iglu samt Messeinrichtungen steht. Fahren Sie doch hin und sehen Sie selbst nach!«
»Klar doch! Und mache mich lächerlich, das hätten Sie wohl gern«, schimpfte Dubois. Aber er wirkte längst nicht mehr so selbstsicher. Sein Kontaktmann auf der Erde, mit dem er regelmäßig Informationen austauschte, hatte ihm schon zu Beginn angeraten, wachsam zu sein. Es bestehe aufgrund diverser Funde die vage Möglichkeit, dass er und die restlichen Siedler auf dem Mars nicht alleine seien. Eine deutliche Warnung, zweifellos.
Philipp Emmerson erhielt eine Disziplinarstrafe, musste Sonderschichten schieben und ein paar extrem langweilige Nachschulungen über Disziplin und Loyalität gegenüber Vorgesetzten besuchen. Offiziell war die Angelegenheit damit erledigt.
In aller Heimlichkeit jedoch rüstete Marcel Dubois einen vier Mann starken Suchtrupp mit zwei Marsrovern und Schusswaffen aus, welche bei den von Philipp angegebenen Koordinaten nachforschen sollten.
Sie kamen mit beunruhigenden Nachrichten zurück. Aliens hatten sie zwar keine angetroffen, doch das mysteriöse Metalliglu stand verlassen in der steinigen Ebene. Dubois‘ Kontaktmann von der Erde versicherte ihm, dass es sich hierbei um keine irdische Einrichtung handelte.
Der Verwaltungsleiter der Kolonie erhielt die strikte Anweisung, unter allen Umständen Stillschweigen zu bewahren und die Familie Emmerson unter Androhung empfindlicher Strafen ebenfalls hierzu zu verpflichten. Man plane in Kürze weitere Siedlungen auf dem Mars, könne daher absolut keine Panikmache gebrauchen, hieß es.
»Wir müssen innerhalb kürzester Zeit große Teile des Mars kontrollieren, für unsere Zwecke beanspruchen. Sonst werden wir womöglich eines Tages das Nachsehen haben. Sie wissen ja, ein Killerasteroid soll sich der Erde nähern. Wir benötigen dringend sicheren Lebensraum. Daher stufen wir die mutmaßlichen anderen Bewohner des Planeten vorläufig als feindlich ein. Stellen sie sich unseren Plänen trotz diplomatischer Bemühungen entgegen, müssen wir uns geeignete Maßnahmen ausdenken, sie … ähm … loszuwerden. Wollen wir hoffen, dass es nicht dazu kommen wird.«
›Diplomatie? Dazu müsste man mit den Aliens erst einmal kommunizieren können‹, dachte Dubois besorgt.
Mars, in der Jahresmitte 2126 nach Christus
Fünf Jahre waren seit jenem Tag, da man Notiz von den Aliens genommen hatte, ins Land gegangen. Inzwischen waren weitere irdische Kolonien auf dem Mars entstan den. In unmittelbarer Nähe der Siedlung Phönix 1 existierten entlang des Flusses in der Aram Dorsum Region nun Phönix 2 und 3. Sie waren genauso aufgebaut, organisiert und mit derselben Einwohnerzahl versehen worden wie das Pilotprojekt.
Wo immer das Leben eine klitzekleine Möglichkeit zur Existenz und Vermehrung findet, wird es diese nutzen. Bei diesem universell gültigen Gesetz bildete der Mars keine Ausnahme. So hatte sich die karge Steppenvegetation dank ergiebigerer Regenfälle nun bereits über mehrere Kilometer links und rechts des Flusses ausgebreitet. Man konnte erahnen, wie wunderschön die hügelige Gegend dereinst aussehen würde, wenn sie in ein paar Jahrhunderten komplett mit bunt blühenden Pflanzen und Bäumen überzogen wäre.
Die viereinhalbjährigen Kinder der Emmersons erfreuten sich bester Gesundheit. Swetlana ging ganz in ihrer Mutterrolle auf. Nur Philipps Gesundheitszustand machte ihr Sorgen. Er litt in letzter Zeit an Schwächeanfällen und Müdigkeit, weigerte sich jedoch kategorisch, deswegen zum Arzt zu gehen. Seit der menschenverachtenden Affäre rund um die geplante Abtreibung seines dritten Kindes stand er den hiesigen Medizinern äußerst kritisch gegenüber.
Anfängliche Anpassungsschwierigkeiten der Kolonien konnten mittlerweile als überwunden gelten. Sogar die Kommunikation mit der Erde klappte hervorragend, seit sie über mehrere Relaisstationen abgewickelt wurde. Es gab drei davon zwischen Mars und Erde, eine auf dem irdischen Mond und eine auf dem neuen Marsmond Ceres, der die Gesteinsbrocken Phobos und Deimos ersetzt hatte.
Die Übertragungszeiten zwischen den beiden Planeten hatten früher zwischen drei und lähmenden zweiundzwanzig Minuten – letzteres bei ungünstigster Konjunktion – betragen, doch inzwischen waren eine bis fünf Minuten die Regel.
Auf der Erde war das Interesse an einer Umsiedlung auf den Mars riesengroß. Das lag natürlich einerseits an der Möglichkeit des prophezeiten Asteroideneinschlags, andererseits aber auch an einer allgemeinen Aufbruchsstimmung. Viele Menschen verspürten unbändige Lust auf Tapetenwechsel, romantische Pionierstimmung machte sich breit. Sie war in etwa mit derjenigen vergleichbar, als sich von Europa aus Viele auf den Weg ins neu entdeckte Amerika machten.


