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Die Gefahren der Marsbesiedelung erschienen kalkulierbar, weil man gelegentliche Unfälle und vereinzelt aufgetretene, auf der Erde unbekannte Krankheiten sorgsam vertuschte. So war bei der vorletzten Übersiedlungswelle beispielsweise ein ganzer Raumfrachter in den unendlichen Weiten des Weltalls verschollen. Die Verantwortlichen reagierten darauf, indem man in künftige Kolonisationsverträge den Passus einfügte, dass nach der Umsiedlung eine Kommunikation mit Verwandten und Freunden auf der Erde ausgeschlossen sei. Die Bevölkerung dort sollte von Katastrophen aller Art nichts erfahren, damit sich die positive Stimmung keinesfalls eintrübte.
Neue Begegnungen mit Aliens hatte es seit Philipp Emmersons illegalem Ausflug keine mehr gegeben. Sie beobachteten zwar die Kolonien unablässig aus einiger Entfernung, ließen sich aber nie dort blicken. Vermutlich ging die fremde Intelligenz davon aus, dass dreitausend Siedler von der benachbarten Erde eine überschauund verschmerzbare Anzahl wären.
Die Terraner ahnten nicht, dass die Tage der duldsamen Zurückhaltung gezählt waren. Bei den Aliens existierten bereits konkrete Pläne für eine Besiedlung der CydoniaRegion, wo die ersten bemannten Marsmissionen vor rund hundert Jahren faszinierende Entdeckungen gemacht hatten.
Die nächsten Kolonien, Future 1 und Future 2, sollten in unmittelbarer Nähe der uralten Versammlungshalle gebaut werden. Dieses Mal zeichneten allerdings nicht die Europäer in Verbund mit den Amerikanern verantwortlich, sondern die Russen unter Mitwirkung Chinas. Auf der Erde nannte man das Projekt deswegen bereits scherzhaft Little Asia.
Tiberia/Mars, 8. Februar 2128 nach Christus, Sonntag KINZeit: 13.5.16.14.11
Philipp Emmersons Lebenslicht erlosch mit dem Heraufdämmern des neuen Tages. Weinend und klagend warf sich Swetlana über seinen noch warmen Leichnam, krallte sich daran fest.
»Wieso hast du dich nur so lange geweigert, zum Arzt zu gehen … rechtzeitig angewendet, hätten dich die Krebsmedikamente der neuesten Generation noch retten können! Ist es fair von dir, mich und die Kinder hier alleine zu lassen? Alles nur wegen deiner verdammten Sturheit!«
Die untröstliche Frau schrie auf, brach weinend zusammen. Sie musste mit einem der neueren KombiRovermodelle, die unter anderem Liegendtransporte ermöglichten, zum Ärztezentrum transportiert werden, wo man ihr eine Beruhigungsspritze setzte. In drei, vier Tagen würde man den Bewässerungstechniker auf dem kleinen Friedhof beisetzen, den man in der Nähe des Tores angelegt hatte.
Philipp war indes bei weitem nicht der erste Krebstote, den die Kolonisten zu beklagen hatten. Die durchschnittliche Erkrankungsrate, gemessen an der Bevölkerungszahl, lag erheblich höher als auf der Erde. Das war der Tatsache geschuldet, dass die Siedler auf ihrer weiten Reise durch das Weltall hohe Dosen an Weltraumstrahlung abbekamen.
Während eine Handvoll Kolonisten den Tod eines der Ihren betrauerten, herrschte auch bei den tiberianischen Beobachtern niedergeschlagene Stimmung. Sie hatten mitbekommen, dass die Terraner ihre Kolonisationsbestrebungen nun auf die CydoniaRegion auszuweiten gedachten. Ein Trupp terrestrischer Vermessungstechniker war gerade dabei, Pflöckchen in den Boden zu treiben; und das nur wenige Kilometer neben einer unterirdisch angelegten Stadt, die momentan rund fünfzehntausend Tiberianern eine neue Heimat bot.
Die Regentin Tiberias platzte schier vor Wut. »Verdammt noch mal – was fällt denen eigentlich ein? Kiloon, das dürfen wir uns nicht bieten lassen. Die benehmen sich, als wären sie die Herren dieses Planeten, machen sich wie selbstverständlich überall breit. Nun bereue ich meine dir zuliebe getroffene Entscheidung, diese unbedarften Primaten einstweilen noch gewähren zu lassen. Aber auf dem Gebiet unserer zukünftigen Hauptstadt haben sie definitiv nichts verloren! Siehst du jetzt, wohin uns deine Toleranz führt?«
Der Angesprochene seufzte verständnislos. »Ach, Alanna … die konstruieren dort bestimmt wieder nur eine kleine, überschaubare Siedlung, so ungefähr wie die letzten auch. Wieso sollte uns das überhaupt tangieren? Unsere Leute leben weitgehend unterirdisch, sie oben drüber. Es sollte doch irgendwie möglich sein, eine halbwegs harmonische Koexistenz zu führen. Früher oder später werden Tiberianer und Terraner ohnehin aufeinander treffen, sich in einem Konsens einigen müssen. Besser früher als später, findest du nicht?«
Alanna seufzte ebenfalls, verdrehte genervt die Augen zur Decke und setzte jene arrogantbesserwisserische Miene auf, die er so sehr an ihr hasste.
»Du kapierst es nicht, willst nicht verstehen. Wieso rede ich überhaupt mit dir darüber? Du verhältst dich wie eine willenlose Drohne, die sich von allen Seiten steuern lässt.«
Auf Kiloons hoher Stirn bildete sich eine Zornesfalte. »Ich bin nach wie vor der rechtmäßige Regent Tiberias, ob dir das nun passt oder nicht. Und die Einzige, die mich andauernd zu steuern versucht, bist du. Aber damit ist jetzt Schluss. Du wirst keine Gelegenheit mehr bekommen, mich zu manipulieren.«
»Was soll das heißen? Du weißt genau, dass Ehen in unserer Dynastie auf Ewigkeit angelegt sind. Du kannst mich nicht loswerden, mein Lieber«, grinste die Blondine amüsiert.
»Das leider nicht. Aber die Zeit arbeitet für mich«, gab der Regent nebulös zurück.
Tiberia, KINZeit: 13.6.2.10.18, Montag
In letzter Zeit war es für die erfolgsverwöhnte Alanna nicht mehr so einfach, ihre pubertierende Tochter zur Räson zu bringen. Die hinterfragte Vieles, anstatt wie früher nur gelehrig ihren Ausführungen zu lauschen. Gelegentlich setzte sie ihr mit ihrer Hartnäckigkeit mehr zu als die diskussionsfreudigen Mitglieder der Vordersten-Versammlung, und das wollte etwas heißen.
Zunehmend versuchte die Jugendliche, ihre Eltern gegeneinander auszuspielen. Wann immer sie in Streitigkeiten mit der Mutter geriet, ließ sie sich beim stets geduldigen Vater trösten und wieder aufmuntern.
Es fiel ihr leicht, ihn um den Finger zu wickeln und für sich einzunehmen. Das hübsche Mädchen ähnelte ihrer Mutter wie ein Ei dem anderen, allerdings fehlte das verschlagene Blitzen in ihren Augen. Und genau deswegen liebte Kiloon seine Tochter abgöttisch. Sein kleiner Engel hatte sich bis dato die kindliche Unschuld bewahrt.
Heute nervte sie die ältere Alanna mit der Frage, wieso man mit den Terranern auf dem Mars nicht einfach friedlich koexistieren könne, anstatt sie auf ein kleines Gebiet zurückzudrängen oder gar zu unterdrücken, wie es geplant war.
»Das sind ebenfalls Menschen, genau wie wir. Auch deren Wurzeln befanden sich einst auf dem Mars. Ist es etwa ihre Schuld, dass sie die Nachfahren jener Bedauernswerten sind, welche damals zur Erde statt nach Tiberia geschickt wurden?«, fragte sie herausfordernd.
»Du bist viel zu jung, um dich in Regierungsangelegenheiten einzumischen«, sagte Alanna senior abweisend. Sie verspürte keine Lust auf Debatten mit einer Halbwüchsigen.
»Ich will aber wissen, wieso du so denkst. Papa ist nämlich auch anderer Meinung!«
»Dein Vater lässt manchmal die nötige Weitsicht vermissen, sobald es um Entscheidungen von globaler Tragweite geht«, erwiderte ihre Mutter schnippisch.
»Ach ja? Aber eigentlich ist doch er der Regent, und du hast nur in die Dynastie eingeheiratet«, grinste das Mädchen frech.
Die Ältere hatte sichtlich Mühe, sich nicht provozieren zu lassen. Sie setzte ihr undurchdringliches Pokerface auf.
»Er hat gut daran getan, sich eine starke Frau zu suchen. Andernfalls wäre Tiberia bereits an den Aufständen vor ein paar Jahren zugrunde gegangen. Wäre ich nicht gewesen oder hätte mich feige vom Acker gemacht, so wie er …!«
»Papa hätte noch eingegriffen, da bin ich sicher. Aber du bist meiner Frage ausgewichen. Wieso also können wir die Terraner nicht gleichwertig behandeln?«
»Weil das eine andere, minderwertige Rasse von Menschen ist. Vor vielen BAKTUN haben sich die Marsianer mit terrestrischen Primaten gepaart, haben hierdurch die Blutlinie verdünnt. Die Vermischung hat Hybriden hervor gebracht, aber keine vollwertigen Menschen. Die Hybriden haben sich wiederum mit reinrassigen Terranern eingelassen, bis kaum mehr marsianisches Blut in den Adern der Nachkommen übrig war.
Die wenigen Familien, in denen sich über viele Generationen hinweg überwiegend Hybriden mit Hybriden vereinigt haben, erkennt man bis heute daran, dass ihr Blut einen negativen RhesusFaktor aufweist. Diese Terraner sind meistens größer, schlanker und intelligenter als die retardierten Exemplare der restlichen Bevölkerung. Sie sind es, die den höchsten Anteil an technischen und medizinischen Innovationen für sich verbuchen können.«
»Aber die Hybriden schaffen es doch auch irgendwie, mit den anderen Terranern auszukommen. Warum sollte uns das nicht gelingen?«, beharrte Alanna junior.
»Ach, mein Kind, du bist noch so herrlich unbedarft. Hast du etwa nicht mitbekommen, wie viele Kriege auf Terra ständig ausbrechen? Solche furchtbaren Zustände kommen für den Mars wohl kaum infrage. Und nun gehe mir mit deiner Fragerei bitte nicht mehr auf die Nerven.«
Der Teenager zog ein trotziges Gesicht. »Und wenn wir wenigstens die Hybriden willkommen heißen würden?«
Die Regentin wurde ärgerlich. Der in ihren Augen sinnbefreite Disput dauerte ihr schon wieder viel zu lange.
»Sag mal, was ist an der Sache so schwer verständlich? Ist das Blut einmal versaut, lässt sich das nie wieder rückgängig machen. Dieses terrestrische Dreckspack kann froh sein, wenn ich es nicht bis auf den letzten Mann oder die letzte Frau massakrieren lasse. In sehr begrenzter Anzahl werden sie in einem abgegrenzten Bereich wohnen und für uns arbeiten dürfen, jedenfalls solange sie sich entsprechend friedlich und dankbar verhalten, eine gewisse Demut zeigen. Andernfalls jedoch … «
Alanna vollführte eine vielsagende Handbewegung, indem sie mit der Handkante quer über ihren Kehlkopf fuhr.
»Du bist gemein! Ich werde Papa erzählen, was du Schlimmes gesagt hast«, drohte das Mädchen. Tränen trübten seine Kulleraugen.
Die Regentin lächelte nur schief, zuckte mit den Schultern und ging ihrer Wege.
*
Ardens Pulsschlag beschleunigte sich exorbitant. Endlich war es so weit … er hatte jene maßgeblichen Ereignisse in der terrestrischen Berichterstattung gefunden, welche letzten Endes zu einem stetigen Exodus der terrestrischen Bevölkerung in Richtung Mars geführt haben mussten.
Er griff mit fliegenden Fingern nach seinem Kommunikator, tippte Alannas Kennung ein und informierte sie über das Ergebnis der Recherchen, die sie ihm angetragen hatte.
» … es kann keinen Zweifel geben, dass Solaras und Kalmes damals verdachtsgemäß nach Terra geflüchtet sind. Aber dass sie dort offenbar nichts Besseres zu tun hatten, als der dortigen Bevölkerung die Simulation des Asteroideneinschlags zu präsentieren, welche unser Vorderster der Untersektion Astronomie damals angefertigt hatte … es ist mir ein Rätsel, weshalb sie das getan haben. Der Himmelskörper wäre doch gar nicht zu ihren Lebzeiten auf Terra eingeschlagen«, schloss Arden seine Ausführungen.
Das Hologramm von Alanna, das über seinem Kommunikator schwebte, warf das lange Blondhaar in den Nacken. Die Vorderste und Regentin schien einen Augenblick zu überlegen.
»Tja, mein Lieber … ich frage mich eher, woher er den Holographen bekommen hatte, den er augenscheinlich zur Vorführung benutzte. Ist zur Zeit seines Verschwindens nicht zufällig eines der Geräte aus Eurem Fundus entwendet worden? Ich glaube, mich an einen solchen Vorfall erinnern zu können, weil so etwas sonst niemals je vorkommt. Eine seltsame Fügung des Schicksals, findet Ihr nicht?«
Arden fühlte sich ertappt. Natürlich, er hatte seinem alten Freund das Gerät höchstpersönlich in die Hand gedrückt und es danach als gestohlen registriert, doch das durfte Alanna nie und nimmer herausfinden! Er war froh, ihr in diesem Augenblick nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen. Sonst hätte ihn seine Mimik vermutlich verraten.
»Äh … war das wirklich genau zu dieser Zeit? Ich müsste erst nachsehen … aber eigentlich ist das posthum doch gar nicht so wichtig«, sagte er lahm.
»Das stimmt«, bestätigte Alanna zu seiner Erleichterung. Sie wirkte nachdenklich. »Da wir nun den Grund kennen, weshalb die Terraner auf dem Mars eine Siedlung nach der anderen errichten, brauchen wir auf ein Ende der Kolonisationsbestrebungen nicht mehr zu hoffen. Es wird munter so weitergehen. Unser Heimatplanet wird im Laufe der nächsten TUN von Flüchtlingsströmen überflutet werden, die ihresgleichen suchen. Ich frage Euch, Arden: Kann dieser verhältnismäßig kleine Planet endlos die Aufnahme von Tiberianern und Terranern verkraften?«
»Wohl kaum. Die bewohnbare Landfläche ist kleiner als auf Terra und in etwa genauso groß wie auf Tiberia. Auch wenn wir die größeren Städte unterirdisch anlegen, würde es unangenehm eng werden«, antwortete Arden tatsachengemäß.
»Das ist richtig. Ich werde mir etwas einfallen lassen müssen. Ihr seid selbstverständlich strikt zum Stillschweigen verpflichtet, auch innerhalb Eurer Sektion«, konstatierte die Regentin resolut. Damit fiel das Hologrammbild in sich zusammen, die Übertragung war beendet.
Alanna hätte sich selbst ohrfeigen mögen. Dieser fatale Fehler ging auf ihr eigenes Konto. Hätten sie und ihr damaliger Geliebter Cobaan nur nicht diesen Fake einer Simulation aus dem Boden gestampft … manchmal kamen kleine, hilfreiche Notlügen zur Unzeit ans Tageslicht, zeitigten unangemessen weitreichende Folgen. Nun musste sie einen wasserdichten Plan aushecken, der den Fauxpas wieder ausbügeln und die Terraner dauerhaft vom Mars fernhalten sollte.
Mars, 2. April 2142 nach Christus, Montag KINZeit: 13.6.11.2.18
Die unterirdische Hauptstadt der Tiberianer prosperierte. Es gab bereits eine ausgeklügelte Infrastruktur, die auf nahezu endloses Wachstum ausgelegt war. Schon jetzt bot die künftige Metropole Wohnraum für rund 28.000 Tiberianer. Man musste die erforderlichen Hohlräume nicht einmal erst mühselig ausschachten, denn die weit verzweigten Höhlensysteme eines früheren, schon seit mehreren CALABTUN ausgetrockneten Flusslaufs waren noch aus der Zeit der ersten Zivilisation vorhanden. Straßen und Gebäude hingegen hatten die lange Vakanz nicht überdauert, waren samt und sonders zu Staub zerfallen.
Mit Feuereifer war ein Heer von Arbeitern damit beschäftigt, Wohnund Verwaltungsgebäude in die natürlichen Strukturen einzupassen, ausgedehnte Parks und Freiflächen sowie breite Straßen und die altbewährten tiberianischen Magnetschienensysteme anzulegen. Ein ausgeklügelter Mechanismus erlaubte die natürliche Bewässerung mit Grundwasser, das sich noch immer in riesigen Mengen unter den Höhlen befand. Hier unten, im Schutz der Gesteinsschichten und mithilfe der Wärme aus dem Marsinneren, ließen sich die langen, strengen Winter des Mars viel komfortabler ertragen.
Das Tageslicht musste künstlich simuliert werden. Tagund Nachtzeiten waren dem tatsächlichen Rhythmus angepasst. Später sollten selbstverständlich auch Siedlungen an der Oberfläche entstehen, doch dazu musste nach Ansicht der Regenten zuerst das leidige Problem mit den Terranern ein für alle Mal gelöst sein. Sie siedelten mit ihren jüngsten Kolonien Future 1 und 2 ganz in der Nähe, jedoch ohne von den subterranen Vorgängen in ihrer Nachbarschaft zu wissen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sich das ändern würde.
Zurzeit befand sich Regentin Alanna höchstpersönlich in der künftigen Hauptstadt, um sich ein Bild von den Fortschritten zu machen. Viele empfanden das als eine große Ehre.
Plötzlich sprangen sämtliche Kommunikatoren in der CydoniaRegion an. Sie signalisierten ihren jeweiligen Besitzern, dass sie sich in akuter Gefahr befänden und keinesfalls an die Oberfläche kommen sollten. Man müsse sämtliche Zugänge zur unterirdischen Stadt hermetisch verschließen und auf weitere Anweisungen warten, hieß es. Die standardisierte Meldung enthielt keinen bestimmten Absender, musste aber von ganz oben in der Hierarchie stammen. Auf das globale Alarmsystem, mit dem man sowohl den gesamten Planeten als auch bestimmte Bereiche ansteuern konnte, hatten ausschließlich die Vordersten aller Sektionen sowie die Regentenfamilie Zugriff.
Helle Panik kam auf; einige Arbeiter, die in der Nähe der Ausgänge beschäftigt gewesen waren, nahmen die Beine in die Hand, um sich in Sicherheit zu bringen.
Alanna bekam das per Fernübertragung mit, lächelte befriedigt. Nun konnte sie es wagen. Ihre rechte Hand ruhte auf einer Bedienfläche im Schaltzentrum für den steinalten Atomreaktor aus der ersten Zivilisationswelle, der unter anderem die Stromversorgung der Versammlungshalle bereitstellte. Sie setzte mit ein paar Wischbewegungen die Kühlung der Brennstäbe außer Kraft, was durch wild blinkende Leuchtsignale angezeigt wurde. Nun hieß es nur noch, ein Weilchen abzuwarten. Schon bald würde der Reaktor überhitzen, explodieren und tödliche Strahlung freisetzen.
Die Regentin beeilte sich schuldbewusst, den Tatort zu verlassen. Ihre Entdeckung musste sie kaum befürchten. Die althergebrachte Technik hatte schließlich viele Zeitdauer selbsttätig überdauert, so dass sich keine Spezialisten darum kümmern mussten. Jedenfalls nicht, solange kein Alarmsignal ertönte. Und genau diese Funktion hatte sie soeben vorsorglich lahmgelegt. Niemand außer ihr befand sich im Reaktorblock.
Selbstzufrieden bestieg sie den Magnetaufzug, der sie nach unten in die Stadt bringen sollte. Zwischen dem dreizehn Kilometer langen, schräg nach unten verlaufenden Schacht und dem Reaktor befanden sich mehrere strahlungsdichte Schleusen, die sie sorgfältig hinter sich geschlossen hatte. Nun konnte sie sich mit besorgtem Gesichtsausdruck unter die aufgeregte Bevölkerung mischen, die Unwissende spielen und zusammen mit ihren Untertanen Mutmaßungen anstellen, was an der Oberfläche Schreckliches passiert sein könnte. Und das alles, während sich in der Atomanlage eine veritable Kernschmelzeanbahnte. Die unvermeidliche Nuklearkatastrophe nahm ihren Lauf.
*
Innerhalb der ersten zehn Tage, beziehungsweise KIN, nach der Kernschmelze wurden mehrere Trillionen Becquerel an Strahlung freigesetzt, die bei den meisten Siedlern der nur etwa fünfundzwanzig Kilometer entfernten terrestrischen Kolonien Future 1 und 2 die Strahlenkrankheit auslöste. Sie starben binnen weniger Monate, entstellt durch Haarausfall und Hautschäden, an inneren Blutungen oder Versagen des zentralen Nervensystems. Einige wenige Überlebende erkrankten an bösartigen Schilddrüsenkrebs, der sie quälend langsam dahin siechen ließ. Die Kolonien entvölkerten sich in Windeseile.
Der massive Austritt radioaktiver Strahlung wurde von den hochsensiblen tiberianischen Messinstrumenten augenblicklich registriert. Schon kurz nach Eintritt des fatalen Ereignisses wurden sämtliche Einwohner jener unterirdischen Stadt, die ihren Namen erst noch erhalten sollte, darüber informiert, was an der Oberfläche geschehen war.
In fieberhafter Eile aktivierten die zuständigen Techniker die vier Sorbatron–Schilde der Stadt, die die schädliche Strahlung auffangen sollten. Sie funktionierten einwandfrei. Die extrem strahlungsgeladenen Einheiten konnte man anschließend mit dem vielseitig nutzbaren RenamatSystem pulverisieren und damit die darin enthaltenen Cäsium, Jodund sonstigen Emissionen unschädlich machen. Später würde man auch die betroffenen Gebiete an der Oberfläche mit tragbaren SorbatronEinheiten vom Fallout säubern, doch das war aus Sicherheitsgründen erst dann möglich, wenn sich die hohe Konzentration an gesundheitsschädlichen Stoffen mit geringer Halbwertszeit dort verflüchtigt hatte.
Für Regentin Alanna bedeutete dies, dass sie sich für einige UINAL an ihrem künftigen Regierungssitz aufhalten musste, die Stadt nicht verlassen konnte. Doch das erschien ihr gut so. Auf diese Weise behielt sie sämtliche Meldungen, die über das Unglück nach Tiberia gelangten, unter ihrer Kontrolle. Niemand würde bei der Aufarbeitung der Unglücksursachen auch nur den geringsten Verdacht auf ihre Urheberschaft schöpfen, da sie selbst unter den Opfern des Atomunfalls war. Und falls doch, würde sie es live mitbekommen und allzu neugierige Ermittler schon beizeiten mittels Jagdfreigabe eliminieren. Jemanden die Schuld für eigene Taten oder Versäumnisse zuzuschieben – das war sie hinreichend gewohnt.
*
Kiloon suchte seine Tochter in deren Arbeitsraum auf. Sie bearbeitete neuerdings Anregungen und Anfragen, die aus verschiedensten Sektionen an die Regentenfamilie gerichtet wurden. Es war höchste Zeit zu handeln, und Alanna junior war sein genauso wunderhübscher wie hochintelligenter Trumpf im Ärmel. Er benötigte dringend ihre Hilfe.
Das inzwischen 1 KATUN und zwei TUN alte Abbild der älteren Alanna blickte hocherfreut von seiner Arbeit auf. Die junge Frau erkannte in dem unangemeldeten Besucher ihren verehrten Vater. Ihn und seine Tochter verband zum Leidwesen der eher kühlen Mutter eine innige, bedingungslose Liebe. Im selben Maße, wie die Ältere verblühte, wurde die jüngere Version jeden KIN attraktiver. Hingerissen betrachtete Kiloon ihr ebenmäßiges Antlitz.
»Vater, wie schön … stimmt etwas nicht? Du guckst heute so verbissen drein«, bemerkte die Thronfolgerin besorgt.
»Mir hat die Tragödie auf dem Mars einige schlaflose Nächte bereitet. Sicher, von unseren Leuten hat niemand Schaden genommen, aber die Terraner sterben wie die Fliegen. Es muss grausam sein, so hilflos dahin zu siechen, den sicheren Tod vor Augen. Gestern sah ich mich meinem Seelenheil zuliebe veranlasst, ein paar Recherchen anzustellen. Und siehe da, ich wurde fündig. Jemand hat das Unglück absichtlich herbeigeführt, ich bin mir ganz sicher.«
»Absichtlich? Aber wer könnte … oh!« Alanna junior stockte mitten im Satz. Ihr fiel siedend heiß ein, wer sich momentan in der CydoniaRegion aufhielt. Sie wusste, wie sehr die terrestrischen Siedler ihrer Mutter ein Dorn im Auge gewesen waren. Ihre Miene verfinsterte sich. Ins Blau ihrer Augen mischte sich ein stählerner Grauton. Sie beugte sich vor.
»Was hast du herausgefunden?«
»Das Alarmsystem in der Metropole wurde ausgelöst, bevor die Messgeräte der Atomanlage anschlugen und den rapiden Strahlungsanstieg meldeten. Die Alarmfunktion war jedoch deaktiviert. Im Übrigen hat der Reaktor stets einwandfrei funktioniert, war zuletzt drei KIN vor dem Ereignis gewartet worden. Wieso hätte das Kühlsystem plötzlich ausfallen sollen?«
Seine Tochter senkte den Kopf, wirkte sehr traurig. »Und die Atomtechnik gehört in Mutters Sektion. Sie war mit Sicherheit in der Lage, die Kühlung der alten Anlage herunterzufahren. Über ihre Motive brauchen wir sowieso nicht lange nachzudenken«, ergänzte sie Kiloons Ausführungen.
»Du hast es erfasst. Nur sind wir die Einzigen, die es wagen, solche Rückschlüsse zu ziehen. Sie wird mal wieder ungeschoren davon kommen und weiter ihr Unwesen treiben können. Ich bedaure sehr, dass die uralten Statuten unserer Dynastie keine Regelung für den Fall enthalten, dass eine angeheiratete Regentin den rechtmäßigen Regenten übergeht und egozentrisch eigene Entscheidungen trifft. Was sie natürlich sehr genau weiß. Es gibt nur einen einzigen Weg, sie abzusetzen, bevor sie noch größeren Schaden anrichten kann. Und hier, meine Liebe, kommst du ins Spiel!«
»Ich? Wenn ich irgendwie helfen kann, werde ich es tun!«
»So kenne ich mein Mädchen«, lächelte Kiloon.
»Also hör gut zu. Sobald man die Oberfläche in der verstrahlten Region wieder betreten kann, wird deine Mutter hierher zurückkehren. Gleich darauf wirst du zum Mars reisen. Mit der Begründung, dass jemand aus der Regentenfamilie dauerhaft vor Ort sein sollte, um den Fortgang der Arbeiten zu überwachen und Präsenz zu zeigen.
Versuche, möglichst große Teile der dortigen Bevölkerung hinter dich zu bringen. Das sollte dir nicht schwer fallen. Du weißt ja, welche Bevölkerungsteile zuerst dorthin ausgesiedelt wurden. Auf dem Mars tummeln sich momentan genau Diejenigen, welche mit dem hiesigen Gesellschaftssystem unzufrieden waren und nach Veränderung lechzen.


