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Außerdem nehme ich an, dass die Tiberianer dort ziemlich schockiert darüber sind, was mit den terrestrischen Nachbarn geschehen ist. Mutter hat bereits fleißig herumposaunt, dass es um die minderwertige Menschenrasse nicht schade sei. Das dürfte Vielen missfallen. Wenn nun eine jüngere Version dieser eiskalten Alanna daherkommt, die viel umgänglicher ist, sollte sie leichtes Spiel haben.
Mit anderen Worten: Du sollst über kurz oder lang die Regentin auf dem Mars werden, während sich Tiberia nach und nach entleert und die Bevölkerung so ganz automatisch zu dir überläuft. Ehe es sich meine liebe Gattin versieht, hat sie nichts mehr zu melden, weil ich selbstverständlich hinter dir stehen und die Vorgänge billigen, ja, mehr noch, im richtigen Augenblick freiwillig abdanken werde.«
Die junge Frau war baff. »So sehr vertraust du mir?«
»Ja. Du hast ein gutes Herz. Ich weiß, dass du die Rettung für unsere Gesellschaft bist. Mir selbst liegt nichts an Macht, ich würde lieber ein ruhigeres Leben führen. Wahrscheinlich habe ich damals deswegen in übergroßer Duldsamkeit zugelassen, dass Alanna mir das Ruder aus der Hand nimmt. Es war, jetzt im Nachhinein betrachtet, ein riesengroßer Fehler.
Es tut mir in der Seele weh, dass du ihn nun an meiner Stelle ausbügeln sollst. Und doch denke ich, Tiberia und unsere Familie werden letzten Endes von diesem Schachzug profitieren. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie uns in ihrer Egomanie alle samt in den Abgrund reißt. Eine CALABTUN alte Zivilisation steht auf dem Spiel. Du bist die Zukunft, mein Schatz.«
Alanna sprang auf, flog ihm gerührt in die Arme. Vater und Tochter hielten sich lange fest, ehe die designierte Thronfolgerin mit Tränen in den Augen nickte und ihm feierlich zusicherte, dass sie sein Vertrauen zu schätzen wüsste.
*
Mit jedem KIN, der nach diesem innerfamiliären Gespräch ins Land ging, verlor Alanna senior an Rückhalt, ohne es zu ahnen. Sie freute sich diebisch, dass ihre fiese Aktion augenscheinlich prima funktioniert hatte. Auf dem Mars kamen zurzeit keine terrestrischen Kolonisten mehr an. Das scheinbare Erfolgserlebnis lullte sie ein, trübte ihre sonst so scharfen Sinne.
Die Regentin bemerkte lange nichts von den Vorgängen auf dem Mars, schon weil sie sich mit den dortigen Untertanen kaum befasste. Auf Tiberia umgab sie sich die meiste Zeit über mit ihren Getreuen, mit willenlosen Speichelleckern und den nüchtern denkenden Wissenschaftlern aus ihrer angestammten Sektion. Wie eine Spinne in ihrem Netz saß sie im Regentenpalast, glaubte alles im Griff zu haben.
Noch immer galt es, zahllose technische Probleme zu lösen, die mit der Besiedlung einer komplett unterirdisch gelegenen Stadt zwangsläufig einhergingen. Eines musste ihr der Neid lassen: Die Vorderste der Sektion Wissenschaft, Geschichte, Archiv und Schrift verstand es meisterlich, stets kompetente und hoch motivierte Leute aufzutreiben, die sich unter ihrer Federführung darum kümmern konnten. Etliche neue Städte entstanden in der neuen und alten Heimat, die, gleich einem reanimierten Patienten, frische Lebensfreude ausstrahlte.
Das Marsklima stabilisierte sich zunehmend, es entstand ein leistungsfähiges Ökosystem. Sauerstofferzeugende Grünflächen und Wettersysteme bildeten sich aus. Schon bald würde man die Atmosphärenkraftwerke abschalten können, weil der Planet selbst in der Lage wäre, seine Lebewesen zu erhalten.
Ein TUN nach der Nuklearkatastrophe kamen wieder neue Siedler von Terra. Sie wagten es nicht mehr, in der CydoniaRegion zu siedeln, sondern wählten einen Ort namens Hypanis Vallis. Er lag in der Xanthe TerraRegion, unweit der tiberianischen Atmosphärenkraftwerke.
Die Bevölkerungszahl auf Tiberia reduzierte sich innerhalb weniger TUN spürbar. Unablässig rauschten monströse Raumfrachter durch den gekrümmten und damit stark verkürzten Raum zwischen Tiberia und dem Mars. Längst handelte es sich nicht mehr nur um lästige Unruhestifter und Glücksritter, die man elegant loswerden wollte.
Mittlerweile konnten in einigen der insgesamt dreihundert Distrikte mehrere Untersektionen aus personellen Gründen nicht mehr aufrechterhalten werden, so dass man sie mit denen angrenzender Distrikte zusammenfassen musste. Die logistischen Schwierigkeiten bei der Versorgung des halb verlassenen Himmelskörpers nahmen kontinuierlich zu.
Inzwischen war abzusehen, dass nicht alle Einwohner Tiberias zum Mars umzusiedeln gedachten. Am Ende sollte also eine Kolonie bestehen bleiben, die das bisherige Leben unverändert weiterhin aufrechterhalten würde. Diese eingeschworenen Traditionalisten hielten partout nichts von Familienverbänden und dem monetären System, das Alanna auf dem Mars installieren wollte, hielten es sogar für gefährlich. Wahrscheinlich würden sich diese ewig gestrigen Sturköpfe viral vermehren, um den verwaisten Planeten neu zu bevölkern.
»Soll mir recht sein«, überlegte die Regentin. »Dann kann ich zukünftig über eine noch größere Anzahl von Menschen herrschen. Tiberia wird niemals etwas anderes sein dürfen als eine abhängige Marskolonie. Ich muss nur zusehen, dass nach der Verlegung unseres Regierungssitzes zum Mars dort nichts aus dem Ruder läuft.
Vielleicht schicke ich mein äußerst ehrgeiziges Fräulein Tochter dorthin. Sie vertritt meine Interessen offensichtlich auch auf dem Mars ganz ordentlich. Jedenfalls kommen von dort keine Klagen.«
Alanna ahnte nicht, dass die NeuMarsianer mit ihrer Interimsregentin sogar außerordentlich zufrieden waren. Die junge Frau vereinte die Intelligenz und Organisationsfähigkeit ihrer Mutter mit der Integrität und Besonnenheit ihres Vaters in sich. Diese ausgewogene Genmischung sorgte dafür, dass Alanna junior eines schönen Tages, zusammen mit einer kleinen Delegation, sogar Kontakt mit den neu angekommenen Terranern aufnahm, bei den Verantwortlichen um eine friedliche Koexistenz warb. Sie benutzte die uralte Universalsprache Latein, die ihre Vorfahren vor Urzeiten auf dem Mars verwendet und bei späteren Missionen auf Terra etabliert hatten.
Die beiden, genetisch nur wenig verschiedenen Menschenrassen, bestaunten und taxierten sich gegenseitig, tauschten erste Informationen aus. Man trennte sich unter Anwendung eines weiteren, universell gültigen Habitus – einem freundlichen Lächeln. Auf Tiberia erfuhr allein Kiloon von der weitsichtigen Großtat seiner Tochter.
Obgleich man auf der Erde theoretisch mit der Existenz weit entwickelter Aliens gerechnet hatte, löste Alannas gut gemeinter Vorstoß dort eine wahre Hysterie aus. Wie bei jeder globalen Angelegenheit waren die Mächtigen des blauen Nachbarplaneten uneins, ob man die Anwesenheit fremder Intelligenzen auf dem Mars als Bedrohung oder als große Chance wahrnehmen sollte. Erbittert wurden konkurrierende Argumente, Vorschläge und Pläne zur Bekämpfung der zahlenmäßig überlegenen Fremden aus dem Hut gezaubert.
Skepsis dominierte das Denken – und nicht etwa die Freude darüber, dass die Frage, ob die Menschheit der Erde im Weltall alleine sei, nun endgültig beantwortet worden war.
Man sorgte sich vor allem um die Gefahr, dass einem die anderen Marsianer Gebietsansprüche streitig machen und die Kolonisten von der Erde beherrschen wollen könnten. Auch erinnerte man sich unangenehm an die Schilderung des vor einigen Jahren verstorbenen Phönix 1Kolonisten Philipp Emmerson, der seine damalige Begegnung der dritten Art am Observationsiglu als eher beängstigend und feindselig beschrieben hatte.
Die terrestrischen Kolonisten auf dem Mars nahmen die Existenz von außerirdischen Nachbarn nach anfänglicher Besorgnis als willkommen hin. Sie mussten im Alltag fern der Erde so oder so mit den Anderen umgehen, konnten nicht abwarten, bis die irdischen Regierungen sich irgendwann vielleicht einigten und eine offiziell gewollte Gangart vorgaben. Sie waren nahezu unbewaffnet, hätten im Falle eines Angriffs ohnehin nichts entgegenzusetzen gehabt. Also freuten sie sich darüber, dass ein solcher nicht zu befürchten war.
Alle Zeichen standen hoffnungsfroh auf Frieden.
Terra, 16. September 2017 nach Christus, Samstag
Levi blickte ärgerlich drein, nahm das Päckchen entgegen, das Aaron ihm entgegenstreckte. »Was genau soll das heißen: Die sind weg?«
»Dass ich dreimal zu unterschiedlichen Uhrzeiten bei der Adresse in Nave Sha’anan gewesen bin, die du mir gegeben hattest. An der Wohnung öffnet niemand, und die besoffenen Nachbarn wissen alle von nichts.
Außerdem hat mir Solaras vor einigen Wochen mein Notebook zurückgegeben. Er erklärte, er habe inzwischen genug recherchiert. Die beiden sind bestimmt schon unterwegs in die Türkei. Du wirst deine Graspäckchen künftig also wieder selber ausliefern müssen«, meinte Aaron achselzuckend.
»Ohne sich zu verabschieden? Nach allem, was ich für sie getan habe? Was für undankbare Arschlöcher!«
»Das ist für uns nicht unbedingt von Nachteil«, überlegte Aaron laut. »Wenn die sich unfair verhalten, können wir das ebenfalls tun. Ich jedenfalls fühle mich an das Versprechen, niemandem über die fliegende Untertasse bei Jad Mordechai zu erzählen, nicht mehr gebunden.«
Levis Augen leuchteten auf. »Krass, Alter! Wenn wir damit zur Presse gehen, sind wir die Größten. Levi und Aaron, die glorreichen Entdecker einer AlienInvasion. Und zum Beweis präsentieren wir den … wie haben sie das Ding genannt?«
»Den Raumgleiter.«
»Genau. Wir fahren dorthin, buddeln ein wenig im Sand, fotografieren ihn und schicken das grandiose Bild zum Anfixen an die Zeitung. Die werden uns fürstlich bezahlen.«
»Ich bin dabei!«, freute sich Aaron.
Mit einer Schaufel bewaffnet, machten sich die beiden Jungs noch am selben Tag auf den Weg zum Busbahnhof. Sie schilderten sich gegenseitig in den schillerndsten Farben, was sie mit dem vielen Geld anfangen würden, das man ihnen bald in Bündeln nachwerfen würde.
Knapp eineinhalb Stunden später bog der Bus in die Haltebucht vor dem Kibbuz ein. »Jetzt werde ich doch ein bisschen nervös«, gestand Aaron. »Was, wenn sie ihren Raumgleiter doch abgeholt haben?«
Levi lachte kehlig. »Du spinnst doch total! Die müssen sich am Grenzübergang registrieren lassen, dürfen nicht einfach drüber weg fliegen. Ich hatte denen klar und deutlich gesagt, dass sie ansonsten ihre Sozialhilfe in Deutschland vergessen können.«
»Hoffen wir das Beste.«
Gegen 16 Uhr erreichten sie, nachdem sie sich ein paarmal verirrt hatten, die fragliche Stelle. Beim letzten Besuch war es relativ dunkel gewesen, die Umgebung wirkte heute verändert. Nun standen die beiden fassungslos vor einer symmetrischen Bodenmulde, um deren Rand etwas Aushub und ein paar tote Steppenpflanzen zu sehen waren.
»Scheiße!«, fluchte Levi. »Das ist definitiv der Ort, an dem sie das Ding versteckt hatten. Ich erkenne den verkrüppelten Baum da drüben wieder. Diese Idioten sind doch damit weggeflogen. Der Teufel soll sie holen!«
Aaron wischte sich Schweiß aus dem Gesicht. »Ja, leider. Aber noch ist nicht aller Tage Abend. Wir gehen trotzdem zur Zeitung und erzählen denen unsere Geschichte. Dass wir den Aliens wochenlang geholfen und wie sie ihren fernen Heimatplaneten beschrieben haben, die Story von diesem gruseligen Holographen … und so weiter. Dann führen wir die Zeitungsfritzen hierher. Man sieht an den deutlichen Abdrücken im Sand, dass bis vor kurzem hier etwas sehr Schweres mit strukturierter Unterseite gelegen oder gestanden haben muss. Die sollen mit Messgeräten anrücken, vielleicht ist Radioaktivität oder sowas messbar. Soll ja auch andernorts nach UFOSichtungen so gewesen sein.«
Sie fotografierten die leere Bodenmulde von allen Seiten mit den Smartphones. Danach zogen sie frustriert wieder ab.
Zwei Wochen später waren Aaron und Levi erheblich reicher als zuvor, wenn auch nur an Erfahrung. Bei der großen Tageszeitung Tel Avivs waren sie als Spinner ausgelacht worden. Also hatte Levi die Bilder mit entsprechendem Kommentar ins Internet gestellt. Sie erzeugten dort jede Menge Aufmerksamkeit, allerdings hauptsächlich der negativen Art. Ein wahrer Shitstorm ergoss sich auf die jungen Männer. Sie hätten die Abdrücke ganz einfach selber in der Mulde erzeugen und ein paar Pflanzen ausreißen können, hieß es.
Freilich, es gab auch ein paar unverbesserliche Verschwörungstheoretiker, die voll auf die angebliche Begegnung der dritten Art einstiegen. Aber mit denen war eben kein Blumentopf zu gewinnen. Sie stahlen einem nur Zeit, besaßen jedoch nicht die Möglichkeit, an der Landestelle irgendwelche Messungen durchzuführen.
Allein das Restaurant Nefilim profitierte von den Gruppen, die nach den ersten Posts wochenlang zur Besichtigung des angeblichen UFOLandeplatzes anrückten. Und das sogar noch, nachdem es geregnet hatte und definitiv keinerlei Spuren mehr zu erkennen waren.
Für Aaron Rosenthal sollte die unselige AlienAffäre noch ein besonders unangenehmes Nachspiel haben. Seine überaus besorgten Eltern ließen ihn ein paar Wochen nach dem Vorfall psychiatrisch begutachten und legten anschließend größten Wert darauf, dass er Levi nicht mehr traf. Der Psychiater hatte nämlich darauf hingewiesen, dass die psychische Störung wohl hauptsächlich durch dessen Suggestionen ausgelöst worden sei.
Terra, 27. November 2017 nach Christus, Montag
Solaras und Kalmes hatten ihre Anhörung bei einem Mitarbeiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ohne Probleme überstanden. Vorgebliche Syrer hatten es da vergleichsweise einfach. Eine begründete Furcht vor Verfolgung geltend zu machen, wenn man direkt aus einem Bürgerkriegsgebiet kommt, fällt naturgemäß relativ leicht.
Sie wohnten mittlerweile im Asylheim Freiberg in Sachsen. Heute erst war der schriftliche Bescheid über die Aufenthaltserlaubnis gekommen. Kalmes las ihn jubelnd vor. Sie durften in Deutschland bleiben.
Nun konnte es losgehen: Deutschkurs, Wohnung, Integrationsangebote und – last but not least – hatten sie endlich die Erlaubnis erhalten, sich auf dem Jobmarkt einen Arbeitsplatz zu suchen. Es ging mit Riesenschritten aufwärts. Bald schon würden sie selbstbestimmt leben und das antrainierte arabische Gehabe ablegen dürfen.
Kalmes freute sich schon darauf, sich bald in die fantasievollen terrestrischen Gewänder hüllen zu können. Selbstverständlich gedachte sie nach dem geplanten Umzug in eine eigene Wohnung nicht länger Kopftücher zu tragen, sondern sich in punkto Kleidung voll der deutschen Bevölkerung anzupassen. Die reiche Auswahl an Farben und Schnitten in den Bekleidungsgeschäften erschien ihr paradiesisch.
Zwischenzeitlich hatten die frisch gebackenen Asylanten gleichwohl bemerkt, dass in Deutschland auch nicht alles Gold war, was glänzte. Die Schere zwischen Arm und Reich klaffte sehr weit auseinander. Es gab Neid, Missgunst, Bürokratie, viel schlechte Laune und sogar islamistische Anschläge in diesem wunderhübschen Land voller grüner Wälder.
Die Tiberianer konnten beim besten Willen nicht verstehen, wieso sich manche ihrer Mitflüchtlinge intolerant und sogar gewalttätig verhielten. Es wurde geprügelt und vergewaltigt. Einige der Asylsuchenden sprengten sich gar als Selbstmordattentäter selber in die Luft, rissen unschuldige Zufallsopfer mit in den Tod. Aber hätten diese, zumeist jungen, Männer nicht froh und dankbar sein müssen, der lebensbedrohlichen Situation in ihrem Heimatland entronnen zu sein? Dass sie von der demokratischen Regierung dieses Landes, und das wohlgemerkt ohne jegliche Gegenleistung, neben Schutz ein Dach über dem Kopf, Essen und sogar ein wenig Taschengeld gestellt bekamen?
Als halbwegs verständliche Reaktion auf die vielen negativen Vorkommnisse mit Flüchtlingen schlugen den Freiberger Heimbewohnern Vorurteile und manchmal auch purer Hass der ortsansässigen Bevölkerung entgegen. Darunter hatten auch Solaras und Kalmes zu leiden. Scheele Blicke der Anwohner waren noch das Harmloseste, was sie erdulden mussten.
»Wenn ich daran denke, dass wir Tiberianer an diesen ganzen durch religiöse Ansichten verursachten Konflikten schuld sind, könnte ich wahnsinnig werden. Jesus hat kläglich versagt«, ging Solaras oft hart mit sich ins Gericht.
Kalmes pflegte ihn in solchen Phasen zu trösten. »Wir haben den Menschen auf Terra durch die Propheten Jesus von Nazareth und Mohammed nur das Angebot gemacht, sich an sinnvollen Wertvorstellungen zu orientieren. Pervertiert und ins Gegenteil verkehrt haben sie die Lehren selbst. Im Übrigen sind nicht alle Terraner schlecht. Dieser falsche Eindruck wird nur durch die einseitige, sehr negative Berichterstattung genährt. Wie kann man nur den Planeten, auf dem man lebt, in einem derart üblen Licht darstellen?«
Als Solaras sich sechs Monate später einen lange gehegten Herzenswunsch erfüllen und seine Kalmes ehelichen wollte, erlebte er auf dem Standesamt eine böse Überraschung. Man hatte das Paar in Passau versehentlich als Mutter und Sohn alHaruni registriert. Da die beiden keine Originalurkunden aus ihrem Heimatland vorweisen konnten, war es nicht möglich, diesen fatalen Irrtum aufzuklären. Ein Gentest verbot sich, denn der hätte das Paar sofort als mutmaßlich Außerirdische in die Schlagzeilen gebracht. Tiberianische DNS unterschied sich nun mal leider marginal von der terrestrischen. Auch ihre Blutgruppe war auf Terra inexistent.
So kam es, dass Solaras und Kalmes ihre Liebe im Verborgenen leben mussten. Aber sie gingen wenigstens gemeinsam durchs Leben, was auf ihrem Heimatplaneten völlig undenkbar gewesen wäre. Und das war es, was zählte.
Terra, 18. Dezember 2021 nach Christus, Samstag
eutschland gab den mittlerweile bestens integrierten Flüchtlingen von Tiberia immer noch einige Rätsel auf. Sie lebten nun schon seit drei Jahren in einer eigenen,
kleinen Sozialwohnung in KölnDeutz. Solaras arbeitete an der Kasse einer Großtankstelle Schicht. Kalmes war Küchenhilfe, schnippelte in Teilzeit Gemüse für ein angesagtes Restaurant nahe der Domplatte. Ab und zu half sie im Service aus.
Beide hatten die deutsche Gründlichkeit und Zuverlässigkeit schätzen gelernt, haderten jedoch mit ihrer beruflichen Unterforderung. Potentielle Arbeitgeber pochten auf Zeugnisse und Referenzen, sobald es um besser bezahlte Jobs ging, anstatt auf Lebenserfahrung oder probeweises Arbeiten zu setzen. Der Konkurrenzkampf unter den Bewerbern erschien gnadenlos. Alles in Deutschland war streng reguliert, fast wie auf ihrem Heimatplaneten, und die Tiberianer mussten sich wohl oder übel den Gegebenheiten beugen.
Besonders schwer fiel es Kalmes und Solaras naturgemäß, ihre Biografie glaubhaft darzustellen. Sie mussten eine berufliche Laufbahn in Syrien erfinden – ohne dafür Nachweise vorlegen zu können – und vor allem die lange Zeitspanne verschweigen, die sie auf dem fernen Tiberia zugebracht hatten.
Da blieb nichts übrig, was man als Berufserfahrung hätte ins Feld führen können. Der Sachbearbeiter im Jobcenter hatte für die hochmotivierten Flüchtlinge daher nur Billiglohnjobs auftreiben können, obwohl sie in Rekordzeit Deutsch gelernt hatten.
»Was ist, wollen wir jenen seltsamen Brauch mit den Weihnachtsbäumen heuer mitmachen? Ich finde den heimeligen Anblick so hübsch«, fragte Kalmes beim Frühstück an einem Samstagmorgen.
»Du willst einen Weihnachtsbaum … obwohl du weißt, dass der Kult um dieses Fest völliger Schwachsinn ist? Angeblich wird an Weihnachten meine Wiedergeburt auf Terra gefeiert und deswegen eine Geschenkeschlacht veranstaltet. Aber was bitte sollten Tannenbäume damit zu tun haben? Die gab und gibt es in Galiläa überhaupt nicht! Eine einzige Heuchelei ist das. Drei Tage lang Friede, Freude, Eierkuchen – obwohl es hinter den Festtagsfassaden gehörig brodelt. Und wieso feiert man das Fest im Dezember, wenn ich doch im März geboren bin?«
Kalmes musste lachen. Der Gedanke, dass man hier auf Terra in Wirklichkeit ihren außerirdischen Lebensgefährten feierte ohne zu ahnen, dass er gerade unter ihnen weilte, amüsierte sie. Jesus von Nazareth alias Solaras alias Raschid alHaruni oder Joshua Goldberg konnte wahrlich als multiple Persönlichkeit gelten.
»Ach, sieh das doch nicht so eng. Die Menschen biegen sich immer und überall alles so zusammen, wie sie es gebrauchen können. Da vermag man schon mal alte Bräuche mit neueren Religionen zu mixen. Es geht mir persönlich um die Optik, ich mag eben Bäume.«
»Na schön, wenn du Wert darauf legst. Wir müssen beim Kauf nur genau darauf achten, dass sich keine dunkelhaarigen Männer mit Rucksäcken in der Nähe aufhalten. Ich habe gehört, dass es einige Selbstmordattentate an Orten gegeben hat, die mit Weihnachten zu tun hatten. Zum Beispiel letztes Jahr, auf dem Frankfurter Weihnachtsmarkt. Da hat die Detonation sogar jede Menge unschuldiger Kinder erwischt.«
»Stimmt, wir sind besser vorsichtig. Doch schwarzhaarige Menschen zu umgehen, wird zunehmend schwieriger. Dieses Land quillt vor Migranten aus dem Nahen Osten über. Blonde, hellhäutige Typen haben bereits Seltenheitswert, auch weil sich die Rassen vermischen und das Dunkle genetisch meist dominiert. Ich finde das übrigens ein bisschen schade. Dabei geht Vielfalt verloren, die die Evolution über Jahrtausende hinweg aufgebaut hat.«
»Haarfarben und Hautpigmente sind aber noch das geringste Problem, das ich damit habe. Für mich ist es hart mitanzusehen, was aus meiner und Mohammeds Lehre geworden ist. Mein Lebenswerk wird da mit Füßen getreten. Auch scheinen die beiden Religionen keineswegs kompatibel zu sein, obwohl sich Koran und Bibel in wichtigen Punkten kaum unterscheiden. Von Bombenattentaten, Weihnachtsgänsen, Lichterbäumen und Kopftüchern oder gar Burkas steht jedenfalls nichts in den Heiligen Büchern«, sagte Solaras betrübt.
»Das ist richtig. Aber wir müssen nach vorne sehen, dürfen nicht ständig auf Vergangenes zurückblicken und uns grämen. Hast du dich schon entschieden, welcher Sternwarte wir die Aufzeichnung auf unserem Holographen vorführen werden? Das sollten wir gleich zu Beginn des neuen Jahres in Angriff nehmen. Inzwischen sprechen wir schließlich beide gut genug
Deutsch, um Zusammenhänge erklären zu können.
Auch wenn wegen Alannas fatalem Hang zu Intrigen nicht vollständig sicher ist, ob wirklich bald ein Asteroid auf Terra einschlagen wird oder das Ganze nur meisterlich inszeniert war – wir müssen die Bevölkerung zumindest warnen. Es ist in jedem Fall angezeigt, Vorkehrungen für einen solchen Fall zu treffen. Das Weltall ist voll von vagabundierenden Brocken. Alles nur eine Frage der Zeit, wann sich einer von ihnen hierher verirren wird. Diese Gefahr unterschätzt man auf Terra bis dato noch.«
»Ein wahres Wort. Mit ein bisschen Glück werden die Astronomen erkennen, was an Fachkenntnissen in mir steckt. Und dann ade, Tankstelle. Ich habe im Internet recherchiert und würde am liebsten zum LeibnizInstitut für Astrophysik in Potsdam fahren. Die unterhalten mehrere Observatorien und sind Partner von Einrichtungen in Arizona, Teneriffa und der Antarktis. Das Institut forscht auf den Gebieten Astronomie und Astrophysik. Ich bin Wissenschaftler mit Leib und Seele, und als solcher würde ich mich endlich gerne wieder betätigen.«
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Kalmes drehte sich vor dem Spiegel, betrachtete kritisch ihr Abbild. Wie fremdartig ihr das leuchtend sonnengelbe Gewand inzwischen doch vorkam! Solaras, der
sich ebenfalls in die traditionelle tiberianische Tracht geworfen hatte, erging es ähnlich.
»Wie gut, dass man jetzt im Januar auf Terra Mantel tragen muss. Wir würden sonst wohl auf der Straße ziemlich auffallen«, lachte der in Blau gekleidete Wissenschaftler.
»Stimmt. Aber glaubst du wirklich, dass unsere Gewänder die Story, die wir den Astronomen in Potsdam auftischen werden, glaubhafter erscheinen lassen?«, zweifelte Kalmes.
»Einen Versuch ist es wert. Eigens zu diesem Zweck haben wir sie ja mit auf unsere abenteuerliche Schlauchbootfahrt genommen, nicht wahr? Außerdem fühle ich mich so selbstsicherer, wieder mehr wie ein anerkannter Wissenschaftler.
Aaron und Levi hat einst die Ausstrahlung des Holographen tief beeindruckt, sie haben uns geglaubt. Wissenschaftler müssten eigentlich erst recht sehr daran interessiert sein, ihre rudimentären Kenntnisse über das Weltall zu erweitern und dankbar brisante Informationen von waschechten Außerirdischen anzunehmen. Unser andersartiger Blickwinkel auf dieses Sonnensystem müsste sie über die Maßen faszinieren. Ach, es wird schon gut gehen.«


