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»Das hoffe ich sehr.«
Es sollte bedauerlicherweise ganz anders kommen. Schon bei der Ankunft in der Sternwarte gab es die ersten Schwierigkeiten. Man wollte sie nicht ohne weiteres zum Leiter der Einrichtung vorlassen, sie borniert mit der Bemerkung abspeisen, sie sollten sich per EMail mit der für Presseund Öffentlichkeitsarbeit zuständigen Dame in Verbindung setzen. Es war nur Solaras‘ Hartnäckigkeit zu verdanken, dass sie am Ende doch noch bei der Sekretärin des Wissenschaftlichen Vorstandes ihre Bitte um einen Gesprächstermin vortragen durften.
»Wir sind extra aus Köln angereist. Er wird doch eine halbe Stunde für uns erübrigen können? Es geht um eine Entdeckung globaler Tragweite«, bemerkte Solaras trocken.
Die Dame blickte säuerlich drein, wirkte desinteressiert. »Wir haben hier öfters mit Hobbysternguckern zu tun, die meinen, einen neuen Himmelskörper entdeckt zu haben. Da wären Sie beileibe nicht der erste!«
Solaras zog den Holographen aus dem Stoffbeutel. »Um so etwas geht es doch gar nicht. Auf diesem Gerät befindet sich die Simulation eines Asteroideneinschlags mitsamt den zugehörigen Daten, wie er sich in der – in kosmischen Zeitdimensionen gesehen – nächsten Zukunft hier auf der Erde ereignen wird.«
»Ach so … und das wissen Sie … aus welcher Quelle?«, fragte die Sekretärin schnippisch.
»Verzeihen Sie, aber darüber würde ich gerne mit jemandem reden, der wissenschaftlich ausgebildet ist«, gab der Tiberianer bissig zurück. Er war am Ende seiner Geduld angelangt.
Die Tür zum Allerheiligsten öffnete sich einen Spalt, und der Wissenschaftliche Leiter steckte den Kopf heraus. Die hitzig geführte Diskussion in seinem Vorzimmer war ihm offensichtlich nicht verborgen geblieben.
»Was gibt es hier?«
Die Sekretärin schnaubte wie ein wütendes Walross. »Diese mir nicht bekannten Herrschaften hier behaupten … «
»…dass sie sehr wichtige Informationen für Sie und Ihre Kollegen haben«, beendete Solaras den Satz. Das kobaltblaue Wissenschaftlergewand schien ihm tatsächlich Selbstbewusstsein zu verleihen. Er entledigte sich demonstrativ seines Mantels, und Kalmes tat es ihm nach.
Der Mann trat vollends ins Vorzimmer, taxierte die beiden Besucher in den farbigen Gewändern erstaunt von oben bis unten. Die Sekretärin räusperte sich, grinste hochmütig.
»Sie tauchen hier in Karnevalskleidung auf und erwarten, dass man Sie ernst nimmt?«
Solaras ließ sich nicht beirren. »Das ist auf dem Planeten, von dem wir kommen, die Bekleidung der Wissenschaftssektion, ergo Ihres Standes. Meine Begleiterin ist dort eine angesehene Dozentin und trägt daher Gelb. Die Farbe unserer Gewänder zeigt die Sektionszugehörigkeit an.«
Missbilligendes Kopfschütteln.
Die Tiberianer merkten, dass sie mit Reden nicht weiter kamen. Verstohlen aktivierte Solaras den Holographen, was die beiden Ignoranten mit einem erschrockenen Keuchen quittierten. Wie damals auch Aaron und Levi, wähnten sie sich urplötzlich umgeben vom Weltall, welches aus undurchdringlicher Schwärze zu bestehen schien.
Als der bedrohlich aussehende Asteroid schließlich in einem Flammenmeer durch die Erdatmosphäre raste, wimmerte die Sekretärin, die inzwischen merklich an Arroganz verloren hatte, wie ein kleines Kind. Der Wissenschaftliche Leiter wirkte wie paralysiert, er drehte die Augäpfel heraus.
Die eindrucksvolle Show war kurz darauf zu Ende. Die überrumpelten Terraner brauchten eine Weile, bis sie sich wieder gefangen hatten. Beide waren ein wenig blass um die Nase.
»Ich muss schon sagen! Etwas Vergleichbares habe ich in der Tat noch nie zuvor gesehen«, krächzte der terrestrische Professor. »Was sind Sie wirklich – ein Entwickler für PCGames oder ein FXSpezialist aus der Filmindustrie? Ich werde Ihre Vorführung gerne im Gedächtnis behalten und Sie informieren, wenn wir eine gelungene Simulation zu Unterrichtszwecken oder für unsere Webseite gebrauchen können. Lassen Sie Frau Stenglein einfach Ihre Visitenkarte da. Und nun entschuldigen Sie mich bitte«, sagte er in versöhnlichem Ton. Er stand immer noch sichtlich unter dem Eindruck des Erlebten.
Solaras riss der Geduldsfaden.
»Nein, warten Sie! Ich bin kein FX … Dingsda. Bitte verzeihen Sie, dass wir uns noch nicht richtig vorgestellt haben. Wir hatten einen negativen Start und fangen einfach noch mal ganz von vorne an, ja?
Auch wenn das für Sie schwer zu akzeptieren sein muss – jedes Wort ist wahr. Wir beide kommen von einem zirka zweitausenddreihundert Lichtjahre entfernten Planeten namens Tiberia, der im CygnusSystem angesiedelt ist. Wir beherrschen die Raumzeitkrümmung und haben in der Vergangenheit wiederholt in die terrestrische Geschichte eingegriffen. Der Raumgleiter, mit dem wir direkt vom Mars hierher reisten, liegt in der Nähe der libyschen Stadt Darna unter Wüstensand begraben. Ich heiße Solaras, bin meines Zeichens Raketenwissenschaftler. Das hier ist meine Lebensgefährtin Kalmes, eine angesehene Dozentin für Bildung und Ideologie.
Was Sie vorhin beobachtet haben, war die holographische Simulation eines fatalen Asteroideneinschlags, und zwar mitsamt sämtlichen Berechnungen, wie er sich in einigen Jahrhunderten zutragen wird. Wir wollen die Erdbevölkerung warnen, damit sie rechtzeitig Vorkehrungen treffen kann, die Katastrophe abzuwehren.«
Der Professor und seine Vorzimmerdame sahen sich für einen Augenblick verblüfft an, dann lachte der Wissenschaftliche Leiter schallend los.
»Jetzt reicht es mir aber. Auch wenn Ihre alberne Vorstellung recht amüsant ist, muss ich jetzt weiterarbeiten. Sie sollten sich überlegen, wem Sie diesen frei erfundenen Schwachsinn zeigen. Ich finde es übrigens verwerflich, aus Spaß und Tollerei mit den Ängsten der Menschen zu spielen. Auf Wiedersehen!« Mit dieser süffisanten Bemerkung verschwand er kopfschüttelnd in seinem Büro, schlug die Tür hinter sich zu.
»Sie haben es gehört! Wir müssen heute auch noch einiges Sinnvolle tun. Ich darf Sie also bitten …?«, blaffte die Sekretärin unfreundlich und wandte den Blick demonstrativ auf den Monitor vor ihrer Nase.
Ein paar Minuten später standen die Tiberianer draußen auf der Straße. »Solche eitlen Ignoranten! Manchmal frage ich mich ernsthaft, ob die Terraner einen verheerenden Asteroideneinschlag nicht doch verdient hätten«, schimpfte Solaras mit gerunzelter Stirn. Er sperrte das kleine Elektroauto, einen Renault Zoe, auf. Sie hatten sich den Wagen erst vor einem Monat gebraucht zugelegt.
»Wir dürfen wegen einem ersten Misserfolg nicht gleich aufgeben«, warnte Kalmes. »Lass es uns bei einer kleineren Sternwarte versuchen. Vielleicht sind die Mitarbeiter dort nicht ganz so borniert. Wir sollten die zwei Tage Urlaub nutzen und noch weitere Institute mit unserer Aufzeichnung belästigen.«
Die InternetSuchmaschine lieferte eine Vielzahl von Eintragungen auf Solaras‘ Smartphone. Es gab Vereine, Stiftungen und jede Menge Privatpersonen, die ihre neugierigen Blicke über kleine und mittelgroße Observatorien gen Himmel richteten. Anstatt kreuz und quer durch die Bundesrepublik zu fahren, entschlossen sich die Außerirdischen, systematisch vorzugehen und suchten sich deshalb ausschließlich Einträge in der weiteren Umgebung von Potsdam heraus.
Die Reaktionen der Berufsund Hobbyastronomen in den Sternwarten Berlin, Demmin, Oranienburg, Prenzlau, Rostock und Stralsund waren ähnlich derer in Potsdam. In einer Einrichtung beschimpfte man die Tiberianer gar als ›lächerliche Kasper‹, die sich zum Teufel scheren sollten, anstatt einen ehrbaren Berufsstand mit voller Absicht in den Dreck zu ziehen.
»Über die Kleiderwahl sollten wir lieber nochmal nachdenken«, brummte Kalmes und parkte den Renault kurzentschlossen vor der Filiale einer Bekleidungskette.
*
Völlig entmutigt und todmüde kamen die missverstandenen Tiberianer am späten Nachmittag des zweiten Tages der Rundreise bei einer kleinen Privatsternwarte
namens Adlerhorst an. Ein findiger Hobbyastronom hatte die Observationskuppel kurzerhand auf den Neubau seines Einfamilienhauses in der Uckermark gesetzt, empfing die beiden Besucher mit offenen Armen.
»Sie hatten vorhin angerufen, nicht wahr? Gestatten, Rainald Hemmauer. Kommen Sie, ich zeige Ihnen mein Reich und stelle Ihnen meine Frau vor. Danach können wir bei einem Bierchen in Ruhe über Ihre sensationelle Entdeckung reden«, plauderte der launige, ungefähr sechzigjährige Mann mit dem dichten Vollbart. Sie betraten eine breite Diele, von der aus Zimmertüren in alle Himmelsrichtungen abgingen und eine metallene Wendeltreppe unters Dach führte. Die weiß gestrichene Diele mit dem ebenfalls weißen Fliesenboden wirkte ein wenig steril. Vermutlich waren die Hausherren erst vor kurzem hier eingezogen. Persönliche Gegenstände, die das Haus zu einem Heim gemacht hätten, fehlten noch.
»Es war gar nicht so einfach, das hier zu ermöglichen. Hat eine Stange Geld gekostet. Kuppel, Teleskop, Montierung und Betonsäule benötigen ein massives Fundament, damit nachher die Gesamtkonstruktion möglichst steif und schwingungsarm ist. Dafür mussten wir eine zwanzig Zentimeter starke Stahlbetonplatte verwenden, die auf das Treppenhaus aufgelegt wurde und bereits die Armierung für die Betonsäule des Teleskops bereitstellte«, referierte Rainald Hemmauer voller Besitzerstolz. Sie stiegen hintereinander die Metalltreppe hinauf, welche unter der Belastung vibrierte. Oben angekommen, offenbarte sich eine völlig andere Welt. Neben der, verhältnismäßig kleinen, Observationskuppel gab es ein großzügiges Zimmer mit Dachflächenfenstern, das mit einem Schreibtisch, einer Computeranlage, einem sehr bequem aussehenden braunen Ledersessel und raumhohen Bücherregalen ausgestattet war. Darin stapelten sich unordentlich Bücher, Skripten, Rollen und Stapel mit Blättern, die zum Teil auch überall auf dem Fußboden verteilt waren. ›Das gemütliches Refugium eines Individualisten‹, dachte Solaras.
»Zum Ärger meiner Frau verbringe ich die Freizeit meistens hier oben. Das ist mein Allerheiligstes«, enthüllte Rainald augenzwinkernd.
Kalmes studierte aufmerksam die Buchrücken, während ihr Gefährte sich mit dem ambitionierten Sterngucker unterhielt. Die Titel gaben durchaus Anlass zur Hoffnung. Asteroids, Erde in Gefahr, Die Bedrohung aus den Tiefen des Alls, stand da unter anderem zu lesen. Der Hobbyastronom hatte sich also zumindest bereits mit dem einschlägigen Thema befasst; anscheinend sogar ausgiebig, die Bücher wirkten abgegriffen. Man konnte sich mühelos vorstellen, wie Rainald hier oben stundenlang in den klaren Himmel blickte, Sternkarten studierte oder gemütlich in den dicken Bänden schmökerte. Vermutlich bekam ihn seine Frau nicht allzu oft zu Gesicht.
»Dieser Kuppelraum, der mein Teleskop beherbergt, ist letztes Jahr als erster fertig geworden. Das restliche Haus haben wir quasi drum herum gebaut. Damit habe ich mir einen jahrzehntelangen Traum erfüllt«, strahlte er mit blitzenden Augen.
»Und was für ein Gerät tragen Sie da so behutsam unter dem Arm? Hat das mit der Sensation zu tun, die Sie mir versprochen hatten?«
»Und ob! Sollen wir gleich loslegen?«
»Später. Meine Frau hat ein bescheidenes Abendessen vorbereitet. Es kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass sich ein fachkundiger Kollege in diese abgelegene Gegend verirrt. Wir verfügen über ein Gästezimmer. Sie können gerne darin übernachten, falls es heute spät werden sollte«, sagte der Bärtige mit einem gewinnenden Lächeln und geleitete seine Besucher höflich zur Wendeltreppe.
»Das wird nicht gehen. Wir müssen beide morgen Nachmittag in Köln wieder arbeiten und somit noch in der Nacht zurückfahren. Aber danke für Ihr nettes Angebot. Nach den bitteren Erfahrungen mit anderen Sternwarten sind wir schon froh, wenn uns überhaupt jemand zuhören möchte.«
»Ja ja, der berüchtigte Standesdünkel der hochdotierten Wissenschaftler. Den kenne ich nur zu gut«, grinste Hemmauer, verdrehte die Augen und lotste die Tiberianer ins Esszimmer.
»Rainald, nervst du die bedauerlichen Leute etwa schon wieder mit den wilden Geschichten über deine Entdeckung des winzigen Lichtpünktchens?« Eine korpulente Frau mit rotem schulterlangem Lockenhaar und Sommersprossen im Gesicht kam grinsend aus der Küche, wischte sich die Hände an der Schürze ab.
»Mensch, Marit – du sollst das doch nicht immer ins Lächerliche ziehen. Das ist höchstwahrscheinlich ein noch nicht katalogisierter Planet und kein ›Lichtpünktchen‹!« Rainald knuffte seine Frau zärtlich in den Oberarm. Die zuckte mit den Schultern und verschwand in der Küche, um kurz darauf mit einem dampfenden Topf wieder aufzutauchen. Auf den Unterarmen balancierte sie noch zusätzlich ein geflochtenes Körbchen mit geschnittenem Weißbrot.
»Nehmen Sie bitte schon mal Platz. Ich hoffe, Sie mögen Chili. Ich habe das Gericht nicht zu scharf gewürzt, da ich Sie und Ihre Vorlieben ja nicht kenne. Was darf ich Ihnen zum Trinken anbieten?«
Nach dem Essen und jeder Menge Smalltalk kam Solaras ohne weitere Umschweife zum Wesentlichen. Allerdings erst, nachdem Marit Hemmauer gegangen war und wieder geschäftig in der Küche werkelte. Er erzählte Rainald dieselbe Geschichte, die er schon in Potsdam zum Besten gegeben hatte; allerdings trugen er und Kalmes nun normale terrestrische Kleidung.
Rainald stand der Mund offen.
»Äh … ich hatte ja einiges erwartet, doch das …!«
»Nur zu, zweifeln Sie ruhig. Das ist verständlich. Aber würden Sie mir den Gefallen tun, sich zunächst die Aufzeichnung auf meinem Holographen anzusehen? Sie spricht für sich.«
»Ihrem was?«
»Meinem Holographen. Ich würde Sie bitten, dafür mit uns nach oben zu gehen. Ihre Frau … nun, sagen wir, sie könnte sonst hinterher ein bisschen verstört sein.«
Die Wangen des Hobbyastronoms röteten sich. »Jetzt haben Sie mich neugierig gemacht. Na klar, gehen wir also ins Observatorium. Marit taucht dort so gut wie niemals auf. Sie toleriert mein Hobby zwar halbwegs, aber teilen oder gar verstehen kann sie es offenbar zeitlebens nicht. Wir haben mit den Jahren eine Art Waffenstillstand erreicht. Ich darf nach Herzenslust HansguckindieLuft spielen, sie dafür zweimal pro Woche in ihren sauteuren Yogakurs gehen.«
Solaras stellte das Gerät mitten in Rainalds Hobbyraum, aktivierte es. Schon als sich die samtene Schwärze überall ausbreitete, musste der Gastgeber sich mit weit aufgerissenen Augen hinsetzen. Sein Gesicht sah aus, als würde er jeden Augenblick einen Schlaganfall erleiden.
Der Asteroid rauschte an ihm vorbei. »Das ist … das ist … «, stammelte er. Mehr brachte er nicht heraus. Nach dem dumpfen Einschlag hob er unwillkürlich die Füße von der brennenden Erdoberfläche, stellte sie auf die Vorderkante des Sessels und umschlang die Knie mit den Armen.
Die Vorstellung war vorüber. Rainalds Hände zitterten, doch die Augen strahlten. »Und das blüht der Erde tatsächlich? Du meine Güte … ich habe erkannt, woher der Asteroid geflogen kam. Die Sonne muss ihn wohl lange vor irdischen Blicken verborgen haben, er war wie ein Geisterfahrer unterwegs. Das für die Asteroidensuche eigens letztes Jahr reaktivierte Infrarotteleskop Wise würde ihn viel zu spät entdecken. Kann man die Datenfolgen auch ohne die restliche Aufzeichnung abspielen?«, japste Hemmauer ergriffen.
Solaras zog ein paar Blatt Papier aus seiner Tasche. »Natürlich. Ich habe sie in ausgedruckter Form mitgebracht. Sie sind übrigens der Erste, der sich mit der Möglichkeit befassen will, dass wir die Wahrheit sagen. Mithilfe der Berechnungen können Sie die Flugbahn anhand Ihrer Himmelskarte nachvollziehen. Vielleicht verstehen Sie jetzt, weshalb wir die Terraner … also, die Erdbevölkerung, warnen wollen. Die berechtigte Frage ist nur: Wie sollen wir das bewerkstelligen? Und werden Sie uns dabei helfen?«
Hemmauer antwortete spontan. »Selbstverständlich, unbedingt! Leute … entweder seid ihr und dieser Asteroid die Entdeckung des Jahrhunderts, oder ich bin soeben auf den besten Schwindel ever hereingefallen. Wann soll das Ding auf der Erde einschlagen?«
»Nicht zu unseren Lebzeiten, es dauert noch ein paar Generationen. Berechnet ist der 5. April 2272 hiesiger Zeitrechnung. Aber wirksame Vorkehrungen zur Abwehr dieses Planetenkillers kann man ja kaum von heute auf morgen treffen, da sind hundert Jahre schneller vorbei als man denkt.«
»Stimmt! Es müssen erst neue Technologien entwickelt oder Evakuierungsmöglichkeiten für die Menschen geschaffen werden. Man muss so früh wie möglich damit anfangen, Möglichkeiten auszuloten.
Klar … ich helfe euch, die Gefahr publik zu machen. In der offiziellen Fachwelt werden wir allerdings nicht weit kommen. Mein Ruf dort ist … hm … nicht der beste. Dieses Schicksal teilen die meisten Amateurastronomen, sie werden eher belächelt als dass man sie ernst nehmen würde. Wir sollten uns besser der sozialen Netzwerke sowie You Tube bedienen, um die Sache innerhalb kürzester Zeit auf breiter Front in die Öffentlichkeit zu tragen.
Irgendwann müssen sich dann auch die renommierten Wissenschaftler damit befassen, schon weil sie äußerst interessiert daran sein werden, die vermeintlich getürkte Aufzeichnung zu widerlegen – was ihnen gleichwohl kaum gelingen dürfte. Ich überlege mir was! Bierchen gefällig?«
Halbwegs zufrieden, aber total erschöpft, fuhren Kalmes und Solaras nach ausgiebigem Brainstorming und zwei Bieren in den frühen Morgenstunden nach Hause. Es ging auf der reifglatten Straße nur langsam voran. Die Fahrt und der nachfolgende Arbeitstag versprachen hart zu werden.
Terra, 19. Juli 2028 nach Christus, Mittwoch
Zum dritten Mal an diesem Tag bebte die Erde am Golf von Neapel. Um 11:28 Uhr Ortszeit begann der Boden zu zittern, im Hafenbecken kräuselten sich die Wellen im Rhythmus der Erschütterungen. Die Einwohner der Großstadt schraken auf, blieben wie gelähmt auf der Straße stehen oder unterbrachen ihre jeweilige Tätigkeit. Mancherorts fielen lockere Dachziegel zu Boden.
Furcht machte sich in der Bevölkerung breit. In den Nachrichtensendungen diskutierten sich renommierte Seismologen die Köpfe heiß, ob die jüngste Serie von Schwarmbeben und die sechs stärkeren Ereignisse mit einer Magnitude zwischen 3,1 und 4,7 auf der Richterskala seit vergangenem Freitag als Vorboten von etwas weitaus Schlimmerem zu bewerten seien. Manch ein Bewohner Neapels überlegte bereits, ob er seine Familie aus der bedrohten Stadt schaffen sollte.
Unter solchen Umständen erinnerten sich die Leute schlagartig daran, dass man eigentlich in einer brandgefährlichen Gegend lebte. Direkt am westlichen Stadtrand begannen die Phlegräischen Felder, eine Gegend von rund hundertfünfzig Quadratkilometern Durchmesser mit extrem hoher vulkani scher Aktivität, die sich unterseeisch bis zu den Inseln Ischia, Procida und Nisida fortsetzte. An Land gab es Thermalquellen und Fumarolen, giftige Schwefeldämpfe stiegen an zahlreichen Stellen auf und färbten das Gestein gelb. Die bestens erhaltenen Ruinen von Pompeji legten ein beredtes Zeugnis davon ab, wozu der Vesuv fähig war.
Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts war durch ein internationales Konsortium von namhaften Vulkanologen festgestellt worden, dass der aktive Vulkan und die besagten Phlegräischen Felder eine gemeinsame Magmakammer besaßen, deren gewaltiger Umfang das gesamte Gebiet zu einem sogenannten Supervulkan machte. Seit dem Jahr 2012 hatten die Forscher zudem verstärkte unterirdische Aktivitäten festgestellt, weshalb der italienische Zivilschutz die Warnstufe für das Gebiet dauerhaft erhöht hatte.
Bis vor ein paar Wochen hatte diese Tatsache niemanden in besonderem Maße geängstigt. Die mehr als eine Million Neapolitaner lebten seit Generationen mit der abstrakten Gefahr, sie liebten ihre Stadt über alles. Doch nun, da die Erdbeben den Boden unter ihren Füßen schwanken ließen, erinnerten sie sich unangenehm an die Schauergeschichten ihrer Großeltern, die im Jahr 1944 einen leichteren Ausbruch des Vesuvs miterleben hatten müssen. Seither schlummerte der trügerische Feuerberg, zierte das Panorama der Postkarten Neapels. Kündigte sich nun eine neue Phase der Aktivität an?
Man benötigte eine Vorwarnzeit von mindestens zwei Wochen, um sämtliche Einwohner des dicht besiedelten Gebietes im Rahmen des Il Programma Vesuvìa – la scelta possibile zu evakuieren. Touristen aus aller Herren Länder, die beim entspannten Stadtbummel die PiktogrammSchilder zur Markierung der Fluchtwege entdeckten, verspürten meist kribbelnde Schauder, die ihnen die Wirbelsäule entlang liefen – und vergaßen dieses beunruhigende Gefühl der latenten Gefährdung gleich wieder, sobald sie sich bei strahlendem Sonnenschein und einem lauen Sommerlüftchen in einem der vielen Straßencafés niederließen. Jedenfalls war das bis zu jener Woche im Juli 2028 so gewesen.
Zum Zeitpunkt des neuerlichen Erdbebens befanden sich auch Solaras und Kalmes in Neapel. Sie warteten am Bahnhof Napoli Centrale auf den Nachtzug, der sie in rund einer halben Stunde über Rom zurück nach Deutschland befördern sollte.
Seit sich die Simulation des zu erwartenden Asteroideneinschlags mit Rainald Hemmauers Hilfe über YouTube, Instagram und ähnliche Plattformen im Netz verbreitete, wurden die beiden ehemaligen Tiberianer gelegentlich von Sternwarten zu Gesprächen eingeladen. Meist allerdings leider nicht, weil die dort arbeitenden Astronomen der Warnung vor dem Asteroid Glauben schenken wollten, sondern weil sie die tolle Machart des wirklichkeitsgetreuen 3DFilms brennend interessierte. Wie schon damals in Potsdam, so konnte man sich auch andernorts eine Verwendung dieser Technik für Seminare und Kurse für Studenten vorstellen.
Insgesamt fiel das Echo im Internet bislang frustrierend aus. Jede Menge abgedrehte Endzeitjünger, selbst ernannte Katastrophenpropheten und andere Spinner kontaktierten Solaras und Kalmes, nur die wenigsten Zuschriften waren ernst zu nehmen. Als die schriftliche Anfrage des Osservatorio Astronomico di Capodimonte Napoli aus Italien gekommen war, hatte Solaras achselzuckend zu seiner Gefährtin gesagt:
»Komm, lass uns einfach hinfahren. Italien muss wunderschön sein zu dieser Jahreszeit. Ich gebe die Hoffnung immer noch nicht auf, dass ich in solch einer Einrichtung einen Job finden könnte. Es muss doch zwei, drei Leute geben, die mich als Wissenschaftler gebrauchen könnten, meinen Wert erkennen. Ich habe es längst satt, dauernd nur schlecht bezahlte Hilfsjobs anzunehmen. Warum sind den Terranern nur Papiere so immens wichtig? Ich wollte, mich würde mal jemand auf die Probe stellen, anstatt wichtigtuerisch Zeugnisse und Referenzen zu verlangen.«
Diese Hoffnung hatte sich auch auf dem Capodimonte nicht erfüllt. Dennoch, bis zu den beängstigenden Erdstößen vor einigen Minuten hatten sie den Trip nach Kampanien in vollen Zügen genossen.
»Hast du gesehen? An der Säule vor uns hat sich ein Riss gebildet. Es kam Staub von der Decke. Solaras, mir wäre lieber, wir würden im Freien auf dem Bahnhofsvorplatz warten. Es ist ja noch Zeit bis zur Abfahrt«, sagte Kalmes beunruhigt. Ihr Blick schweifte prüfend umher.
»Falls der Zug überhaupt noch fährt. Wir wissen nicht, ob bei dem Beben Gleise beschädigt wurden. Es war ganz schön heftig«, sinnierte Solaras voller Sorge.
In einem Pulk von weiteren, mehr oder weniger stark aufgeregten Fahrgästen strömten sie auf die Piazza Giuseppe Garibaldi hinaus. Man diskutierte gestikulierend, mutmaßte und fürchtete sich.
Plötzlich sorgte ein ohrenbetäubender, dumpfer Schlag, der die gesamte Stadt erzittern ließ, für banges Innehalten.
»Um Himmels willen, was war das denn?«, wisperte Kalmes erschrocken. Sie war im Gesicht kreidebleich geworden. Aller Augen richteten sich nach Südosten. Hochhäuser verstellten den Blick; die Einheimischen wussten jedoch sehr genau, dass dort der Vesuv über der Stadt thronte. Sirenengeheul ertönte, es kam augenblicklich Bewegung in die Massen.
Den FluchtwegMarkierungen zum Trotz, liefen die Leute in ihrer Panik wild durcheinander. Die einen wollten zu Hause nach ihren Lieben sehen, andere wiederum zur nächstbesten Ausfallstraße gelangen, nur möglichst weit weg vom Feuerberg. Innerhalb weniger Minuten bildete sich auf den Straßen eine unüberschaubare Blechlawine, die kein Fahrzeug mehr vorankommen ließ. Überall krachte Metall aufeinander. Niemand wusste, was da genau vor sich ging, nur dass sich etwas Katastrophales ereignet haben musste. Die Menschen in den Orten Ottaviano, Torre del Greco, San Giuseppe Vesuviano und San Giorgio a Cremano hingegen wurden zu unfreiwilligen Zeugen, wie der in der Magmakammer des Vulkans über die Jahre stetig angewachsene Druck den Pfropfen aus Gestein und erkalteter Lava durch den Vulkanschlot heraus schleuderte. Die gesamte Spitze wurde weggesprengt.