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Die Operation Terra 2.0 ist damit beendet; der Raumgleiter steuert in den Zeittunnel, der ihn nach Tiberia und zurück in die Gegenwart bringen soll. Dort wartet bereits die Elite Tiberias voller Vorfreude, um die erfolgreiche Crew in einem rauschenden Festakt zu ehren.
Solaras‘ alter Freund Arden, der frischgebackene Vorderste
der Sektion Geschichte, Archiv und Schrift, wird unfreiwillig zum Drehund Angelpunkt bei der Aufdeckung eines folgenschweren Skandals, welcher von Alanna initiiert und von der nichtsahnenden Regentenfamilie protegiert wurde.
Beim rituellen Festakt zur Amtseinführung Kiloons und dessen Eheschließung mit der schönen Alanna stellt sich heraus, dass die nagelneue Regentengattin mit den uralten Traditionen bricht und sehr eigensüchtige Pläne für die Zukunft Tiberias schmiedet. Schon bald sind geheime Bauvorhaben, konspirative Treffen und gezielte Desinformation an der Tagesordnung.
Alanna will den Stammplaneten Mars wieder als habitable Welt reaktivieren, um »ihrem« Volk dort in nicht allzu ferner Zukunft eine neue Heimat zu bieten und sich selbst damit ein Denkmal zu setzen. Für die Erreichung dieses Zieles geht sie skrupellos über Leichen.
Solaras plagen derweil ganz andere Probleme. Er muss sein Dasein seit der Rückkehr getrennt von seiner geliebten Kalmes fristen, denn nach Beendigung der gemeinsamen Mission darf das Paar nicht mehr sektionsübergreifend kommunizieren.
So steuert das Schicksal der Liebenden, genau wie dasjenige der beiden Planeten, einer ungewissen Zukunft entgegen …
Operation Terra 2. 0 – Von kollabierten Träumen (4)
Dozentin Kalmes ist wegen der dauerhaften Trennung von Solaras gesundheitlich angeschlagen. Ihr alter Missionskollege Gabriel eilt besorgt zu Hilfe und versucht, im Wege einer engen Arzt- Patientenbeziehung ihr Herz zu gewinnen.
Auf Terra entsteht anstelle der geplanten Reformation des Glaubenssystems, hauptsächlich mangels ideologischer Konkurrenz, schon kurz nach Beendigung der Operation Terra 2.0 eine christliche Diktatur, die alles und jeden bevormundet. Kleriker haben die Macht an sich gerissen. Kritiker und Ungehorsame werden als mysteriöse Todesfälle aufgefunden, die angeblich der Teufel selbst gemeuchelt hat.
Schnell wird klar: Die Mission verlief alles andere als erfolgreich oder nachhaltig, es muss nach Ansicht von Regent Kiloon zum Wohle der terrestrischen Menschen dringend nachgebessert werden. Schließlich sind die Tiberianer wegen ihres Eingreifens an der Misere maßgeblich schuld.
Der Regent plant den Start zu einer weiteren Mission, aber Gattin Alanna ist strikt dagegen. Schließlich strebt sie nach wie vor das Ziel an, den Mars erneut zu besiedeln und hierbei die alten Gesellschaftsstrukturen wieder einzuführen. Ein erbitterter Wettstreit entsteht zwischen den Ehegatten, an dessen Ende allerdings beide ihren Willen durchsetzen.
Auf Terra wird zunächst einen neue Weltreligion etabliert. Ein gewisser Mohammed soll es richten und mit seinen Anhängern ein Gegengewicht zur allmächtigen christlichen Kirche bilden, damit sich die widerstreitenden Lager künftig gegenseitig in Schach halten und auf diese Weise neutralisieren.
Doch auch dieser Wunschtraum kollabiert, weil die terrestrischen Menschen sich nun erst recht rücksichtslos bekriegen. Kreuzritter, Islamisten und Neonazis treiben in den folgenden Jahrhunderten ihr Unwesen; alternativloser Kapitalismus und zügelloser Konsumwahn regieren auf Terra mit eiserner Hand. Neue Grenzen entstehen, und das sogar mitten durch Europa.
In der Zwischenzeit läuft die Gesellschaft auf Tiberia ebenfalls zunehmend aus dem Ruder. Alanna, die inzwischen eine Tochter gleichen Namens geboren hat, informiert die Bevölkerung eines Tages von ihren ehrgeizigen Plänen. Dabei ist sie allerdings nicht ganz ehrlich, damit die Menschen ihr kritiklos nachfolgen. So erfindet sie beispielsweise einen zerstörerischen Asteroiden, der angeblich ungesehen auf die Erde zurast. Das Volk feiert sie begeistert, als sie voller Berechnung verspricht, die Terraner vom Mars aus vor dem sicheren Untergang retten zu wollen.
Nun ist es also beschlossene Sache: Der Mars muss schleunigst wieder bewohnbar gemacht werden. Sämtliche Wissenschaftler des Planeten arbeiten mit Hochdruck an diesem beispiellosen Langzeitprojekt.
In all dem Chaos finden Kalmes und Solaras wieder zusammen; die Liebenden planen alsbald die gemeinsame Flucht. Sie wollen als blinde Passagiere in einem Raumfrachter zum Mars fliegen und von dort aus mit einem gestohlenen Raumgleiter ins Terra des 21. Jahrhunderts entkommen.
Während man den Mars nach und nach mithilfe von Atmosphärenkraftwerken, Habitaten und allerlei sonstiger Technik hundert Jahre in der Vergangenheit posthum zu reaktivieren versucht, damit er in der tiberianischen Ist Zeit bereits besiedelt werden kann, brechen die Terraner fast zeitgleich zu ihren ersten bemannten Marsflügen auf.
Dieses Mal gewinnt die ESA den Wettlauf der Raumfahrtnationen ins All. Die Astronauten und Astrophysiker entdecken dort merkwürdige Anomalien – aber noch ahnen sie nicht, dass sie auf dem roten Planeten Gesellschaft haben werden …
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Liebe Leserinnen und Leser,
im Anhang finden Sie ein Glossar, das auch eine Kurzanleitung für das verwendete KINZeitsystem enthält. Wissenswertes über den Planeten Tiberia ist in Band 1 – Menschheit im Exil beschrieben. Jetzt wünsche ich Ihnen gute Unterhaltung beim Weiterlesen!
Ihre Autorin Andrea Ross
Terra, 30. Juli 2023 nach Christus, Sonntag
Tagelang hatten die terrestrischen Wissenschaftler das Für und Wider erwogen. Konnte, durfte man es wagen, einen nicht identifizierten außerirdischen Gegenstand in ein
Raumfahrzeug zu bringen – oder diesen gar zur Erde zu transportieren?
Seit Astronaut Pierre LaSalle den länglichen, metallisch glänzenden Gegenstand in einem Alkoven unterhalb des inaktiven Vulkans Olympus Mons gefunden hatte, war es dem bärtigen ESAAstronom Thomas Maier nicht mehr gelungen, ein Auge zuzutun. Auf seinem Schreibtisch türmten sich leere Kaffeebecher und Dosen, die Energydrinks enthielten.
Nie hätte er sich im Vorfeld träumen lassen, dass die erste bemannte Marsmission derart spektakulär verlaufen könnte. Zuerst die Gesteinsund Strahlungsanomalie in der CydoniaRegion, die ein Marsrover vor drei Jahren entdeckt hatte, dann vorgestern die zufällige Sichtung einer massiven Metalltür am Ende einer mutmaßlichen Lavaröhre … und nun das.
Wer jetzt noch allen Ernstes behaupten wollte, es habe auf dem Mars nie höher entwickelte Lebensformen gegeben, konnte wohl nicht ganz bei Trost sein. Und doch würden garantiert wieder abgedrehte Verschwörungstheoretiker wie Pilze aus dem Boden schießen, die frech mutmaßten, die ganze Mission sei getürkt und in Wirklichkeit wie ein lausiges Trashmovie im irdischen Death Valley, Nevada, gefilmt worden.
Maier und seine Kollegen waren hinund hergerissen. Liebend gern hätten sie die sechs Astronauten der AuroraMission kreuz und quer über den Roten Planeten gejagt, um die vielen Geheimnisse und Hinterlassenschaften aufzuspüren, die hier geduldig auf Entdeckung warteten. Niemand wusste schließlich zu sagen, wann der nächste Marsflug stattfinden könnte. 248 Tage für die einfache Strecke waren kein Pappenstiel, eine gewaltige Belastung für Mensch und Material, von den Kosten ganz zu schweigen. Da konnte man nicht eben mal hinreisen, versunkene Zivilisation hin oder her.
Andererseits war Marscontrol für die Sicherheit der Missionscrew verantwortlich. Ein klitzekleiner Fehler reichte aus, um deren unbeschadete Rückkehr zu gefährden, wenn sie an Ort und Stelle Untersuchungen vornahm. Unwägbare Risiken galt es tunlichst zu vermeiden.
Drittens, und diesen Umstand hatte Thomas Maier in der gestrigen Besprechung mehrfach betont, hatte auch die Erdbevölkerung ein Recht darauf, nicht kontaminiert zu werden. Sobald fremde Substanzen, Genmaterial, Bakterien oder Ähnliches wie blinde Passagiere im Raumschiff mit zur Erde reisen würden, wären die Auswirkungen auf die heimische Flora und Fauna unabsehbar – wenn nicht katastrophal.
Maier plädierte deswegen darauf, LaSalle die Öffnung der im luftdicht versiegelten Alkoven aufgefundenen Kapsel gleich an Ort und Stelle zu genehmigen – selbstverständlich erst nach Durchführung üblicher Sicherheitschecks mithilfe der hochempfindlichen technischen Gerätschaften, über die Aurora verfügte. Für gefährliche Herausforderungen dieser Art waren die Astronauten jahrelang ausgebildet worden und Pierre brannte bereits ungeduldig darauf, dem außerirdischen Gegenstand zu Leibe rücken zu dürfen.
»Besser wir setzen ein paar Astronauten der Gefahr aus, als gleich die ganze Menschheit in Mitleidenschaft zu ziehen. Da es sich um unsere geschätzten Kollegen handelt, deren Schicksal auch mir selbstverständlich nicht gleichgültig sein kann, will die exakte Vorgehensweise wohlüberlegt sein. Insbesondere müsste man zunächst sichergehen, dass dieses Ding keine schädliche Strahlung absondert und keinen Sprengsatz enthält«, hatte Maier zum Amüsement einiger Kollegen vorgeschlagen.
Seit dieser Bemerkung kursierten dämliche Witze über fiese
›Marsterroristen‹, die seinen weiteren Vortrag gestern Abend empfindlich gestört hatten. Hochintelligente Wissenschaftler konnten ja so unangemessen kindisch sein! Und nun starrte Thomas Maier wieder unbeweglich auf die verzerrte Übertragung vom Mars, wie LaSalle und seine Mitstreiter am Fuße des Vulkans Bodenproben von der Marsoberfläche kratzten. Allmählich schloss sich das Zeitfenster für eine gründliche Erforschung der Lavaröhre, und das machte ihn nervös.
»Bärchen, es ist endlich soweit! Die Entscheidung ist gefallen. Du sollst dich sofort in Campbells Büro melden!«, brüllte Maiers langjährige Kollegin Sheila, die seit einem halben Jahr neben dem gemeinsamen Projekt auch Wohnung und Bett mit ihm teilte, quer durch den Raum. In ihrer Aufregung hatte sie ganz vergessen, dass sie während der Arbeitszeit keine albernen Kosenamen für ihren Herzallerliebsten verwenden sollte. Zum Glück hatte er den Fauxpas in seiner Erregung überhört.
Maier nahm seinen Blick vom Monitor, sprang mit leuchtenden Augen auf, flitzte wie ein Derwisch den langen Korridor zu Campbells Büro entlang, wo er ins Schlittern kam und unsanft gegen den Türrahmen prallte. Die verdammte Raumpflegerin hatte den Linoleumbelag gewischt und hinterher wieder mal vergessen, das gelbschwarze Warnschild Caution – wet floor! aufzustellen.
»Eines Tages breche ich mir in diesem Irrenhaus noch den Hals«, brummte der Wissenschaftler beim Betreten des Raumes kopfschüttelnd. Er rieb sich die schmerzende Schulter.
Campbell sah missbilligend drein, weil der unkonventionellste seiner ihm unterstellten Mitarbeiter wieder einmal das Anklopfen vergessen hatte.
»Maier, ich muss Ihnen wohl nicht erst erklären, dass die ESA hier und jetzt Geschichte schreibt, Ihnen somit keinesfalls Fehler unterlaufen dürfen. Sie haben grünes Licht für eine Öffnung des Metallbehälters, war eine einstimmige Entscheidung. Suchen Sie sich umgehend ein Team zusammen und erteilen Sie LaSalle die entsprechenden Anweisungen. Die anderen Astronauten sollen sich derweil in sicherem Abstand zum Fundort aufhalten. Schließlich muss im Falle des Falles jemand die Prozedur zum Rückflug durchführen können.
Ich hasse es, für diesen Wahnsinn die Verantwortung übernehmen zu müssen, das will ich gar nicht verhehlen. Aber die Weltöffentlichkeit würde jahrelang mit abertausenden Fingern auf uns zeigen, würden wir diese Möglichkeit ungenutzt verstreichen lassen«, stöhnte Campbell und blickte resigniert gen Zimmerdecke. Seine Gesichtsfarbe wirkte fahl, wahrscheinlich hatte auch er seit vielen Stunden nicht geschlafen.
»Klar, ich bin mir der Tragweite vollständig bewusst. Danke für das Vertrauen! Bin schon unterwegs«, stieß Maier hervor und trat den Rückweg in seinen Kontrollraum an.
Er musste sehr aufpassen, dass er vor lauter Euphorie nicht zu hyperventilieren anfing. Freudentränen standen in seinen braunen Augen. Heute ging einer seiner sehnlichsten Träume in Erfüllung. Eine der vagen, aber ständig präsenten Hoffnungen, derentwegen er einst Astrophysik studiert hatte.
*
Zwei Stunden später waren die Sicherheitstests beendet. LaSalle hatte keinerlei bedenkliche Stoffe am Metallgehäuse der Kapsel feststellen können. Sie bestand aus Edelstahl, wie man es von der Erde kannte; ein weiterer Hinweis darauf, dass sich, zumindest vorübergehend, eine zivilisierte Gesellschaft dort aufgehalten haben musste.
Die Durchleuchtung hatte ergeben, dass sich im Inneren ein länglicher, runder Gegenstand befand. Wäre ein und dieselbe Kapsel irgendwo auf dem blauen Planeten gefunden worden, hätte man am ehesten mit einem zusammengerollten Schriftstück gerechnet. Aber auf dem Mars, war das möglich?
Maier blieb skeptisch. Voreilige Schlüsse konnten leicht das Leben Pierres kosten, sogar die gesamte Mission vorzeitig beenden. Man musste die Neugier bezwingen und weiterhin in alle Richtungen denken. Soeben hob der erfahrene Astronaut seinen riesigen Handschuh mit dem Daumen nach oben, was bedeuten sollte: Alles in schönster Ordnung!
»Hier Marscontrol! Pierre, eine letzte Frage noch, bevor wir loslegen: kannst du an der Kapsel einen Öffnungsmechanismus erkennen oder müssen wir das Behältnis gewaltsam öffnen? Marscontrol Ende!«
Nach etwa vierzehn Minuten Funkverzögerung, die aufgrund der erheblichen Entfernung zwischen den beiden Planeten die Kommunikation lähmte, antwortete LaSalle:
»Verstehe euch laut und deutlich, Kameraden. Ja, hier läuft tatsächlich eine feine Linie über die Mitte der Kapsel, mit dem bloßen Auge ist sie kaum zu erkennen. Könnte sich um eine Nahtstelle handeln. Soll ich jetzt vorsichtig versuchen, die Alien-Blechbüchse aufzukriegen? LaSalle Ende.«
Maier beriet sich kurz mit seinem Team, das aus Sheila und dem erfahrenen Astronom Dr. Hendrik-Jan Wendler bestand, die ihn links und rechts flankierten.
Sporadisch stieß auch Eric Campbell hinzu, der erstens ebenfalls vor Neugier fast platzte und zweitens sichergehen wollte, dass die Funkdisziplin einigermaßen eingehalten wurde. Eine allzu saloppe Ausdrucksweise der Missionsakteure würde sich in späteren Fernsehübertragungen gar nicht gut machen, wenn Bild und Ton live zur Verfügung gestellt werden mussten. Ein bisschen durfte es ruhig menscheln, aber auch hierfür gab es Grenzen. An der Art, wie Maier LaSalle grünes Licht zum Öffnen des glänzenden Behälters erteilte, fand er glücklicherweise nichts auszusetzen.
Vierzehn Minuten später streckte Pierre wieder den Daumen nach oben und begann, die transportable Isozone aufzubauen. Hierbei handelte es sich um ein kubisches, zeltähnliches Gebilde, das an der Außenseite eine Strahlenschutz-Beschichtung aufwies. Dessen Innenraum war hermetisch von der Außenwelt abgeschirmt, so dass darin Gegenstände untersucht werden konnten, ohne diese der rauen, dünnen Marsatmosphäre aussetzen zu müssen. Dank eines innovativen Klappmechanismus ließen sich Ultraleichtgestänge und reißfeste Folie relativ schnell entfalten und stabilisieren. Bei Bedarf konnte man die Luft heraussaugen, um ein Vakuum zu erzielen.
Nachdem die verzerrten, stellenweise wild zuckenden Bilder im irdischen Kontrollzentrum angelangt waren, hielt Thomas Maier vor Spannung die Luft an. Seine Fingernägel krallten sich in die Handflächen, er begann zu schwitzen. Sheila musste ihn wiederholt sanft mit dem Ellbogen in die Seite boxen, um ihn ans Luftholen zu erinnern.
Der mutige Missionsleiter von Aurora 2023 schickte sich in fünfundfünfzig Millionen Kilometern Entfernung gerade an, einen behutsamen Öffnungsversuch allein mit Muskelkraft zu versuchen. Oder vielmehr hatte er das vor rund vierzehn Minuten getan … wer wusste schon, ob er aktuell überhaupt noch am Leben war! Die Nervosität seiner Zuschauer steigerte sich ins Unermessliche.
»Schon ziemlich krass, einen Menschen quasi in seiner Vergangenheit zu betrachten, wie er sich in einer überdimensionierten Frischhalteverpackung bemüht, irgendein unheimliches AlienDingsbums aufzuschrauben«, meinte Sheila nachdenklich.
»Jetzt, wo du es sagst … der schraubt tatsächlich, das ist ein stinknormaler mechanischer Gewindeverschluss«, keuchte Dr. Wendler und kratzte sich ungläubig die Glatze.
»Schon, aber sieh mal genauer hin! Aus dem breiter werdenden Spalt quillt eine zähflüssige Masse heraus – oder könnte das bloß wieder eine Bildstörung sein? Oh Gott, hoffentlich nichts Giftiges oder Ätzendes …!«
Noch immer schraubte LaSalle konzentriert, sagte dabei keinen Ton. Die klobigen Handschuhe seines Raumanzugs erlaubten nun mal keine hastigen oder allzu präzisen Bewegungen. Lediglich seine gleichmäßigen Atemgeräusche waren zu hören. Wenigstens etwas! Wer ruhig atmete, konnte zumindest keine ernsten Gesundheitsprobleme haben.
»Sag doch endlich was!«, murmelte Sheila mit weit aufgerissenen Augen. Eine Nachfrage über Funk hätte wegen der vermaledeiten Zeitverzögerung nichts gebracht. Sie mussten sich also gedulden, bis Pierre von selbst etwas äußerte.
Da, nun hielt er zwei Teile in der Hand, die Kapsel war vollends geöffnet. In langen, silbrig glänzenden Fäden tropfte tatsächlich eine sirupähnliche Masse aus den beiden Hälften zu Boden. LaSalle griff mit einem pinzettenartigen Werkzeug in die größere und zog langsam und vorsichtig ein dunkles Röllchen daraus hervor. Er leuchtete mit der Helmlampe seines Anzugs in die Kapselteile, schüttelte den Kopf. Scheinbar enthielten sie keine weiteren Gegenstände. Er legte sie zur Seite.
»Marscontrol, ich hoffe, ihr habt das hier mitbekommen. Ich halte eine Art Folie in Händen, die fein säuberlich aufgerollt ist. Sie schwamm in einer dicklichen Flüssigkeit, die offenbar der Konservierung diente. Außerdem hat sie wohl den Verschluss versiegelt, denn im Gewinde ist sie zu einer Art elastischem Gummi kristallisiert.
Schade, dass ich diese Folie – oder was auch immer das sein mag – nicht mit bloßen Fingern befühlen kann. Das Material sieht aus wie … hm … wie dünner Kunststoff. Ja genau, wie handelsübliche Plastiktüten von der Erde. Soll ich vorsichtig versuchen, das Ding zu entrollen? LaSalle Ende.«
Die drei Verantwortlichen sahen sich gegenseitig an. »Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer weiß, ob das Material den Rückflug zur Erde heil übersteht! Pierre soll das gute Stück auseinanderfieseln und es zur Sicherheit gleich abfotografieren, oder was meint ihr?«, fragte Maier.
Zwei Minuten später erteilte Thomas Maier dem wartenden Astronauten die entsprechende Anweisung. Die übrigen Mitarbeiter im Kontrollraum sprangen vor ihren jeweiligen Bildschirmen auf und jubelten. Nun mussten sie wieder fast eine Viertelstunde warten, bis der Funkspruch in die Tat umgesetzt wurde. Eine schier endlos lange Zeit!
In diesem Moment gesellte sich auch Eric Campbell wieder dazu, den die pure Neugier aus seinem Büro getrieben hatte. Im Grunde war er zwar als Ressortleiter für Finanzielles und PRArbeit zuständig – doch dieser Tag im Juli 2023 war dermaßen geschichtsträchtig, dass er die Vorgänge auf dem Mars unbedingt live miterleben musste. Man brachte ihn kurz auf den neuesten Stand, dann klebte auch er mit den Augen abwechselnd an der Uhr und auf dem riesigen Monitor. Sein Smartphone, das in der Hosentasche unablässig klingelte, stellte er kurzerhand auf stumm.
Ein Raunen ging durch den Kontrollraum, obwohl Gespräche unter den Mitarbeitern während der heißen Phase der Mission unerwünscht waren. Man konnte wegen der Ablenkung allzu leicht eine blinkende Anzeige übersehen, was fatale Konsequenzen für die Kollegen auf dem Mars nach sich zöge. Doch wer wollte den ESAMitarbeitern übel nehmen, dass sie vor lauter Aufregung Mutmaßungen anstellten, ob es sich bei dem folienähnlichen Gegenstand wohl um ein Schriftstück handelte? Denn genau danach sah es aus.
Zwischen Tiberia und Mars, KINZeit: 13.5.15.15.0, Samstag
In den frühen Morgenstunden brach der Raumfrachter Deep Red Planet planmäßig gen Mars auf, um ein ehrgeizi ges MarsformingProjekt zu starten. Unmengen von Material, Verpflegung und Ausrüstung sollten dorthin transportiert werden, damit schon in Kürze das erste Habitat bezogen und mit der langwierigen Arbeit begonnen werden konnte. Der Zeittunnel war stabilisiert; er reichte bis zu einer hüge ligen Stromtalregion auf der staubtrockenen Marsoberfläche, die die nichts ahnenden Wissenschaftler auf Terra als ChryseBecken bezeichneten. Der Frachter würde den Roten Planeten selbstverständlich von der erdabgewandten Seite her ansteuern, damit er für die Hochleistungsteleskope der neuen Generation unsichtbar blieb.
Leider musste später auch bei Arbeiten auf der Oberfläche jederzeit mit neugierigen Blicken gerechnet werden, denn die ehrgeizigen Wissenschaftler Terras entwickelten ihre, im Augenblick reichlich dilettantische, Technik stetig weiter. Noch durften sie aus taktischen Gründen nichts darüber erfahren, was auf ihrem Nachbarplaneten vor sich ging. Tarnung war somit unabdingbar.
Nach der terrestrischen Zeitmessung schrieb man am Tag des Aufbruchs von Tiberia den 22. Februar des Jahres 2127. Die Reise mit Warp-Geschwindigkeit ging jedoch in die Vergangenheit des Mars zurück. Am Ende der künstlich generierten Raumzeitkrümmungszone galt deswegen, jedenfalls nach dem gregorianischen Kalender, das Datum 10. Oktober 2016.
Wieder einmal hatten Tiberias Regenten beschlossen, posthum bahnbrechende Ereignisse in der Vergangenheit zu lancieren, um den leblosen Planeten Mars in der tiberianischen Ist-Zeit bereits neu besiedeln zu können. Ein überaus ehrgeiziges, aber durchaus machbares Projekt, an dessen Gelingen insbesondere der amtierenden Regentin Alanna extrem viel lag. Sie lebte – wie üblich – unverhohlen ihre Egozentrik aus, wollte sich ein unvergängliches Denkmal setzen, indem sie ›ihr‹ Volk wieder in die alte Heimat zurückführte.
Der Frachtraum vibrierte, als die Deep Red Planet kontrolliert durch den, mithilfe dunkler Materie erschaffenen, Zeittunnel schlingerte. Zwei verliebte Tiberianer saßen eng aneinandergeklammert in einem blauen UniblockKlappbehälter, der um ihre Körper herum üppig mit Decken, Wasserbehältern und haltbaren Lebensmitteln ausgepolstert war. Nur wenige Habseligkeiten hatten sie von ihrem Heimatplaneten Tiberia mitnehmen können, obwohl es sich hier definitiv um eine Reise ohne Option zur Wiederkehr handelte.
Zum allerersten Mal flogen Kalmes und Solaras ohne wissenschaftlichen oder kulturellen Auftrag in das ferne Sonnensystem; niemand ahnte indes, dass sie sich in der verregneten Nacht vor der Abreise heimlich an Bord geschlichen hatten. Die Liebenden befanden sich auf der Flucht, und zwar vor Intoleranz, Revolten und einer jählings aufkeimenden Diktatur, die ihnen während der letzten TUNs schier jede Lebensgrundlage unter den Füßen weggezogen hatte.
Ihr Endziel war allerdings nicht der Mars, sondern vielmehr das benachbarte Terra, wo sie im Rahmen der Operation Terra 2.0 lange Zeit als Maria Magdalena und Jesus von Nazareth gelebt und gelitten hatten. Auf diesem vertrauten blauen Planeten hofften sie nun, inkognito, Ruhe und Frieden zu finden – und zwar zusammen, als Paar. Genau das hatte man ihnen auf Tiberia verwehrt.
Schon nach wenigen Minuten stöhnte Kalmes laut auf, weil ihr die Vibrationen im Zeittunnel körperlich stark zusetzten. Der mit Plantolaan verkleidete Laderaum des Frachters war hinsichtlich solcher Einflüsse natürlich viel weniger gut abgedämmt als die Fluggastzelle und das Cockpit, denn diese für Menschen vorgesehenen Bereiche verfügten über äußerst leistungsfähige Schwingungsdämpfer und Spezialsitze zum Schutz der Wirbelsäule.
Man ging auf Tiberia nicht ernsthaft davon aus, dass jemand derart unvernünftig sein könnte, im Laderaum mitzufliegen – was allerdings den Vorteil barg, dass dieser vor dem Abflug nicht allzu intensiv auf blinde Passagiere kontrolliert worden war. Ein Scanner überprüfte lediglich jeden Behälter automatisch darauf, ob explosive Substanzen oder elektronische Störgeräte an Bord gelangten. Vor möglicher Sabotage war man auch auf Tiberia nicht gefeit.