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Danach stieg eine Eruptionssäule aus heißem Wasserdampf, Kohlenstoff und vulkanischem Auswurf über dem Kegel auf. Das 750 Grad heiße Magma spritzte mit Überschallgeschwindigkeit aufwärts, schwarze Lavabomben schlugen mit zweihundert Stundenkilometern in der Umgebung ein. Danach blies ein Gasstrahl das fein zerriebene Gestein der glühenden Schlotwände bis hinauf in die Stratosphäre. Der mäßig starke Wind trug leichtere vulkanische Produkte nach Südosten. Ein dichter Niederschlag aus Asche und Bimssteinen fiel auf die Häuser der umliegenden Ortschaften, tauchte die Landschaft in düsteres Grau.
Solaras und Kalmes stiegen geistesgegenwärtig in ein Taxi.
»Aus der Stadt, aber auf schnellstem Weg!«, kommandierte Solaras keuchend.
Der ältere Mann starrte nur teilnahmslos aufs Armaturenbrett, schüttelte immer wieder den roten Kopf. Er schwitzte stark, hyperventilierte. Draußen hallten Schreie der Verzweiflung durch die Straßen. Er stand wohl unter Schock.
»Haben Sie nicht gehört, was ich sagte? Sie sollen losfahren!«, schrie Solaras. Kalmes kauerte sich im Fond zusammen und wimmerte vor Angst.
Endlich drehte der Fahrer mit irrem Blick den Zündschlüssel, lenkte das Fahrzeug mit hektischen Bewegungen in Richtung der Ausfahrt. Doch dort war kein Vorwärtskommen. Ein Auto reihte sich an das andere, nahezu jedes hupte. Alle wollten nach Westen, weg vom Vulkan. Sie konnten ja nicht ahnen, dass genau dort, in den Phlegräischen Feldern, aus mehreren Eruptionsherden ebenfalls grell leuchtende Feuerfontänen gen Himmel stiegen. Die Ortschaft Pozzuoli war bereits verloren.
Solaras sprang kurz entschlossen aus dem Taxi, zog seine Begleiterin vom Rücksitz. Er packte ihre Hand, begann zu rennen. »Es hat keinen Sinn, wir müssen zu Fuß fliehen! Uns wird nur wenig Zeit bleiben, die Stadt zu verlassen, vielleicht zwei bis drei Stunden. Wir sollten uns nach Norden wenden, dort liegt meines Wissens der Flughafen. Ich habe allerdings keine Ahnung, ob dort noch Maschinen starten können. Vulkanasche kann die Triebwerke der Jets lahmlegen.«
Am Nachmittag, etwa fünf Stunden nach dem Beginn des Ausbruchs, war Neapel mit einer mehr als fünfzig Zentimeter dicken Schicht vulkanischen Materials bedeckt, und die Dächer der halbverlassenen Stadt begannen einzubrechen. Der leer geschossene Schlot des Vulkans stürzte mehrfach ein und wurde anschließend durch heftige Explosionen wieder freigeräumt. Die AscheEruptionen steigerten sich, in der Stadt fiel der Strom aus. Kalmes und Solaras hatten ihre dünnen Sommerjacken über die Köpfe gezogen, atmeten durch Papiertaschentücher.
Gegen Mitternacht, etwa zwölf Stunden nach dem Beginn, erreichte die erste Eruptionsphase ihren Höhepunkt. Sie war von heftigen vulkanischen Erdbeben begleitet, die viele Häuser vollends zum Einsturz brachten. Ein wolkenbruchartiger Eruptionsregen an der Westflanke des Feuer speienden Vulkans verwandelte die scharfkantigen Aschepartikel in zerstörerische Schlammströme, auch Lahare genannt. Sie ergossen sich zu Tal und vernichteten alles, was in ihrem Weg lag.
Ein erster pyroklastischer Strom überrollte mit achthundert Stundenkilometern den Südosten Neapels und tötete zahlreiche Menschen, die am Ufer der Bucht Schutz gesucht hatten. Alle verfügbaren Boote waren gleich zu Beginn der Katastrophe in See gestochen, um dem Feuerinferno zu entkommen. Die zurückgebliebenen Leute saßen in der Falle, vor sich den tobenden Vulkan und hinter sich die aufgewühlte See. Beim schweren Ausbruch im Jahr 79 nach Christus war Ähnliches im benachbarten Herculaneum geschehen – nur mit erheblich weniger Menschen.
Der Zusammenbruch der Eruptionssäule generierte mehrere Phasen. Er erzeugte fünf mit schwerem Material stark gesättigte, glühend heiße Ströme, deren schiere Wucht die aus den Fallablagerungen herausragenden Häuser zerstörte und den allerletzten Überlebenden im östlichen Teil Neapels und den Dörfern rings um den Krater den schnellen Tod brachte. Die Ausgrabungsstätte von Pompeji erlebte ein schreckliches Déjàvu.
Solaras und Kalmes waren über die Via Arenaccia und die Calata Capodichino in Richtung des Internationalen Flughafens geflüchtet. Um sie herum tobte ein Meer aus Fahrzeugen, zusammenbrechenden Gebäuden und aschgrauen Menschen, die kraftund ziellos umherirrten. Es gab auch zu Fuß nahezu kein Vorwärtskommen. Verlassene Autos standen mit offenen Türen mitten auf der Fahrbahn, die mittlerweile mehr an einen unstrukturierten Parkplatz erinnerte.
Die Zufahrt zum Flughafen kam im Morgengrauen in Sicht. Als die erschöpften Tiberianer dort voller Entsetzen feststellen mussten, dass der Flugbetrieb längst eingestellt war und das Passagierterminal, verlassen und seiner riesigen Fensterscheiben beraubt, nutzlos und völlig verwaist im gelblichen Zwielicht des Ascheregens lag, brach Kalmes weinend zusammen. Solaras kniete sich entkräftet neben sie, barg ihren Kopf in seinen Armen. Zärtlich strich er ihr mit einem Ärmel seines Hemdes den schmierigen grauen Belag vom Gesicht. Rehbraune, von Lachfältchen umgebene Kulleraugen sahen ihn forschend an.
»Bereust du, dass wir von Tiberia geflüchtet sind? Dort gäbe es keine Vulkane und auch keine Erdbeben«, fragte er.
»Nein. Wenn es so kommen soll, sterben wir hier eben zusammen. Ich liebe dich bis zu meinem Lebensende, das habe ich dir geschworen. Wenn es sein muss, auch jetzt gleich. Wir sind frei, Solaras, und wir kannten das Risiko. Am Ende muss man hier auf Terra immer bezahlen, das habe ich gelernt.«
Der sechste und zugleich letzte pyroklastische Strom bäumte sich in diesem Moment drohend hinter dem Flugfeld auf. Er überrollte nur Sekunden später als mächtige todbringende Glutwalze die beiden Liebenden.
Terra, 01. März 2051 nach Christus, Mittwoch
Thomas Maier saß nach seiner Augenoperation wieder den ersten Tag vor der riesigen, leicht gebogenen Plexiglasfläche, auf der sich, jetzt gestochen scharf, das Bild einer Marslandschaft erstreckte. Er hatte sich nach dem Willen seiner Ehefrau Sheila lasern lassen müssen, um seine altmodischen, dicken Brillengläser endlich loszuwerden. Das jahrzehntelange, angestrengte Starren auf herkömmliche Bildschirme hatte seinen Tribut gefordert.
Aktuell befanden sich acht Rover verschiedener Bauart auf der Marsoberfläche. Noch immer war das ideale Gefährt für Einsätze auf dem Roten Planeten nicht gefunden. Seit man dort regelmäßig Regenfälle verzeichnete, mussten die Dinger auch auf schlammigem Boden souverän zurechtkommen. Was besonders für bemannte Missionen galt.
Bei der fehlgeschlagenen NASA/ESAMarsmission Stepstone von 2038 waren zwei der Astronauten ums Leben gekommen, weil deren Fahrzeug an einem steilen Hang abrutschte, sich mehrfach überschlug und in einen Krater stürzte. Die beiden verunglückten Männer hatten auf dem Heimflug gefehlt, so dass der Rest der Crew mit der aufwändigen Routine an Bord überfordert gewesen war. Die übrigen zwei Männer und drei Frauen bezahlten das menschliche Versagen mit ihrem Leben.
Noch heute flog die Raumkapsel mit ihren fünf toten Insassen ohne Treibstoff durch die Weiten des Alls. Ein sehr unangenehmer Gedanke. Es verging kein einziger Tag, an dem Maier sich nicht bittere Vorwürfe machte, weil er sich selbst eine kleine Teilschuld anrechnete. Vielleicht wäre das Unglück zu vermeiden gewesen, wenn er rechtzeitig andere Kommandos gegeben hätte …
Ein junger Kollege riss ihn unsanft aus seinen schwermütigen Überlegungen. »Stimmt es, was ich heute früh auf dem Flur aufgeschnappt habe? Du willst heuer noch in Rente gehen?«
Maier drehte sich gemächlich auf seinem altersschwachen Bürostuhl um. Das gut dreißig Jahre alte Möbelstück knarzte und ächzte unter seinem Gewicht. Thomas Maier weigerte sich seit Jahren, einen der moderneren und wirbelsäulenfreundlichen Sitzbälle anzufordern. Er galt bei der ESA als verschrobenes Urgestein, das sich Innovationen meist verschloss und mit altbackenen Klamotten umher lief. Alles Moderne beäugte er skeptisch – es sei denn, es ging um Technik.
»Von Wollen kann gar keine Rede sein. Man hat es mir … sagen wir, nahe gelegt, und Sheila piesackt mich auch andauernd. Es wäre besser für meine Gesundheit, meint sie.«
»Da hat sie nicht ganz Unrecht. Dir fehlt Bewegung, wie man sieht. Bald können wir dich rollen«, grinste Will Urban.
Thomas Maier hatte noch nie zu den Schlanksten oder Sportlichsten gehört. Doch mittlerweile hatte sein Körper Ausmaße angenommen, die an ein fettes Nilpferd erinnerten. Dazu gingen ihm die Haare aus, nur ein dünner Kranz zog sich wie ein nach unten verrutschter Heiligenschein um seinen Hinterkopf. Dafür sprossen ihm dichte Haarbüschel aus Nase und Ohren, und sein ergrauter Vollbart reichte ihm bis auf die Brust.
»Komm du nur erst mal in mein Alter. Hundertfünfzig Kilo sind dann noch das Harmloseste, was du mit dir herumschleppen musst«, gab er milde lächelnd zurück. Er drehte sich um und richtete den Blick wieder auf die Plexiglasfläche. In der Mitte zeigte ein großes Bild die CydoniaRegion, während die sieben kleineren Ausschnitte rundum das übertragene Bildmaterial der anderen Rover wiedergaben.
Urban trat einen Schritt näher heran, kniff beide Augen zu Schlitzen zusammen. Kannst du mal auf Bild 4 umschalten? Ich habe da was Seltsames gesehen … bin nicht sicher, aber das sah wie eine Pyramide aus.«
»Ausgerechnet in der unwegsamen Xanthe Terra–Region? Eher unwahrscheinlich«, brummte Maier ungläubig, kam dem Wunsch aber nach.
»Potzblitz! Du könntest Recht haben. Der Laufrover Arachnon wird von Britt Ballwitz gesteuert. Du weißt schon, die rothaarige NASATante mit den Nippelringen, die man immer so schön durch das TShirt sehen kann. Könntest du schnell hinüber laufen und ihr sagen, dass sie das spinnenbeinige Ding weiter Richtung Nordost tappen lassen soll?«
»Wird erledigt!« Urban verschwand auf dem Flur.
Zehn Minuten später kam er zurück, seine grasgrünen Augen versprühten Funken. Thomas Maier bemerkte es gar nicht, er klebte mit der Nase an der Scheibe.
»Eindeutig von Menschen hergestellt, keine Frage. Endlich, wir haben so lange nach halbwegs erhaltenen Bauwerken der früheren Marskultur gesucht«, murmelte er erregt.
»Ich glaube nicht, dass diese Dinger uralt sind. Sie wirken zu intakt. Sieh doch hin! Auf der Oberfläche ist eine Art Muster zu sehen … ja, genau, die Blume des Lebens, wenn dir das etwas sagt.«
Maier blickte ihn verständnislos an.
»Stimmt ja, du interessierst dich nicht für Esoterik. Die sogenannte Blume des Lebens besteht aus sich überschneidenden Kreisen, als Sinnbild für die Verschmelzung des männlichen und weiblichen Prinzips. Die Überschneidungsmenge symbolisiert das neu entstandene Dritte … wenn du so willst, das Produkt der Verschmelzung, die nächste Generation. Mehrfach aneinandergereiht sehen die Überschneidungsmengen dann aus wie symmetrische Blütenblätter.«
»Ach so?«, staunte Maier. »Für mich wirkt das eher, als hätte jemand riesengroße Förmchen benutzt und den roten Marssand damit zusammengepresst, genau wie ein Kind im Sandkasten. Ich frage mich nur ernsthaft, wozu das Ganze dienen soll. Schwer vorzustellen, dass jemand symbolträchtige DekoObjekte von mangelhafter Haltbarkeit herstellen wollte. Wie viele sind das insgesamt? Ich zähle vier Stück – oder?«
Das Bild blieb auf einmal bewegungslos stehen. Die neunundzwanzigjährige Britt Ballwitz betrat den Raum. Ihre vielen bunten Tattoos verliehen ihr die Optik eines lebenden Bilderbuchs. Motive der alten Kultserie Star Trek verzierten ihre Arme und es sah von weitem aus, als stecke ein rosarotes Laserschwert in ihrem schlanken Hals.
»Hallo Jungs! Na, schon die starken Beruhigungspillen aus dem Schrank geholt?«, flachste sie.
»Dass du auch nie ernst bleiben kannst. Was meinst du zum Sinn und Zweck dieser Pyramidenstrukturen?«
Die Ballwitz verschränkte ihre Arme hinter dem Kopf, streckte sich, bis die Gelenke knackten. Will Urban beobachtete fasziniert, wie sich ihr sehenswerter Busen nach vorne reckte, die Ringe sich durch den Stoff ihres Shirts drückten. Sie bemerkte es, quittierte das offensichtliche Interesse mit einem Lächeln.
»Was da aussieht wie gepresster Marssand, muss wohl aus einem anderen, stabileren Material bestehen. Seht euch mal die Spitze der zuvorderst stehenden Struktur an, sie glänzt golden im Sonnenlicht. Also ist sie höchstwahrscheinlich aus irgendeinem Metall gefertigt.«
Drei Augenpaare richteten sich neugierig auf das obere Achtel der Strukturen. Maier atmete tief durch.
»Mensch, richtig analysiert! Dann handelt es sich vielleicht um eine Maschine, die nur mit diesen sandartigen Platten getarnt ist. Um ein Haar hätten wir sie übersehen. Man muss wirklich nah dran sein, um die Pyramidenformen in der gleichfarbigen Umgebung überhaupt zu erkennen. Aber könnten sie tatsächlich neueren Datums sein? Von uns stammen die Dinger definitiv nicht. Wartet mal, das würde ja bedeuten … «
» … dass sich außer uns noch jemand anderes auf dem Mars tummelt«, beendete Britt ungeduldig den Satz. »Diese Vermutung wird schließlich schon länger laut, weil wir uns die Entstehung der neuen, noch recht dünnen Atmosphäre nicht anders erklären können. Wenn man genau hinsieht, könnte man meinen, dass über den glänzenden Pyramidenspitzen besonders dichte Wolkenformationen hängen, nicht wahr?«
»Du meinst, da betreibt – wer auch immer – Marsforming? Das ist nun doch ein wenig weit hergeholt«, protestierte Urban.
»Wieso? Die Symbolik der Blume des Lebens würde perfekt dazu passen. Schließlich entsteht durch diese Maschinen etwas Neues für die nächste Generation«, sinnierte Thomas Maier.
Britt nickte, anscheinend war auch sie esoterisch bewandert. Anschließend verschwand sie wieder in ihrem eigenen Büro, um sich mithilfe von Arachnon noch näher heranzutasten. Das stellte sich jedoch als unmöglich heraus. Spitze, etwa fünf Meter hohe, dicht nebeneinander aufragende Felsnadeln versperrten dem Laufrover rundum den Weg, vereitelten ein sicheres Durchkommen.
»Wetten, diese spitzigen Scheißdinger sind auch nicht natürlichen Ursprungs«, knurrte Maier frustriert.
»Und wer, glaubst du, könnte sich da oben herumtreiben? Wir hätten es doch sicher gemerkt, wenn sich jemand heimlich von der Erde aus zum Mars aufgemacht hätte.«
»Ha, den Russen traue ich alles zu. Wer weiß, was die in der Abgeschiedenheit Sibiriens alles ersonnen und getestet haben, ohne dass der Westen Wind davon bekommen hat. Hoffentlich irre ich mich«, seufzte der Astrophysiker und faltete die Hände über seinem feisten Schmerbauch.
Terra, 26. Oktober 2116 nach Christus, Montag
Wütend schmetterte der fünfunddreißigjährige Philipp André Emmerson die Küchentür aus Hartplastik hinter sich zu. Er hatte die ständige Jammerei seiner um drei Jahre jüngeren Ehefrau allmählich satt. Besonders nach anstrengenden Tagen wie diesem konnte er alles gebrauchen – nur eben keine leidigen Diskussionen um dieses immer gleiche Thema. Seine Swetlana wollte auf Biegen und Brechen eine der neumodischen Mediatapeten kaufen, die seit einiger Zeit den Markt revolutioniert hatten. Weil inzwischen angeblich jeder Haushalt eine besaß.
Die arbeitslose Frau dachte gar nicht daran, ihn in Frieden seinen wohlverdienten Feierabend genießen zu lassen. Nach dem Vollzeitjob in der städtischen Kläranlage arbeitete Philipp nebenbei noch als Hausmeister für die total heruntergekommene Wohnanlage in BerlinNeukölln, in der sie wohnten. So sparte er einen Teil der Miete.
Das einstmals todschicke, siebzehnstöckige Apartmenthaus war 2031 in der Hoffnung erbaut worden, aus dem Kiez Neukölln nach und nach ein Wohnviertel für Gutbetuchte zu machen. Die Stadtväter hatten damals alles drangesetzt, die sozialen Brennpunkte zu entschärfen und der Hauptstadt wieder zu einem besseren Ruf zu verhelfen. Täglich negative Schlagzeilen, das war irgendwann untragbar geworden.
Die Rechnung war allerdings nicht im Geringsten aufgegangen. Zuerst waren die elf neu erbauten Luxuswohnblocks jahrzehntelang nahezu leer gestanden, dann hatte man die geräumigen Apartments notgedrungen in kleine Sozialwohnungen umgestaltet. Dazu waren einfach weiße Plastikcontainer, die je eine vollmöblierte KleinstWohneinheit von ungefähr vierzig Quadratmetern enthielten, in die Apartments eingebaut worden. Seither lebten im Stadtteil Neukölln, wie eh und je, die sozial Schwachen, viele Migranten und gescheiterte Existenzen auf engstem Raum zusammen.
Heute hatten die Anrufe und das Klingeln an der Türe der Emmersons kein Ende nehmen wollen. Eine kaputte Glühbirne im Treppenhaus, ein klemmendes Fenster, ein versehentlich ausgelöster Feueralarm, eine rüde Prügelei unter Nordafrikanern im Eingangsbereich, ein umgekippter Müllcontainer … er war am Ende seiner Kräfte. Seine depressive Erkrankung machte sich in letzter Zeit wieder stärker bemerkbar.
Nun stand seine Frau erneut mit verschränkten Armen im Türrahmen, zog ein ärgerliches Gesicht. »Du musst ja schließlich nicht den ganzen Tag hier herumsitzen, darauf warten, dass der Tag vorüber geht und dich langweilen«, meckerte sie vorwurfsvoll.
»Dann geh gefälligst spazieren oder suche dir sonst irgendeine Beschäftigung. Zum Beispiel könntest du hier drin wieder mal gründlich sauber machen«, gab er wütend zurück.
»Das kann ich wohl kaum den ganzen Tag lang tun. In dieser scheußlichen Bruchbude ist das ohnehin vergebliche Liebesmüh. Der helle Kunststoff ist dank unserer Vormieter total verkratzt, den bekommt man nie mehr sauber. Und wo wäre eigentlich das Problem, wenn wir uns so eine Mediatapete holen würden? Sogar die asoziale Sabine von nebenan hat schon eine und ist total glücklich damit!«
Philipp seufzte. Er hatte es ihr schon so oft erklärt. »Weil wir kein überzähliges Geld besitzen! Jetzt haben wir grade erst das alte Auto abbezahlt, auf dem Konto ist Ebbe.«
»Aber das ist bei der Sabine auch nicht anders. Sie hat sich einfach so eine NullProzentFinanzierung beim MegatechMarkt besorgt. Wenn sie eines Tages die monatlichen Raten nicht mehr bezahlen kann – na und? Dann geht sie eben in Privatinsolvenz. Das hat sie vor ein paar Jahren schon einmal gemacht. Wer nichts hat, dem kann man auch nichts wegnehmen. Wir sind doch eh ständig pleite. Aber mit Mediatapete könnte ich das sicherlich besser ertragen.«
»Die Sabine arbeitet nicht, das ist ein großer Unterschied. Mir könnte man jedoch im Zweifelsfall den Lohn pfänden.
Wir würden am Ende unser Auto verlieren, und wie sollte ich dann bitteschön zur Arbeit, ans andere Ende der Stadt, gelangen? Du weißt doch genau, wie beschissen es um die Öffentlichen Verkehrsmittel bestellt ist. Sie sind zu jeder Tagesund Nachtzeit total überfüllt. Mittlerweile ist es lebensgefährlich, sich in die Bahnhöfe der TransrapidMagnetbahn zu wagen. Erst neulich ist mein Arbeitskollege Erik an der Station Alexanderplatz halb tot geprügelt worden.«
Swetlana gingen vorläufig die Argumente aus. Sie seufzte resigniert, entfernte sich schmollend.
Terra, 24. Dezember 2116 nach Christus, Donnerstag
Am späten Vormittag wurden vier Rollen, allesamt in Raumhöhe, bei der Wohnung der Emmersons angeliefert. Swetlana hatte das Sonderangebot des Elektro großmarkts genutzt und, ohne das Einverständnis ihres Ehemanns einzuholen, auf Pump eine halbwegs erschwingliche Mediatapete geordert. Zwei kräftige MegatechMänner schleppten die silbrig glänzenden Rollen fluchend das Treppenhaus hinauf bis zum siebten Stockwerk. In den Aufzug passten die sperrigen Dinger nicht hinein.
Philipp wollte drei Stunden später vor Wut schier platzen. Noch stand er mit gezückter Chipkarte vor der Wohnungstür, aber schon von hier draußen vernahm er überdeutlich die charakteristische Geräuschkulisse einer Nachrichtensendung, die immer wieder von Werbeeinblendungen unterbrochen wurde.
Neuerdings waren die Fernsehanstalten dazu übergegangen, selbst die Informationen über das Weltgeschehen mit, scheinbar bestens zum jeweiligen Thema passenden, Werbespots zu durchbrechen. Lief beispielsweise ein Beitrag zu den Gefahren der Privatisierung der öffentlichen Wasserversorgung, wurde gleich danach ein besonders reines Mineralwasser angepriesen.
Der Berichterstattung über den erneut ausgebrochenen Krieg zwischen Nord- und Südkorea folgte ein holografisches 3D-Game, mit dem man haargenau diesen Konflikt spielerisch im heimischen Wohnzimmer nachvollziehen konnte; so realistisch, als befände man sich tatsächlich im Kriegsgebiet.
Philipp zog die Karte durch den Schlitz und wartete zwei Sekunden, bis die Kontrollleuchte grünes Licht zeigte. Er atmete tief durch und betrat mit gerunzelter Stirn seine Miniwohnung. Swetlana sah ihn gar nicht kommen, denn sie übte sich vor der riesigen Bildfläche in Gestensteuerung.
Er tippte ihr auf die Schulter. »Hör mal, musst du mir diesen Tag vollends vermiesen? Es reicht mir schon dicke, dass ich heute ab 18 Uhr Bereitschaft für das Klärbecken aufgedrückt bekommen habe. Wer weiß, was die Leute am Weihnachtsabend wieder alles ins Klo schmeißen!
Zusätzlich kann ich mir hier im Haus den Hintern aufreißen. Manche Dinge ändern sich eben nie, jedes Jahr dasselbe Theater. Abfackelnde Weihnachtsbäume, Selbstmordkandidaten, tätlich ausgetragene Familienkonflikte … ich könnte kotzen, wenn ich an das letzte Weihnachtsfest zurückdenke. Und zur Krönung des Ganzen bugsierst du uns mit dem verdammten Ding da ins finanzielle Abseits. Eigentlich könnte ich ja gleich aus dem Fenster springen!«
Swetlana strahlte immer noch, schloss Philipp anstelle einer Erwiderung in die Arme. Er vermochte die merkwürdige Reaktion nicht einzuordnen, blieb hölzern stehen.
»Nun rege dich bitte wieder ab, mein Schatz. Wir haben heute auf jeden Fall Grund zum Feiern. Zum ersten Januar werde ich eigenes Geld verdienen. Die Hausverwaltung hat mir eine Putzstelle verpasst. Ich säubere in Zukunft unser Treppenhaus. Also können wir uns diese Mediawand durchaus leisten. Na, was sagst du?«
Philipp war immer noch nicht zum Lachen zumute, doch er liebte seine Frau. Also schluckte er die Bemerkung, dass man üblicherweise zuerst Geld verdiente und es dann erst ausgab, im letzten Moment hinunter.
»Na schön … wenn das Ding nun mal da ist, sehe ich mir jetzt den Rest der Nachrichten an«, meinte er augenzwinkernd. Gemeinsam setzten sie sich auf die verschlissene Couch.
» … scheint dank der Mikrorobotik nun endlich der finale Coup gegen die Terrormiliz IS gelungen zu sein. Ferngelenkte Nanodrohnen in Wespenform spritzen den Führungspersonen hochwirksames Nervengift unter die Haut, worauf sie in fürchterlichen Zuckungen einen grausamen Tod sterben. Mittlerweile finden sich für höhere Positionen kaum noch Kandidaten. Dem Dschihad geht allmählich der Nachschub aus«, vermeldete der geschniegelte Nachrichtensprecher.
»Na endlich. Lange genug hat es gedauert«, knurrte Philipp schadenfroh. Die zugehörigen Bilder flimmerten in brillanter Qualität über die Tapete. Ein bärtiger Araber mit Turban und Maschinengewehr hauchte soeben schlotternd und sabbernd sein Leben aus. Fast meinte man, der Islamist würde inmitten des Wohnzimmers verenden, so täuschend echt wirkten die dreidimensionalen Aufnahmen.
Unvermittelt erschien eine überdimensional große Tablettenpackung auf der Bildfläche. Eine schmale, top manikürte Frauenhand reichte sie quasi aus der Tapete.
»Die lang ersehnte Rettung für Epileptiker – garantiert ohne lästige Nebenwirkungen. Gleiter fliegen, zum Mars reisen, an Maschinen arbeiten, pure Lebensqualität genießen … mit diesem innovativen Medikament wird das künftig kein Problem mehr sein«, versprach eine säuselnde weibliche Stimme.
*
Sechs Monate später flimmerte eine Werbung der besonderen Art über die oft und gern genutzte Wundertapete. Sie wurde von der Bundesregierung in Kooperation mit der Europäischen Union und der ESA ausgestrahlt, entsprechend plakativ in Szene gesetzt.
Man sah eine attraktive Frau mittleren Alters, die lächelnd in einem kleinen Gemüsegarten stand. Im Hintergrund leuchtete ein Wohnmodul aus weiß glänzendem Kunststoff, das sich kontrastreich gegen den blauvioletten Himmel abhob. In einiger Entfernung erkannte man schroffe rötliche Bergkämme.