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Als sie die dünne Marsatmosphäre erreichten und das Tosen verschwunden war, atmeten beide auf. Solaras‘ Hände zitterten stark, er war einem Nervenzusammenbruch nahe. Seine CoPilotin überprüfte rasch die Bordinstrumente und stellte beruhigt fest, dass ihnen niemand zu folgen schien. Endlich konnten sie es wagen, die Innenbeleuchtung des Cockpits anzustellen.
»Ich gäbe etwas drum, jetzt eine Pause einlegen zu können«, keuchte Solaras erschöpft. »Aber es hilft alles nichts – also auf nach Terra, in unser neues Leben.«
»Tja, was soll ich dazu sagen? Ich habe ein paar TUNs mehr auf dem Buckel. Frage daher besser nicht, wie es mir gerade geht. Halte noch ein wenig durch, dann übernehme ich und du kannst dich ausruhen. Du musst mir vorher nur noch erklären, wie dieses Ding genau funktioniert. Du weißt ja, meine Sektion befasst sich normalerweise nicht mit dem Steuern von Raumgleitern«, grinste Kalmes.
Zweieinhalb KIN später kam eine mit zahllosen Lichtpunkten übersäte Kugel in Sicht. Solaras aktivierte sofort die Tarnschilde. Auch wenn sie sich Terra von der Nachtseite her näherten, war es besser, nicht leichtsinnig auf sich aufmerksam zu machen. Fluchend steuerte er den Raumgleiter zwischen ein paar scharfkantigen Stücken Weltraumschrott und Fernsehsatelliten hindurch, dann überflogen sie den Nahen Osten.
»Am besten landen wir in der altbewährten Gegend«, schlug Solaras aufgeregt vor. »Dort ist die Besiedelung nicht so dicht, und wir kennen uns fürs Erste aus.«
Er ahnte noch nicht, wie sehr er sich mit dieser Annahme irren sollte.
Terra, 31. Juli 2023 nach Christus, Montag
Mit rasenden Kopfschmerzen erwachte Thomas Maier aus einem kurzen, unruhigen Halbschlaf. Ungefähr zweieinhalb Stunden hatte es gedauert, bis Pierre LaSalle seine Ausrüstungsgegenstände wieder verstaut hatte, in den Rover gestiegen und gemeinsam mit seinem Missionskollegen Javier Molina Hernández zum Metallportal unterhalb des Olympus Mons gefahren war.
Die restlichen Astronauten hatten zuerst auslosen müssen, wer von ihnen LaSalle begleiten durfte; die damit für Leib und Leben verbundene Gefahr spielte bei zukunftsweisenden Einsätzen wie diesem natürlich kaum eine Rolle. Jeder wollte dabei sein, wenn Geschichte geschrieben wurde.
»Pierre, kannst du mich hören? Javier soll den Rover ungefähr zweihundert Meter entfernt parken und dort auf dich warten. Du forderst ihn bitte nur an, wenn du alleine nicht zurechtkommen solltest. Marscontrol Ende«, kommandierte Maier auf Englisch.
Der Astronaut signalisierte nach dem üblichen Zeitversatz, dass er verstanden habe und mühte sich ungelenk aus dem Marsrover. In einer Hand hielt er einen kleinen Werkzeugkoffer, in der anderen den mit Kevlar beschichteten Container mit der Fotoausrüstung. Die sieben Zeichenfolgen des mutmaßlichen Öffnungscodes hatte er in der Isozone sorgfältig von der Folie abgezeichnet, um das Original nicht zu beschädigen.
Es sieht gemeinhin ziemlich urig aus, wenn Astronauten trotz der schweren Raumanzüge und mitgeführter Lasten leichtfüßig über ferne Himmelskörper zu hopsen scheinen, obwohl sie sich um einen normalen Gang bemühen. In diesem Fall aber lagen die Dinge anders.
Die Schwerkraft auf dem Mars glich mittlerweile schon fast derjenigen der Erde. Etwa im Jahr 2018 hatte ein unerklärliches Phänomen seinen Anfang genommen. Der Eisenkern des Planeten rotierte offenbar, Konvektionsströmungen schienen wieder in Bewegung geraten zu sein. Ein respektables, schützendes Magnetfeld war so entstanden, was das Risiko einer Verstrahlung für die Crew der Aurora minimierte.
Sogar die Achse des Roten Planeten verhielt sich stabil, weil anstelle der plötzlich verschwundenen Gesteinsbrocken Phobos und Deimos quasi über Nacht ein kleiner Planet in Marsnähe aufgetaucht war, der seitdem als neuer Mond fungierte.
Zum weltweiten Erstaunen handelte es sich hierbei um den Zwergplaneten Ceres. Nur, wie war dieser Himmelskörper, der zuvor im Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter seine Bahnen gezogen hatte, dorthin gelangt? Und auf welche Weise konnte sich überhaupt das Magnetfeld eines Gesteinsplaneten von selbst wieder aufbauen? Zudem verdichtete sich die Atmosphäre zusehends, der Sauerstoffanteil stieg stetig an. In einigen Jahrzehnten würde man sich auf dem Mars vielleicht sogar ohne Raumanzug ganz normal bewegen können.
Die Wissenschaftler der Erde standen vor mehreren Rätseln. Fast schien es, als würde jemand Marsforming betreiben.
Pierre LaSalle bekam die Auswirkungen dieser faszinierenden Veränderungen unmittelbar vor Ort zu spüren. Er schleppte schwer an seiner sperrigen Ausrüstung, umging keuchend ein paar dunkle Felsbrocken, die wahrscheinlich beim letzten Vulkanausbruch als glühende Lavabomben niedergegangen waren, und kam schließlich erschöpft an seinem Ziel an.
Thomas Maier bemerkte, wie sich sein Tinnitus verstärkte, der ihn seit einiger Zeit fast um den Verstand brachte. Während sein Kollege auf dem Mars jenen Alkoven näher untersuchte, in welchem er vor einigen Tagen die Zeitkapsel gefunden hatte, rieb er sich die pochenden Schläfen und bat Sheila, ihm eine starke Kopfschmerztablette zu besorgen. Dazu orderte einen großen Pott Kaffee zum Hinunterspülen.
Nirgends existierte ein Eingabefeld, auf dem man die kleinen Rechtecke in der aufgezeichneten Anordnung hätte antippen können … aber wer wusste schon, wie so ein Öffnungsmechanismus bei Aliens funktioniert haben mochte? Vielleicht musste man nach etwas vollkommen anderem suchen. Mehrmals zuckte LaSalle zum Entsetzen seiner irdischen Beobachter ratlos mit den Schultern.
»Marscontrol, das könnte jetzt ein Weilchen dauern. Ich taste jeden Zentimeter des Portals und seiner Umgebung noch einmal ab, falls irgendwo druckempfindliche Sensoren eingebaut sein sollten. Die unbekannten Erbauer sind sicher davon ausgegangen, dass intelligente, fortschrittliche Wesen die Hinterlassenschaften ihrer Kultur dereinst entdecken werden … womöglich sind wir technisch einfach noch nicht in der Lage, da hineinzugelangen. Oder der Mechanismus ist wegen der veränderten Umwelteinflüsse kaputt gegangen. Schließlich hat es gerade in dieser Region jetzt schon mehrfach Regen gegeben, was in Millionen von Jahren vorher nie der Fall gewesen sein dürfte. LaSalle Ende.« Er klang ein wenig enttäuscht.
Zum dritten Mal öffnete der französische Raumfahrer nun bereits das kleine Türchen, hinter dem die Metallkapsel sämtliche Zeitalter überdauert hatte. Sein Instinkt behauptete nämlich hartnäckig, dass der wie auch immer geartete Schlüssel zu den Mysterien dieses fremden Volkes intelligenter Wesen genau dort verborgen liege.
Allen Überlegungen zum Trotz fühlte sich die mutmaßliche Metalllegierung des Alkovens glatt an, Tasten oder ein Touchscreen-Display gab es hier definitiv nicht. Nur die Reste einer bernsteinähnlichen Masse, die das Türchen vor der ersten Öffnung versiegelt hatte, krümelten glitzernd von den Rändern. Wahrscheinlich handelte es sich um dasselbe Material, das bis dato auch die Kapsel hermetisch verschlossen gehalten und deren Inhalt perfekt konserviert hatte.
Da! Just in jenem Moment, da er seine behandschuhten Finger von der matt glänzenden Beschichtung des Alkovens genommen hatte, war etwa für eine Sekunde ein fahles, bläuliches Leuchten wahrnehmbar gewesen. LaSalle wiederholte die Bewegung, sah dieses Mal genauer hin.
Tatsächlich! Auch wenn er das mysteriöse Phänomen vorläufig nicht einzuordnen wusste – es war zumindest irgendeine Form von Reaktion auf seine Bemühungen erfolgt! Er wiederholte denselben Bewegungsablauf sicherheitshalber noch weitere fünf Mal, um das Gesehene zu verifizieren, dann informierte er das Kontrollzentrum.
Thomas Maier fühlte sich von frischer Energie durchströmt, als säße er auf einem elektrischen Stuhl.
»Hier Marscontrol. Pierre, versuch‘ doch bitte als nächstes, ein bisschen mit dem Leuchten zu spielen, beobachte dabei genauestens das Portal. Tippe die Fläche mal mit einem Finger an, dann mit zwei … du könntest es mit Wischen oder mit stärkerem Druck versuchen … ich bin überzeugt, dass wir die AlienTechnologie knacken werden, so wahr ich mir hier den Hintern platt sitze! Marscontrol Ende.«
Sheila war mulmig zumute. »Was ist, wenn es sich bei der Ursache für das Leuchten um eine Art Stromfluss handelt und Pierre durch seine Manipulationen versehentlich die Spannung erhöht? Er könnte sterben!«
»Ich weiß … aber die Öffentlichkeit würde uns hinterher nie verzeihen können, wenn wir keinen Versuch unternommen hätten, das Portal zu öffnen. Du glaubst doch selbst nicht, dass ich unseren ehrgeizigen Raumfahrer davon abhalten könnte, da ein weiteres Mal hinzulangen, oder? Wir teilen uns die Verantwortung für diese Entscheidung als Team, Pierre und wir – und danach hoffentlich ebenso den Erfolg. Er ist sich vollumfänglich bewusst, worauf er sich da eingelassen hat.«
Vierzehn endlose Minuten später meldete sich LaSalle erneut. Seine Stimme klang erregt, er atmete schwer.
»Marscontrol, ich kann jetzt mit Gewissheit sagen, dass das diffuse Leuchten nur erscheint, wenn ich die gesamte Hand mit allen fünf Fingern auflege. Auf Druck reagiert die Fläche überhaupt nicht. Im Gegenteil – je sachter ich dorthin fasse, desto greller wird dieses Leuchten. Und jetzt kommt’s … die Oberfläche scheint in unsichtbare Sektoren aufgeteilt zu sein. Wenn ich beispielsweise vorsichtig in die rechte obere Ecke taste, leuchten feine Ritzen am Portal leicht bläulich auf, die derselben Region entsprechen.
Wahrscheinlich könnt ihr das wegen der mangelhaften Bildqualität der Übertragung von der Erde aus nicht genau erkennen, aber es handelt sich offenbar um kein massives Material aus einem Guss, sondern um einzelne, dicht zusammengefügte Türsegmente! Sie sind allesamt rechteckig, in komplizierten Mustern angeordnet. Ich führe die Tests auf Grundlage meiner Erkenntnisse nun fort und halte bis auf weiteres Funkstille, um nicht ständig unterbrechen zu müssen. LaSalle Ende.«
Nach ungefähr einer Stunde forderte Pierre LaSalle Verstärkung an, Maier stimmte zu. So machte sich sein Missionskollege Javier Molina augenblicklich auf den Weg zum Portal, ließ den Rover am bisherigen Standplatz zurück.
»Wenn das tatsächlich einzelne, rechteckig angeordnete Elemente sind, woran erinnert euch der Anblick dann?«, sinnierte Maier mit leicht zusammengekniffenen Augen. Er starrte angestrengt auf den riesigen Bildschirm vor seiner Nase, konnte jedoch beim besten Willen keine Linien in dem grobkörnigen Bildmaterial erkennen. Für ihn sah das Portal wie eine graue, uniforme Masse aus.
»Tetris?«, sprudelte es spontan aus Sheila heraus.
»Genau! Das habe ich damals als Kind bis zum Gehtnichtmehr gezockt, meine Mutter ist vor lauter Ärger über die Zeitverschwendung fast durchgedreht. Aber … wenn das eine Art außerirdisches MegaTetris sein sollte, dann müssten sich die einzelnen Elemente doch gegeneinander verschieben lassen?«, fragte der gebürtige Schotte Mike McGregor, der im Kollegenkreis zu seinem Ärger scherzhaft als der Schönling bezeichnet wurde.
Diese zutreffende Bezeichnung war seinem athletischen Körperbau, dem wallenden, dichten Blondhaar und seinen leuchtend blauen Augen geschuldet, die jede Frau ganz von selbst in ihren Bann zogen. Mike selbst war dieser Effekt indes oft unangenehm, denn mit blendend aussehenden Männern verband die Allgemeinheit nur selten ein funktionierendes Hirn – und er war nun mal ein hochintelligenter Wissenschaftler, wollte nicht als tumbes männliches Model abgestempelt, auf seinen attraktiven Körper reduziert werden. Außerdem gingen ihm die ständigen Avancen diverser Kolleginnen – und sogar eines schwulen männlichen Kollegen – mächtig auf den Geist. Er war seit drei Jahren glücklich verheiratet, verdammt noch mal!
Dr. HendrikJan Wendler, der zu seiner Linken stand, äußerte gar nichts; er war im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Der hagere Glatzkopf zuckte nur mechanisch mit den Schultern, stierte abwechselnd auf den Bildschirm und suchte in Thomas Maiers Gesicht nach Antworten. Die Option, ein von Außerirdischen hergestelltes Tor ohne rohe Gewaltanwendung öffnen zu können, überstieg wohl sein Vorstellungsvermögen. Er galt in der ESA als Mann der grauen Theorie, konnte mit gelebter Praxis wenig anfangen.
Ganz anders Thomas Maier. Nach kurzem Grübeln meinte er: »Korrekt! Seht her, ich glaube, Pierre ist ebenfalls bereits auf diesen Einfall gekommen. Er braucht Molina wahrscheinlich, um die Segmente zu verschieben, weil das nur zu zweit funktioniert. Einer bedient die Fläche und entriegelt die jeweiligen Teile, der andere schiebt sie in Position. Und wenn mich nicht alles täuscht, kennen wir sogar die richtige Anordnung …!«
Thomas Maier rollte mit dem Drehstuhl einen Meter zur Seite, wäre dabei fast über Mikes Füße gefahren. Er öffnete auf einem anderen Bildschirm jene Aufzeichnung, in welcher LaSalle beim Verlesen der KunststoffSchriftrolle zu sehen war. Zum Schluss hatte dieser das Dokument dicht vor die Kamera gehalten, so dass man die siebenfache Zeichenfolge am Ende des lateinischen Textes halbwegs erkennen konnte.
»Da brat mir doch einer ‘nen Storch!«, japste Sheila. »Du hast
Recht! Das sieht haargenau wie eine Gebrauchsanleitung aus!«
Auf dem Mars waren Molina und LaSalle offenkundig zum selben Ergebnis gekommen, denn Letzterer packte die Kamera aus, studierte etwas auf deren Display. Dann stellte sich Molina vor dem Portal in Position, während LaSalle seine Hand in den Alkoven legte und seinem Kollegen aufmunternd zunickte. Hypernervös beobachtete das Bodenpersonal im Kontrollzentrum, wie das Team nach einigen Fehlversuchen die erste Metallplatte verschob, und zwar auf eine glatte Fläche neben der Türanlage. Das irisierende Leuchten war nun auch von der Erde aus klar und deutlich sichtbar.
»Klar – ein Segment muss zunächst aus dem Arrangement genommen werden, sonst lassen sich ja die restlichen gar nicht verschieben«, hauchte Sheila Taylor und krallte vor Aufregung ihre Fingernägel in die rechte Schulter ihres Lebensgefährten.
»Habt ihr gesehen, wie leichtgängig die Platte weggerutscht ist? Nach all der Zeit, die vergangen sein muss, seit … «
»Ja, und genau dieses seit werden wir jetzt bald in Augenschein nehmen können. Die Erbauer dieser Toranlage haben wahrscheinlich sichergehen wollen, dass ausschließlich intelligente Wesen mit fünf Fingern an jeder Hand hineingelangen können – was den logischen Schluss nahelegt, dass sie uns sehr ähnlich gewesen sein müssen, woher sie auch stammten. Sie waren zu technologischen Meisterleistungen fähig, soviel steht für mich jetzt schon fest! Dabei haben unsere Kollegen die Anlage bislang noch nicht einmal betreten.
Leute, das ist der blanke Wahnsinn … ist euch überhaupt bewusst, was vor unseren Augen und Ohren gerade geschieht? Ich beneide mich quasi selbst darum, hier und heute anwesend sein zu dürfen«, deklamierte Maier in feierlichem Tonfall. Er verdrückte ein paar Tränen der Rührung in den Augenwinkeln, während Pierre LaSalle und Javier Molina soeben das dritte Segment in seine neue Position bewegten. Immer routinierter wirkten die Bewegungen der beiden Astronauten; der antike Mechanismus schien einwandfrei zu funktionieren.
Als das letzte Puzzleteil an Ort und Stelle gerückt war, leuchtete die gesamte Tür kurz auf – und schwebte wie durch Geisterhand zur Seite. Dahinter schien eine Art weiß verschalter Durchgang zu liegen, doch man konnte diesen kaum mehr als zwei Meter weit einsehen.
»Marscontrol, könnt ihr auf euren Bildschirmen etwas erkennen? Wir werden den geöffneten Raum jetzt vorsichtig betreten, doch etwas scheint ihn zu blockieren. Ich kann eine dunkle Masse im Inneren ausmachen. Ich melde mich wieder, sobald ich dort angekommen bin. Javier zieht es vor, draußen zu warten. Das ist auch besser so, denn das Tor könnte sich theoretisch von selbst wieder schließen. Jemand müsste mich in diesem Fall ja herauslassen. LaSalle Ende.«
Ein enttäuschtes Stöhnen hallte durchs irdische Kontrollzentrum, als Pierre kurz darauf vermeldete, dass es in diesem Gang kein Durchkommen gebe. Die vagen Vermutungen der Geologen, dass es sich hier einst um eine begehbare Lavaröhre gehandelt haben müsste, hatten sich bestätigt. Leider war sie nun fast vollständig mit erkalteter Lava verstopft, nur ein kleiner Abschnitt von zirka drei Metern Länge und vier Metern Breite war noch einigermaßen intakt geblieben.
Trotzdem, selbst dieses relativ kleine Refugium der unbekannten Aliens bot ein Füllhorn an Spuren und fremdartigen Werkstoffen, die man zur Erde mitnehmen und dort akribisch auf ihre spezifischen Eigenschaften untersuchen konnte. Das bedeutete Arbeit für viele Monate, wenn nicht sogar Jahre!
Es bestand für irdische Wissenschaftler beispielsweise die Aussicht, ein fremdartiges, hitzeresistentes Material analysieren zu können. Hätte es sich bei der hellen Wandverkleidung um handelsüblichen Kunststoff gehandelt, wie man ihn auf der Erde herstellte, so wäre er wegen der Hitzeentwicklung der herannahenden Lava unweigerlich geschmolzen. Und dann war da noch jener geheimnisvolle Sirup, welcher konservierend wirkte und, ausgehärtet, Ritzen über lange Zeit hinweg versiegeln konnte. Für diesen würden sich auf der Erde mit Sicherheit jede Menge Einsatzbereiche finden lassen.
LaSalle und Molina zückten sterile Plastikbehälter. Die beiden schickten sich mit schwerfälligen Bewegungen an, Proben zu nehmen. Vom dunkelgrau schimmernden Fußboden, der erkalteten Lava, der Wandverkleidung sowie einer unförmig mit der Wand verbackenen Masse, die vor dem mutmaßlichen Vulkanausbruch wahrscheinlich als Beleuchtungskörper erkennbar gewesen war.
Plötzlich stutzte LaSalle, hielt abrupt in seiner Bewegung inne. »Ich … ich bin nicht ganz sicher … aber ich glaube fast, ich bin gerade auf die Überreste eines Skeletts getreten!«
*
In jener Nacht schlief Thomas Maier tief und fest. Vor dem Einschlummern war ihm nämlich ein tröstlicher Gedanke gekommen:
Wenn die für irgendeine Art der Nutzung ausgebauten Lavaröhren von intelligenten Wesen stammten – was zweifellos der Fall war – dann mussten deren Ingenieure bei der Konstruktion zwangsläufig auch an Fluchttunnel mit alternativen Ausgängen gedacht haben. Sie hatten schließlich mit hoher Wahrscheinlichkeit um die Gefahr von möglichen Vulkanausbrüchen gewusst.
Es war somit nur eine Frage der Zeit, wann man auf das nächste Portal stoßen würde, musste einfach das Areal rund um Olympus Mons konsequent absuchen … wobei es sich da allerdings um etliche Quadratkilometer handelte, denn der mächtige Marsvulkan wies nicht nur die stattliche Höhe von rund zweiundzwanzig Kilometern auf, sondern auch einen Durchmesser von sechshundert Kilometern. Gemessen daran wirkten die irdischen Schildvulkane – etwa diejenigen auf Hawaii – wie lächerlich kleine Ameisenhügel.
Maiers letzte Gedanken vor dem endgültigen Wegdämmern ins Traumland galten der Frage, was sich angesichts der gewaltigen Abmessungen wohl in den Lavaröhren verbergen mochte. Man hätte dort locker eine Großstadt mit Hunderttausenden von Bewohnern unterbringen können! Hoffentlich waren nicht alle Gänge verschüttet …
Farbenfrohe Bilder von futuristischen, unterirdischen Stadtarealen geleiteten den euphorischen Astrophysiker behutsam in die unkontrollierbaren Tiefen seines Unterbewusstseins, wo er endlich die nötige Erholung fand.
Terra, 14. Oktober 2016 nach Christus, Freitag
Solaras sah nervös durchs Fenster nach draußen. Überall Lichtpunkte … wo waren nur die vielen freien Flächen abgeblieben, die es vor über 2.000 Jahren hier gegeben hatte? Er versuchte sich grob zu orientieren, doch das war ohne passende Software für das Navigationssystem nahezu unmöglich. Sicher, die Landmasse, auf die sie aus luftiger Höhe zusteuerten, hatte er identifizieren können. Die Form der SinaiHalbinsel war schließlich unverkennbar. Sie befanden sich jetzt nördlich davon, irgendwo in der Nähe der Mittelmeerküste.
Aber nun, da sie sich dem Erdboden näherten, war ihm der genaue Landungsort unbekannt.
»Wo sind wir? Könnten wir nicht in der Nähe von Nazareth oder Jerusalem aufsetzen?«, fragte Kalmes, die sich offenbar der Problematik nicht bewusst zu sein schien.
»Dort unten sind mittlerweile jede Menge große Städte. Woher soll ich denn wissen, welche davon Jerusalem sein könnte? Nein … wir brauchen ohnehin ein dünner besiedeltes Gebiet abseits stark befahrener Pisten.«
»Hast du denn für den Holographen kein terrestrisches Kartenmaterial von Tiberia mitgenommen?«
»Leider nicht, und wie hätte ich das auch fertigbringen sollen? Es war schon schwierig genug, trotz Ardens Starrsinn an das Gerät zu kommen«, erwiderte Solaras kurz angebunden. Er wollte nur noch drei Dinge – endlich landen, den Gleiter tarnen und sich ausruhen. Um Kalmes zu schonen, war er die meiste Zeit über am Steuer gesessen. Das rächte sich nun. Er wähnte sich am Ende seiner Kräfte.
Das kleine, linsenförmige Raumfahrzeug näherte sich mit aktivierten Tarnschilden dem Boden. Solaras steuerte eine freie Fläche an, die neben einer Siedlung lag. Die Gegend war relativ flach, doch dann entdeckte er eine Bodenmulde, die von den landestypischen Steppenpflanzen bewachsen war.
»Das ist ideal! Wenn wir das Tarnnetz überziehen, die Ränder mit ein bisschen Erdreich ausgleichen und ein paar Pflanzen oben drauf setzen, sollte unser Vehikel vor neugierigen Blicken verborgen sein. Es sieht nicht aus, als ob dieser Bereich des Landstrichs landwirtschaftlich genutzt wird. Ich hoffe nur, dass wir auf der richtigen Seite des riesigen Grenzzauns aufsetzen. Da sieh mal – keine Ahnung, wer oder was dort eingesperrt ist!«
»Ein Grenzzaun? Hier scheint sich aber einiges verändert zu haben. Nun gut, wir waren zuletzt vor zweitausend Jahren hier. Ich habe ein wenig Angst, Solaras. Freilich, wir haben von Tiberia aus die Entwicklungen auf Terra zumindest im Groben mitbekommen, aber leider nicht, wie sich die Gesellschaft an sich verändert hat.
Ich bin nicht einmal sicher, in welchem Jahr wir gelandet sind. Befinden wir uns im zweiundzwanzigsten Jahrhundert oder schreibt man hier doch noch das einundzwanzigste wie auf dem Mars? Keine Ahnung, welche Auswirkungen der Zeittunnel auf diese Ecke des Sonnensystems zeitigt.
Wie auch immer, das heutige Terra wird uns fremd sein. Hat sich die Sprache gewandelt, wie sind die Sitten und Gebräuche und so weiter … wir können uns da kaum Fehler erlauben, müssen uns von Anfang an integrieren. Sonst fallen wir als Fremdkörper auf«, sinnierte Kalmes bedrückt.
Der Gleiter setzte sanft auf. »Ein Schritt nach dem anderen. Jetzt kümmern wir uns erst einmal um die Tarnung, dann ruhen wir uns aus. Im Morgengrauen kleiden wir uns in die gute alte terrestrische Tracht und wandern zu der Siedlung hinüber, die wir von oben gesehen haben. Dann entscheiden wir das Weitere«, gähnte Solaras.
Gegen 1.30 Uhr morgens fielen die beiden Tiberianer nach getaner Arbeit in einen tiefen Schlaf, zum letzten Mal in den engen Kojen des Raumgleiters. Eine Riesenportion Glück hatte sie davon abgehalten, weiter südlich zu landen.
*
m Morgengrauen machten sich Kalmes und Solaras auf den staubigen, steinigen Weg zu der Ansammlung von kleinen Häusern, die sie am Vorabend aus der Luft entdeckt hatten.
»Schau mal, die toll gepflegten Plantagen. Und außerhalb des eigentlichen Dorfes befindet sich eine Art Lager, wo sich jede Menge Leute tummeln. Ob das fliegende Händler sind?«, dachte Kalmes laut nach.
»Wir fragen einfach. Geld besitzen wir sowieso noch keines, einen implantierten Chip ebenfalls nicht, wie sie hier im zweiundzwanzigsten Jahrhundert jeder Einwohner besitzt – oder besitzen wird. Wir werden unsere Dienste anbieten müssen, um einen Schlafplatz zu erhalten. Hoffentlich funktioniert das noch auf dieselbe Weise wie früher. Ich denke, wir sollten für ein paar Tage hier bleiben, um uns grob zu orientieren. Danach können wir in nördlicher Richtung weiterziehen.«