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Thomas Maier hasste es, wenn er seine eigene hochfliegende Erwartungshaltung dämpfen musste. Aber bei allem Enthusiasmus galt es, auf dem Boden der nackten Tatsachen haften zu bleiben.
»Trotzdem! LaSalle soll es erst einmal mit der alten Kombination versuchen, sobald er das EingabePad freigelegt hat«, beharrte Wendler hartnäckig und kratzte sich unter seinem spärlichen Haarkranz. Obwohl erst 39 Jahre alt, reichte ihm die hohe Stirn bereits bis zum Hinterkopf, wie die Kollegen sich gerne hinter vorgehaltener Hand amüsierten. Er wusste das. Sein Lieblingscredo, das er bei jeder Gelegenheit anbrachte, lautete deshalb: Wenn der Verstand kommt, müssen eben die Haare gehen. Selbstironie war der beste Weg, die Verarsche durch von der Natur begünstigtere Männer abzustellen.
Trotzdem, oft beneidete er Maier um seinen dichten Haarund Bartwuchs, der selbst die Augenbrauen buschig wuchern ließ. Schließlich hatte Thomas Sheila abbekommen, bei der er selbst vor sechs Jahren abgeblitzt war.
»Was habe ich dir gesagt? Funktioniert nicht!«, bemerkte der Haarige enttäuscht. LaSalle versuchte soeben trotz seines sperrigen Raumanzugs, mit den Achseln zu zucken.
Wendlers Augen blitzten plötzlich auf. »Wenn du Recht hast und dies ein kapitales Bauwerk wäre – müsste es dann nicht einen zweiten Eingang geben, oder sogar noch mehr davon? Vielleicht sollten wir zunächst danach suchen!«
Wie sich herausstellte, gab es insgesamt vier identische Portale, eines an jeder Seite des rechteckigen Komplexes. Und das an einer der Schmalseiten der Formation gelegene – welch ein Glück – war, offenbar durch einen Felssturz, beschädigt.
»Pierre, versuche bitte, das kaputte Segment ganz herauszunehmen. Vielleicht lassen sich dann die benachbarten widerstandslos zur Seite schieben!«, kommandierte Maier mit heiserer Stimme. »Wenn nicht, könnt ihr ein Stahlseil daran befestigen und versuchen, die Konstruktion mit dem Rover zum Einsturz zu bringen. Schließlich dürften die Elemente nicht fest miteinander verbunden sein, denn sonst würden sie sich wohl kaum nach einem festgelegten Muster verschieben lassen!«
Es fiel LaSalle und seinem Kollegen Molina erstaunlich leicht, die nötige Anzahl von Segmentplatten zu entfernen. Eine nach der anderen purzelte zu Boden, wodurch der feine oxidrote Staub mannshoch aufgewirbelt wurde.
»Super! Die Aliens haben eine extrem leichte Metalllegierung verwendet, eventuell sind die Platten innen sogar hohl. Seht mal, kinderleicht!«, freute sich LaSalle und vergaß glatt schon wieder die Funkdisziplin. Er balancierte ein ungefähr 90 x 80 Zentimeter messendes Segment auf einer Handfläche. Wendler runzelte missbilligend die Stirn.
»Soll ich die Anlage jetzt betreten? LaSalle, Ende.«
Thomas Maier ließ hörbar die Luft aus seiner Lunge entweichen. Natürlich sollte der Astronaut da hinein, nichts lieber als das! Aber er war sich seiner großen Verantwortung bewusst. Wer konnte schon wissen, ob sich dort drinnen nicht, ähnlich wie in den altägyptischen Grabanlagen, gefährliche Schimmelsporen oder Bakterien tummelten?
Klar, die Anzüge der Astronauten schirmten ihre Träger zuverlässig gegen so etwas ab. Aber man musste eben auch bedenken, dass sie bei ihrer Rückkehr auf die Erde fremdes, tödliches Material mit einschleusen könnten. Andererseits – wo wäre eigentlich der Sinn dieser Mission, wenn man dabei kein Risiko eingehen wollte? Dann hätte man sich den ganzen Aufwand genauso gut von vornherein sparen können. Nein! Es galt hier und heute, großartige Entdeckungen zu machen und die Menschheitsgeschichte neu zu schreiben.
Maier und Wendler sahen sich kurz an, und Wendler nickte verhalten. Er schien das genauso zu sehen.
»LaSalle, du hast grünes Licht. Geh hinein – aber um Himmels willen vorsichtig! Molina soll zunächst mit den Anderen draußen warten.«
Der Astronaut schaltete die Beleuchtung an seinem Helm ein, trat dann mit einem großen Schritt durch die zackige Öffnung ins Innere der Formation. Dort blieb er wie angewurzelt stehen. Zunächst schien er in der relativen Dunkelheit nichts erkennen zu können. Das durch die Öffnung einfallende Sonnenlicht und die Helmleuchte erhellten lediglich ein paar Meter um seinen Standort. Nur allmählich gewöhnten sich seine Augen an die schlechten Lichtverhältnisse. Er sagte etwas, doch auf der Erde kamen nur Störgeräusche an. Auch das übertragene Bild wurde unscharf, immer wieder wurde es durch schwarzweiße Schlieren verzerrt, bis schließlich gar nichts mehr zu erkennen war.
»Scheiße! Die verdammte Anlage schirmt anscheinend den Funk ab. Molina soll kurz reingehen und LaSalle informieren. Er muss alle Viertelstunde herauskommen und berichten, sonst bekommen wir kaum noch etwas mit! Und die Jungs sollen auf das Wetter achten. Sollte Sturm aufkommen, müssen sie unverzüglich abbrechen und im Marsfly Schutz suchen«, verfügte Jan-Hendrik Wendler. Thomas Maier gab die entsprechende Order durch, und Molina setzte sich gehorsam in Bewegung.
›Das Ganze ist ein wenig wie Schachspielen‹, dachte Maier, während sie voller Nervosität auf Javier Molinas Rückkehr warteten. ›Man verschiebt seine Figuren nach bestem Wissen, weiß aber zu Beginn des Spiels dennoch nicht ansatzweise, ob am Ende Schachmatt dabei herauskommt. Und in diesem Fall kennen wir noch nicht einmal das zugrunde liegende Schachbrett.‹
*
Der spanische Astronaut Javier Molina riss vor Erstaunen die Augen auf als er gewahrte, was sein Kollege da entdeckt hatte. Mit seinem überdimensionierten Pinsel legte der nämlich vorsichtig eine Art IntarsienBodenfliesen frei. Ach was, Bodenfliesen … es handelte sich um ein kompliziert konzipiertes, florales Muster in Rotund Grautönen, welches in regelmäßigen Abständen kleine Löcher aufwies. Der gesamte Fußboden der Halle schien mit demselben Material ausgelegt zu sein. Die meisten Areale wirkten intakt, waren allerdings mit einer dicken Staubschicht belegt. Aufgeregt eilte er nach draußen, um Bericht zu erstatten.
»Eine Halle? Womöglich gar ein Versammlungsort?«, keuchte Maier vor Entzücken. Auf seiner Stirn perlten trotz der kühlen Klimaanlagenluft dicke Schweißtropfen. Seine Mitarbeiter in der Marscontrol sprangen von ihren Stühlen auf, jubelten, umarmten sich gegenseitig. Niemals hätten sie erwartet, auf eine vergangene Hochkultur zu stoßen, die sich in grauer Vorzeit wohl planetenweit ausgebreitet hatte. Schon ein paar Bakterien hätte man zu Beginn dieser Reise zum Mars als Riesenerfolg gewertet. Aber das? Die AuroraMission war schon jetzt ein voller Erfolg.
In der Zwischenzeit stieß LaSalle drinnen auf eine Vorrichtung, die ihn stark an eine irdische Schalttafel erinnerte. Es gab Hebel und Touchpads. Wäre er auf der Erde gewesen, so hätte er ohne zu zögern hin gefasst. Vielleicht konnte man hiermit die Beleuchtung einschalten, auch wenn nirgends Leuchtmittel zu sehen waren, nicht einmal mit viel Fantasie. Es juckte ihn mächtig in den Fingern, aber dennoch ließ er Molina zuerst die Erlaubnis der Marscontrol einholen. So viel Zeit musste sein.
Maier signalisierte nach kurzer Rücksprache mit seinen Kollegen grünes Licht, aber nicht ohne eine Reihe von Mahnungen zur Vorsicht auszustoßen. LaSalle sollte die Tafel bedienen und Molina den Effekt filmen. Nach fünf Minuten Wartezeit waren Thomas Maiers Fingernägel allesamt bis zum Anschlag herunter gekaut. Dann plötzlich tat sich was im Inneren – ein heller, vielfarbiger Lichtschein fiel durch das Portal nach draußen.
»Oh mein Gott«, hauchte Wendler, der eigentlich alles andere als religiös war. »Die früheren Bewohner dieses Planeten müssen menschenähnlich gewesen sein, etwas anderes wäre kaum vorstellbar!«
Als LaSalle den ersten Hebel umlegte, erklang leises Summen wie von Elektrizität. Beim zweiten rumpelte etwas unter dem Fußboden, wobei er dieses Geräusch nicht einzuordnen vermochte. Dann berührte er mutig das erste Touchpad, zunächst ganz behutsam mit einem Finger seines gepolsterten Handschuhs.
Der Effekt ließ die beiden Astronauten vor Schreck zusammenzucken. Ein lautes Zischen ertönte, dann wirbelte der feine Staub in dünnen Fontänen vom Boden hoch. »Das ist eine verdammte Klimaanlage! Siehst du das? Es kommt Luft aus den kleinen Düsen im Boden. Ich wette, man kann irgendwo auch die Temperatur anpassen! Also, dass die Anlage noch funktioniert … Hut ab vor dieser Ingenieursleistung«, staunte Molina und filmte die Staubfontänen vor seiner Nase. Er vergaß vor lauter Aufregung glatt, hinaus zu gehen und seinen Bericht abzuliefern.
»Und jetzt den letzten Hebel!«
Indirekte Beleuchtung flammte auf, erhellte die Halle bis in den hintersten Winkel. Das Licht strahlte vom Boden ab. Anstatt opaker Fliesen hatte die fremde Zivilisation semitransparentes, glänzendes Material verbaut. Es wirkte fast wie farbiges Plexiglas. An der quadratischen Stelle, wo LaSalle den Boden blank gefegt hatte, war das deutlich zu erkennen.
Nun probierte der Missionsleiter die Touchpads aus. Langsam glitt sein Zeigefinger über die glänzende Fläche des ersten. Wie zu erwarten gewesen war, ließ sich mit den Pads die Feineinstellung der Anlage regeln. Eines war für die Helligkeit des Lichts zuständig, ein anderes für die Farbe. Zu LaSalles Begeisterung konnte man damit regelrecht spielen, die schönsten Farbtöne und Stimmungen erzeugen.
Auf einem dritten Touchpad war es möglich, jegliche Region der Halle durch Berührung auszuwählen und sie unterschiedlich einzufärben. Glänzende Spiegelplatten an der unregelmäßig strukturierten, etwa acht Meter hohen Decke brachen das Licht, warfen brillante Reflexe in den Raum zurück. Diese in den Fels geschnittene Halle war für eindrucksvolle Inszenierungen aller Art wie geschaffen. Wie viele Menschen mochte sie fassen? Fünfhunderttausend?
»Mit diesen beiden kann man bestimmt Lufttemperatur und die Stärke des Luftstroms anpassen. Und wofür sind diese vier größeren Pads hier unten wohl zuständig?«, schnarrte Molinas Stimme durch LaSalles Helm, riss ihn unsanft aus seinen Betrachtungen.
»Ich habe da so einen Verdacht. Die sehen genauso aus wie dasjenige am Eingang zur Lavaröhre. Vier Stück – also wird man damit wahrscheinlich die Portale von innen öffnen und schließen können. Ich lasse es jedoch lieber bleiben, denn eines davon ist ja beschädigt. Wir dürfen den Schaden nicht noch vergrößern.«
Während Molina die Kollegen der Bodenstation endlich aus ihrer angespannten Wartestellung erlöste, prüfte LaSalle in der Halle abschließend noch die Luftqualität.
»Das gibt es doch nicht«, flüsterte er ungläubig. »Dieses Ding sondert ganz normale irdische Atemluft ab! Wäre eines der Portale nicht kaputt und der Raum hermetisch abgeschlossen, könnte man hier drin problemlos ohne Helm atmen.«
*
Auf der Erde überschlugen sich die Theorien, Spekulationen sowie pure Freude über die Entdeckung der CydoniaHalle, wie man den Wahnsinnsfund mittlerweile getauft hatte. Während sich die Astronauten im Rover auf dem Rückweg zum Marsfly befanden, diskutierte sich die Belegschaft von Marscontrol die Köpfe heiß.
»Ich werde Wochen benötigen, bis ich das Gesehene glauben kann«, mutmaßte Wendler kopfschüttelnd. Die umstehenden Kollegen nickten ausnahmslos. »Wenn die Welt das zu sehen bekommt, werden die Verschwörungstheoretiker wieder behaupten, wir hätten alles nur inszeniert. Es ist ja auch schier unglaublich! Aber wo nimmt dieser Megakomplex eigentlich die Unmengen an Energie her, und weshalb funktioniert das System heute noch einwandfrei?«
»Ersteres kann ich zumindest theoretisch beantworten«, ließ sich ein Mitarbeiter namens Sirko Bobeček vernehmen. »Das Power Plant ganz in der Nähe ist noch funktionsfähig, jede Wette. Was dermaßen viel radioaktive Strahlung absondert, könnte auch in Betrieb sein.«
»Ach ja, du Schlaumeier? Dann müsste aber regelmäßig eine Schar Aliens hier aufkreuzen, um die Brennstäbe zu wechseln«, echauffierte sich Wendler und verschränkte die Arme. Er hasste unqualifizierte Kommentare.
»Nicht zwangsläufig«, mischte sich Maier ein. »Ihr habt doch in den letzten Tagen einen Vorgeschmack bekommen, wie weit die Technik dieser Spezies fortgeschritten ist. Ich denke, wir haben es hier mit einem Atomkraftwerk zu tun. Nur dass es die verbrauchten Brennstäbe womöglich vollautomatisch recycelt und wieder in Betrieb nimmt, insgesamt viel sparsamer arbeitet. Was weiß ich? Vielleicht ist dies auch auf der Erde die Zukunft. Anstatt der ewig währenden Endlagersuche zu frönen, könnte man den Atommüll einfach aufbereiten und wiederverwerten.«
»Himmel, das will ich doch nicht hoffen!«, warf Campbell ein. »Das würde ja bedeuten, dass auf der Erde niemand mehr aus der gefährlichen Atomkraft aussteigen möchte. Ihr seht ja, selbst hier hat es ein Strahlungsleck gegeben, wenn auch erst nach ungleich längerer Betriebsdauer.
Seid ihr euch überhaupt bewusst, welch hohe Verantwortung wir tragen? Ich darf hiermit nochmals an eure Verschwiegenheitserklärung erinnern. Nichts darf nach draußen dringen – es sei denn, über unsere Pressestelle! Und da werden wir klug zu selektieren wissen.«
Gegen Abend erzählte Thomas Maier seiner Lebensgefährtin Sheila mit leuchtenden Augen, was sie verpasst hatte. Die wollte ihren Ohren kaum trauen. »Dann hat die Sonde damals also doch ein Marsgesicht entdeckt«, sinnierte sie. »Es ist nur durch stetige Erosion ein wenig unkenntlich geworden.«
»Und wieso sollte die fremde Zivilisation sich die viele Arbeit machen und erst eine monströse Halle aus dem Fels schneiden, um sich oben drüber dann auch noch bildhauerisch zu betätigen? In diesen Dimensionen?«
Sheila grinste breit. »Männer! Null Fantasie, echt! Darf ich dich freundlich an Mount Rushmore erinnern? Einen praktischen Nutzen hat auch diese Formation nicht. Hier geht es um monumentale Symbole für die Ewigkeit. Außerdem könnte es im Fall des Marsgesichts möglich sein, dass es sich zur Zeit der Besiedlung des Planeten um eine Landemarke gehandelt hat. So erkennt man aus der Luft schon von weitem, wo die Halle liegt.«
»Touché«, brummte Maier.
Tiberia, KINZeit: 13.5.15.15.4, Mittwoch
Auf dem Refugium der Untersektion Raumfahrt herrschte hektische Betriebsamkeit. Mehrere Arbeiter suchten auf dem Gelände und in den Frachtlisten der vor eini gen Tagen gestarteten Deep Red Planet nach einem blauen UniblockBehälter, den die Untersektion Transport als fehlend gemeldet hatte. Wieder und wieder überprüften die Männer die Kennnummern der Faltbehälter, doch das Ergebnis war stets dasselbe: das Ding fehlte schlicht und einfach! Ein absolutes Novum für diese bestens durchorganisierte Gesellschaft.
Was überdies noch fehlte, war ein Mensch. Der Wissenschaftler Solaras war nach dem KIN 13.5.15.14.19 nicht mehr an seinem Arbeitsplatz erschienen. Man hatte selbstverständlich auch in seiner privaten Behausung nach ihm gefahndet, doch die Nachbarn wussten ebenfalls von nichts. Er schien spurlos verschwunden zu sein, ebenso wie die Dozentin Kalmes. Die Frau wurde von den Verantwortlichen der Sektion Ideologie und Bildung ebenfalls verzweifelt gesucht. Und nicht nur von denen
– ein gewisser Mediziner Gabriel war außer sich vor Sorge, seit er von ihrem Verschwinden wusste.
Zwei KIN später entdeckte eine junge Assistentin mehrere eingetrocknete Blutstropfen auf dem Boden vor dem Gelände der Untersektion Transport, auf dem die Uniblocks stapelweise aufbewahrt wurden. Einer Eingebung folgend, entnahm sie eine Probe und jagte diese durch ein GenalytGerät. Der Abgleich mit der Datenbank, in der sämtliche Bewohner Tiberias abgespeichert waren, ergab eine hundertprozentige Übereinstimmung mit dem einzigartigen Genprofil einer gewissen Kalmes, ihres Zeichens Dozentin bei Ideologie und Bildung. Und genau die war seit Tagen als vermisst gemeldet.
Die Informationsfäden liefen schließlich bei Regentin Alanna zusammen, die sofort zutreffend vermutete, dass sich die bei Aden Verschwundenen mit der Deep Red Planet zum Mars abgesetzt haben könnten. Eine Rückfrage bei der Marsbasis erbrachte Gewissheit – dort fehlte einer der Raumgleiter. Somit stand für Alanna felsenfest, dass zwei ungehorsame Tiberianer neuerdings auf Terra ihr Dasein fristeten.
»Ach, sollen sie doch in diesem Elend dort jämmerlich verrecken!«, knurrte sie missmutig. »Aber wer weiß? Vielleicht können sie eines Tages für mich noch von Nutzen sein.«
Terra, 01. Dezember 2016 nach Christus, Donnerstag
Im Gegensatz zu Kalmes fand Solaras nicht genügend Ruhe, um wegdämmern zu können. Wie spät mochte es sein? Längst war die Sonne untergegangen, und die Lichter der Strandpromenade spiegelten sich im Wasser. Von der Innenstadt schimmerte farbiges Licht durch Lücken in der Häuserzeile, das sich auf den Wellen spiegelte. Doch anstatt sich allmählich zu leeren, schien der Strand immer voller zu werden. Flanierende Paare, ausgelassene Jugendliche und Leute, die ihre Hunde ausführten, gaben sich ein Stelldichein. Wieso hielten die sich nachts nicht in der Geborgenheit ihrer Häuser auf?
Waren die etwa alle obdachlos, so wie sie?
Wenige Meter entfernt ließ sich ein Junge nieder. Er mochte etwa sechzehn bis achtzehn Jahre alt sein. In seinen Händen hielt er eine viereckige Glasflasche, die er immer wieder an die Lippen setzte. Ab und zu schielte er neugierig herüber. Nach einer Viertelstunde fasste Solaras sich ein Herz, legte behutsam Kalmes‘ schlafenden Körper im Sand ab und schlenderte zu ihm hinüber. Junge Leute wissen in allen Zeitaltern am besten Bescheid, was in einer Stadt so abläuft.
»Guten Abend. Wie geht es dir, ist alles in Ordnung?«
»Spar dir die Ansage. Kommst du von meinen Alten, oder was? Nichts ist in Ordnung! Meine Freundin hat mich wegen eines Anderen verlassen, okay?«, blaffte er unfreundlich und wendete seinen starren Blick wieder in Richtung Wasser.
»Das tut mir sehr leid für dich. Hättest du einen Moment Zeit für mich? Ich würde dir gerne einige Fragen stellen.«
Der Junge verdrehte die Augen. »Also bist du ein Bulle oder einer der Typen vom Ordnungsamt, ja? Ich weiß selber, dass Feiern am Strand verboten ist. Hatten wir alles schon. Ich will einfach nur in Ruhe hier sitzen, etwas Beruhigendes trinken und meinen düsteren Gedanken nachhängen, werde also weder ein Lagerfeuer anzünden noch den Strand zumüllen. Die Pulle nehme ich nachher wieder mit. War es das?«
Solaras dachte kurz nach. »Nein, ich bin kein … Bulle … oder was auch immer du damit meinst. Einfach nur ein verunsicherter Mann, der sich in deiner Stadt nicht auskennt. Könntest du mir also behilflich sein?«
Der Jugendliche mit der Strubbelfrisur grinste breit. »Ah, sag das doch gleich, du willst Drogen kaufen! Ich hab aber nichts dabei, also vergiss es.«
»Drogen? Was hat hier nur jeder immerzu mit Drogen? Ich sagte doch, ich brauche nur Auskünfte. Sonst nichts«, rief Solaras entrüstet. Er hätte etwas drum gegeben, hätte er einschätzen können, was mit diesen Drogen gemeint war. Ein paar Meter weiter räkelte sich Kalmes stöhnend im Sand, drehte sich um und schlief weiter. Die Glückliche.
Für ein paar Minuten herrschte Funkstille. Man hörte nur noch das Rauschen der Wellen. Aus der Ferne trug der Wind Lachen und Straßengeräusche herüber. Der Gepäckträger eines passierenden Fahrrades klapperte.
»Na gut! Also, was willst du wissen? Die angesagten Clubs habe ich alle durchprobiert«, brüstete sich der Junge.
»Nein danke, was immer so ein Club bietet! Es ist einfach so, dass ich lange Zeit außerhalb dieser Zivilisation verbracht habe. Ich kenne mich im Stadtleben nicht mehr aus. Also müsstest du mir bitte ein paar grundlegende Dinge erklären. Wie ich an eine Wohnung und an Arbeit komme, wie der normale Alltag hier abläuft, wie man sich richtig kleidet und so weiter. Meine Freundin da drüben und ich sind sonst vollkommen aufgeschmissen.«
»Die ist deine Freundin? Ich hätte sie eher für deine Mutter gehalten. Sie hat doch bestimmt zwanzig Jährchen mehr auf dem Buckel als du. Na, soll jeder halten wie er denkt. Ich bin übrigens Aaron«, grinste er.
»Freut mich. Solaras, ich stamme aus Nazareth. Und meine Begleiterin heißt Kalmes.«
»Und wo habt ihr bis jetzt gelebt, wenn ihr noch nicht einmal eine Wohnung habt? Auf dem Mond?«, scherzte Aaron.
»Fast richtig. Aber dazu möchte ich lieber keine genaueren Angaben liefern, es tut ohnehin nichts zur Sache. Also, hilfst du uns nun oder nicht?«
»Verstehe … ihr habt euch anscheinend in einer abgelegenen Gegend versteckt gehalten. Na schön, ich stelle keine neugierigen Fragen. Darüber will ich ohnehin lieber keine Details wissen. Aber wenn es so ist, bin ich der falsche Ansprechpartner. Ich habe allerdings einen Kumpel, der eine Zeit lang auf der Straße gelebt und in seinem jungen Leben auch sonst so einiges durchgemacht hat. Habt ihr überhaupt gültige Papiere?«
»Wir besitzen nur das, was wir auf den Körpern tragen.«
›Und ein paar tiberianische Gewänder sowie einen Holographen, der noch im geklauten Raumgleiter liegt‹, dachte Solaras insgeheim.
»Himmel … ja, dann braucht ihr unbedingt Levis Hilfe. Ich kann ihn bitten, morgen Abend mit hierher zu kommen, wenn ihr wollt. Ihr dürft euch nur nicht gleich erschrecken. Er sieht ein wenig … unkonventionell aus.«
»Kein Problem«, beeilte sich Solaras zu beteuern.
*
Am folgenden Nachmittag saßen Solaras und Kalmes schon gegen 15 Uhr am Strand, um Levi nur ja nicht zu verpassen. Was hätten sie auch sonst unternehmen sollen? Die Häuserschluchten erzeugten bei ihnen immer noch Furcht, das Geld war aufgebraucht und die eingekauften Lebensmittel vollständig verzehrt.
»Was machen wir, wenn dieser Levi nicht auftaucht?«, jammerte Kalmes voller Sorge. Ihrem verletzten Bein ging es mittlerweile noch schlechter. Sie rieb sich mit verzerrtem Gesicht die deutlich sichtbare Schwellung am Unterschenkel.
»Hab Vertrauen«, flüsterte Solaras zärtlich.
Sie schmiegte sich rücklings in seine Arme, lauschte den Geräuschen der quirligen Stadt und sah ein paar Kindern beim Ballspiel zu. Zäh zogen sich die Stunden hin, bis endlich die Sonne hinter den Hochhäusern versank.
Kurz darauf kamen sie. Aaron trug einen Beutel mit sich, während Levi etwas auf seinem Kopf zu balancieren schien. Erst beim Näherkommen gewahrte Solaras, dass es sich bei dem Kopfputz lediglich um eine seltsam geformte, kunterbunte Kappe und eine reichlich verfilzte Haartracht handelte. Nach einer kurzen Begrüßung mit Vorstellungsrunde sagte er mitleidig: »Du hättest dein Haar besser täglich durchkämmen und regelmäßig waschen sollen. Sieh, ich trage meines auch lang, es ist aber glatt und sieht nicht so stumpf aus.«
»Levi blickte seinen Kumpel fragend an, schüttelte den Kopf und grinste dann breit. »Jetzt behaupte bloß, du hast noch nie im Leben Rastalocken gesehen? Mann, du musst echt in einem Erdloch gehaust haben!«
»Hunger?«, fragte Aaron und langte in seine Jutetasche. »Ich habe zu Hause den Kühlschrank geplündert und ein Abendessen mitgebracht. Keine Ahnung, ob ihr Wert darauf legt, aber die Wurst ist koscher. Meine Mutter achtet beim Einkaufen peinlich genau darauf.«
Koscher oder nicht, Solaras und Kalmes stürzten sich mit Begeisterung darauf und verputzten die leckeren Sandwichs in Windeseile. Levi drehte sich derweil eine krumme Zigarette, die für die beiden Tiberianer penetrant nach einer unbekannten Kräutermischung roch. Genüsslich zog er sie unter seiner Nase durch, sah sich prüfend links und rechts über die Schulter und zückte ein Feuerzeug.
»Also, wollen mal sehen, ob ich euch weiterhelfen kann. Es wird schwierig werden. Ihr braucht eine Unterkunft, doch die kriegt ihr nicht ohne Geld. Und Geld wiederum gibt es nicht ohne Arbeit. Welche ihr auch nicht in Aussicht habt. Richtig?«
Die Außerirdischen nickten einhellig.
»So wie euch geht es in den Städten vielen Leuten. Bis vor kurzem habe auch ich auf der Straße gelebt, weil ich … sagen wir mal, einen Knick in meiner Biografie gehabt hatte. Momentan schufte ich auf dem Bau, bewohne ein kleines Zimmer zur Untermiete. Was kannst du denn, hast du einen Beruf gelernt, bevor du auf Tauchstation gegangen bist?«