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Seinem Vorarbeiter war nicht nur deswegen der Geduldsfaden gerissen. Angeblich hatte Solaras seinen Pass verloren und neu beantragt. Seit Wochen hätte er diesen der Personalabteilung nachreichen sollen, was nie geschehen war.
So endete die Jobsuche quasi auf der Straße. Solaras war dafür zuständig, zusammen mit zwei anderen Arbeitern im Auftrag der Stadtverwaltung Mülleimer in Parks und Einkaufsstraßen zu leeren. Kalmes fand eine Stelle als Putzhilfe in einer wohlhabenden Familie, wo sie zu ihrem Leidwesen arrogant von oben herab behandelt und unentgeltlich zu Überstunden gezwungen wurde.
Da Levi zwei Drittel der Billiglöhne einforderte, reichte das Geld den Tiberianern nur für das Nötigste. Sie mieteten sich ein Zimmer mit Waschgelegenheit in einer heruntergekommenen Straße nahe der Zentralen Busstation, über die sie Tel Aviv vor einigen Wochen zuerst betreten hatten. Das Gebäude in Nave Sha’anan sah schon von außen alles andere als einladend aus, lag neben einer stark befahrenen Straße. Aber es bot zumindest ein Dach über dem Kopf sowie relativen Schutz, und das war es, was zählte. Man musste nur aufpassen, wer einem im Treppenhaus begegnete und die auf Putz liegenden Elektroinstallationen mit Vorsicht genießen.
Heute sollte Solaras nach Ende seiner Schicht gegen 18 Uhr seinen und Kalmes‘ Ausweis bei einem Typen namens Yasin abholen. Levi hatte ihm den Zettel mit der Adresse in die Hand gedrückt und dazu ein rund zwanzig mal zwanzig Zentimeter messendes Päckchen, das verdächtig nach jener Kräutermischung roch, die der Junge inhalierte. Inzwischen wusste Solaras, dass es sich hierbei um die vielzitierten Drogen handeln musste, denn Levi wurde nach dem Rauchen meist seltsam träge und interesselos.
»Du kommst keinesfalls mit«, verfügte Solaras, als Kalmes sich ihm unbedingt anschließen wollte. Er zeigte auf den Zettel.
»Das muss in den Slums sein, von denen die Dame in der Kirche gesprochen hat. Du weißt schon, wo die Drogenabhängigen in einem provisorischen Lager hausen.«
»Aber vier Augen sehen mehr als zwei«, beharrte die Tiberianerin mit ihrem durchdringenden Blick, den Solaras nur allzu gut kannte. Wenn sie so dreinsah, war jeder Widerspruch von vornherein zwecklos.
Er seufzte ergeben. »Ich möchte doch nur nicht riskieren, dass dir etwas passiert.«
»Und ich will keinesfalls tatenlos im Zimmer herum sitzen und ängstlich abwarten, ob du in einem Stück wiederkommst. Nein, mein Lieber. Wir gehen da gemeinsam durch.« Damit war die Sache entschieden.
Sie fuhren mit dem Bus zur ArlozorovStation und fragten Passanten nach den Slums. Die meisten eilten vorbei, ohne auf die Frage zu reagieren. Eine junge Frau wies den Weg, taxierte aber Kalmes und Solaras von oben bis unten. Vermutlich hielt sie die beiden dürren Gestalten aufgrund ihrer billig aussehenden Kleider für Bewohner, die aufgrund akuten Drogenoder Alkoholkonsums nicht mehr nach Hause fanden.
Schließlich standen sie vor einer Ansammlung von wahllos aus Plastikelementen, Wellblech und Holzlatten zusammenge schusterten Hütten, um die herum Müllberge zum Himmel stanken. Dreckige Kinder lärmten, Hunde und Katzen streunten auf der Suche nach Futter um die illegal erbaute Behelfssiedlung. Solaras schauderte.
»Willst du nicht doch hier auf mich warten? Ich gehe schnell hinein, hole die Pässe und bin gleich wieder da.«
»Keine Chance. Zeig mal die Skizze«, sagte Kalmes ungerührt und nahm Solaras mit einem verbindlichen Lächeln den Zettel aus der Hand. »Wir müssen uns links halten und nach einer großen Hütte sehen. Dort geht es nach rechts und nach … eins, zwei, drei … weiteren Hütten sind wir am Ziel.«
Das klang relativ einfach, doch in dem kunterbunten Tohuwabohu entpuppte sich die Orientierung als schwierig. Man konnte kaum erkennen, wo die eine Behausung aufhörte und die nächste anfing. Sie ernteten argwöhnische, ängstliche und hasserfüllte Blicke. Der Weg durch die Hüttenstadt kam einem Spießrutenlauf gleich. Man musste überdies ständig aufpassen, wohin man trat. Der Boden starrte vor Glasscherben, scharfkantigen Metallteilen und benutzten Spritzen. Ein Halbwüchsiger mit fettigem Haar übte sich nur ein paar Meter entfernt im Messerwurf.
Endlich erreichten sie aufatmend den Verschlag mit dem Sternsymbol über der provisorischen Tür, der auf der Skizze als Ziel markiert war.
»Hier drin soll der Fälscher angeblich auf uns warten. Hoffentlich stimmt das auch, denn hier möchte ich kein zweites Mal herkommen. Bleib bitte dicht hinter mir, wir gehen jetzt hinein«, entschied Solaras. Er klopfte gegen die Blechplatte, die das Loch in der Wand verbarg, und schob diese ein Stück zur Seite, so dass sie hindurch schlüpfen konnten.
Stickige Luft schlug ihnen entgegen. Im Halbdunkel der nur spärlich durch Tageslicht, das durch Ritzen fiel, erhellten Hütte saß ein fettleibiger Kerl – oder vielmehr thronte er auf einem schmutzigen weinroten Bodenkissen.
»Ihr seid also die namenlosen Fremden?«, fragte er lauernd. Er besaß eine überraschend hohe Stimme, die irgendwie nicht zu seinem massigen Körper passen wollte.
»Die sind wir«, bestätigte Solaras.
»Habt ihr das Zeug dabei?«
»Selbstverständlich.« Solaras fischte das aromatisch duftende Päckchen aus seiner Jackentasche und legte es vor dem Mann auf den umgedrehten Bierkasten, den er als Tisch benutzte.
Der Fette griff gierig danach, schnupperte kurz daran und legte es auf eine Waage, die in einem wackligen Regal hinter seinem Rücken gestanden hatte.
»Gut, das Gewicht passt. Levi hätte aus alter Freundschaft allerdings ruhig ein Gramm mehr hineintun können, nachdem ich das Risiko mit euch eingegangen bin. Rührt euch nicht von der Stelle! Solltet ihr mich übrigens verpfeifen, würdet ihr ins Gras beißen. Ich hoffe, das ist euch bewusst.«
Ächzend und stöhnend erhob sich der Fleischberg, schlurfte an die rückwärtige Wand des Verschlags, wo sich quietschend eine Tür öffnete. Helles Licht fiel heraus und man sah Geräte auf langen Tischen stehen. Kalmes reckte den Hals, sah Solaras fragend an, doch der zuckte nur mit den Schultern.
»Erstaunlich, was sich in dieser verdreckten Siedlung so alles verbirgt. Vielleicht ist das da hinten die eigentliche Fälscherwerkstatt?«, raunte sie ihm zu.
»Schon möglich. Still, er kommt zurück!«
Der Unbekannte schloss die Tür, schob mühevoll das Regal davor. Er reichte den Tiberianern zwei nagelneue Pässe über den staubigen Bierkasten.
»Die sind glatt noch viel schöner als echte«, brüstete er sich.
»Nein, im Ernst, unsere Pässe sind von offiziell ausgestellten Papieren absolut nicht zu unterscheiden. Mein Kompagnon kommt über Beziehungen an die OriginalBestandteile. Es lebe die Korruption im Öffentlichen Dienst!«
»Gut zu wissen«, sagte Kalmes verbindlich. »Aber verraten Sie mir eines: Sie verdienen damit doch sicher ziemlich gut. Wieso hausen Sie dann in diesem Dreckloch?«
Der Mann quiekte vor Vergnügen. In diesem Moment erinnerte er mehr denn je an ein fettes Schwein.
»Ich, hier wohnen? Aber nicht doch! Das ist nur der äußere Rahmen für meine Geschäfte. Ihr wärt erstaunt, wenn ihr meinen tatsächlichen Wohnsitz sehen würdet. Nun hört gefälligst auf, mich auszufragen, bevor ich misstrauisch werde und euch einen Kopf kürzer machen lasse«, fügte er mit überheblicher Miene hinzu.
Kalmes und Solaras zogen es vor zu verschwinden. Sie existierten auf Terra nun offiziell als das israelische Ehepaar Joshua und Maria Goldberg, wohnhaft in Tel Aviv, und dieses Gefühl war einfach unbeschreiblich. Keine faulen Ausreden, kein Vertrösten waren künftig mehr notwendig, nicht bei Arbeitgebern und nicht bei möglichen Polizeikontrollen. Die frischgebackenen Goldbergs trugen ihre Pässe wie einen Schatz nach Hause.
Mars, 02. September 2023 nach Christus, Samstag
Das MarsformingProjekt der tiberianischen Siedler ging nun schon ins achte Jahr. Die bestens getarnten, pyramidenförmigen und komplett mit rötlichen PlantolaanElementen verkleideten AtmosphärenKraftwerke funktionierten einwandfrei. Ein paar TUN beziehungsweise Jahre noch, dann würde man auf dem Mars wieder ohne Hilfsmittel atmen können.
In der Gegend rund um die Kraftwerksanlage bildeten sich sogar bereits Wolken am rötlichen Himmel, die für erste Regenfälle sorgten. Erst in der vergangenen Woche waren dort Samen diverser Nutzpflanzenarten in den staubigen Boden gesetzt worden. Man hatte das Saatgut im Vorfeld auf Tiberia extra widerstandsfähig gezüchtet. Vielleicht gelänge es ja in Kürze, Nahrung anzubauen. Dies wäre zweifellos ein riesengroßer Schritt in Richtung Reaktivierung, der es ermöglichen würde, noch mehr Menschen und Material auf den Mars zu transferieren.
Inzwischen war im ChryseBecken eine richtige kleine Stadt aus ultraleichten, miteinander verbundenen und fest im Boden verankerten Habitatmodulen entstanden. Sie boten jedem der einhundertachtunddreißig Missionsteilnehmer ein komfortables, wenn auch sehr beengtes Heim auf Zeit.
Der monströse Raumfrachter Deep Red Planet schaffte, auf Regentin und Missionsleiterin Alannas Geheiß, unermüdlich neues Baumaterial heran. Die handverlesenen Arbeiter der MarsformingMission wurden jeweils nach sechs UINAL harten Dienstes ausgetauscht, damit sie in der rauen, unwirtlichen Umgebung nicht erkrankten.
Und jetzt bekamen sie zum ersten Mal ungebetenen Besuch. Die tiberianischen Wissenschaftler empfanden es als ärgerlich, dass die neugierigen Eindringlinge von Terra ausgerechnet in der CydoniaRegion herumschnüffelten. Wäre das nicht der Fall gewesen, so hätten sie das kleine Strahlungsleck im Reaktor beheben und ihre wabenförmig aufgebaute Siedlung rund um die alte Halle der Regenten aufschlagen können. Es galt als ziemlich sicher, dass sämtliche Installationen nach all der Zeit noch intakt sein müssten. Die meterdicken Felswände schirmten das innen liegende Bauwerk zuverlässig gegen klimatische Einflüsse ab.
Mit Argusaugen wurde jeder Schritt der Terraner beobachtet. Keinesfalls durften sie bemerken, dass der Rote Planet im Begriff stand, wieder von Menschen besiedelt zu werden. Sie hätten sonst unter Garantie eigene Besitzansprüche angemeldet, und wenn es nur zum Abbau von Bodenschätzen gewesen wäre.
Es reichte Regentengattin Alanna vollauf, dass die mutmaßlich sechsköpfige Missionscrew von Terra nach dem Verlassen der Landekapsel unverzüglich eine leuchtend blaue Fahne mit im Kreis angeordneten Sternen in den Boden gerammt hatte, so als könne man wegen dieser lächerlichen Geste den gesamten Planeten für sich beanspruchen. Die Ablösung hatte die Aufzeichnung mit der Deep Red Planet durch den Zeittunnel zu ihr ins Tiberia des 22. Jahrhunderts transportiert.
›Typisch! Genau wie auf Terra … wo immer diese raffgierigen Heuschrecken auftauchen, reißen sie sich alles unter den Nagel‹, dachte sie wütend.
Der Mars war ihre Stammheimat, verdammt noch mal, nicht diejenige dieser degenerierten, kriegerischen Affen. Am liebsten hätte sie die AuroraMissionsteilnehmer töten lassen und damit die Rückkehr der Raumkapsel nach Terra verhindert. Doch was wäre die Folge davon gewesen? Eine weitere Mission, noch mehr wissbegierige Terraner … so wartete sie zähneknirschend ab und schmiedete finstere Pläne.
Terra/Mars, 12. September 2023 nach Christus, Dienstag
Die sechs Astronauten der ESAAuroraMission verließen den Mars mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Natürlich, sie hatten großartige Entde
ckungen gemacht, die ihnen auf der Erde Ruhm und Ehre auf Lebenszeit bescheren würden. Aber es hätte eben noch so viel mehr zu erforschen gegeben. Sie hatten lediglich an der toten Oberfläche eines faszinierenden Himmelskörpers gekratzt.
Nach dem Fund der großen Versammlungshalle waren sie unter dem Sand auf einige erheblich kleinere, fast vollständig verfallene Bauwerke in der weiteren Umgebung gestoßen, die sie jedoch wegen des nahen Strahlungslecks nicht näher untersuchen konnten. Es wäre auch zwecklos gewesen, denn außer den Grundmauern gab es dort offenbar nichts mehr zu sehen.
Thomas Maier war untröstlich. Seine Träume, eine unterirdische Stadt in den Lavaröhren zu finden, hatten sich nicht erfüllt. Das Areal um den Olympus Mons war einfach viel zu weitläufig. Die Wahrscheinlichkeit, zufällig auf den Eingang zu einer weiteren Lavaröhre zu stoßen, entsprach in etwa der eines Lottosechsers. Der oxidrote Sand lagerte sich in Dünen überall ab, verbarg alles unter seinem Mantel.
»Mach dir nichts draus«, beruhigte ihn Sheila. »Wir hatten unseren Triumph. Spätestens 2038 sind die Russen und Amerikaner so weit, dass sie die erste bemannte Mission losschicken können. Beide Nationen arbeiten mit Hochdruck daran. Und die werden finanziell erheblich besser ausgestattet sein, können da oben also mehr bewegen. Wirst sehen, die finden deine unterirdische Stadt.«
Maier brummte unwirsch in seinen Bart. »Ja, kann sein – und fahren dafür die Lorbeeren ein!«
»Na und? Wir waren die Ersten auf dem Mars, jedenfalls nach dieser geheimnisvollen Zivilisation. Das kann uns niemand mehr nehmen«, meinte Sheila pragmatisch. »Und jetzt sollten wir uns besser mit vereinten Kräften darauf konzentrieren, dass unsere Jungs heil nach Hause finden.«
Während dieses Gespräch noch in vollem Gange war, setzte sich auf dem Mars bereits ein Trupp tiberianischer Arbeiter in Bewegung, um die Flagge der Europäischen Union zu beseitigen und zu zerstören.
Die gefeierte Crew der AuroraMarsmission sollte die Erde indes niemals wiedersehen. Ein kleines, scharfkantiges Stück Weltraumschrott beschädigte die Hitzeschilde der Raumkapsel schwer. Sie verglühte deswegen beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre mitsamt ihren Insassen.
Die wertvollen Artefakte vom Mars gingen damit unwiederbringlich verloren.
Terra, 23. August 2017 nach Christus, Mittwoch
Nach mehr als acht Monaten der absoluten Sparsamkeit hatten die Tiberianer ihre Schulden bei Levi endlich los. Sie hatten sich ein Dreivierteljahr fast ausschließlich von trockenem Brot, Zitrusfrüchten und Wasser ernährt, in ihrem bescheidenen Zimmer nur marginal Strom verbraucht. Neben monatlichen Raten hatte der äußerst geschäftstüchtige junge Israeli noch so manchen Gefallen eingefordert. Meist hatten die Tiberianer kleine Päckchen von A nach B transportieren und bei zwielichtigen Gestalten abgeben müssen. Was sich Geheimnisvolles darin befunden hatte, wollte Solaras lieber gar nicht erst wissen.
Dafür war ihnen Aarons altes Notebook leihweise zur Verfügung gestellt worden. Es reichte aus, um das Internet nach Details über Deutschland und seine Flüchtlingspolitik, über die Küstenregion Libyens, Griechenland und die Balkanroute zu durchforsten. Denn dies war der Weg, auf dem sie semilegal nach Nordeuropa zu reisen gedachten. Solaras wollte eine Bootsfahrt über das Mittelmeer zur Insel Kreta riskieren. Zu groß dünkte ihm die Gefahr, dass die Türkei sie an der Grenze zurückweisen könnte. Sie benötigten zwingend europäische Registrierungspapiere.
Es war ratsam, etwas Arabisch zu lernen und sich genauestens über die vom Islamischen Möchtegernstaat kontrollierten Gebiete und ihre kulturellen Besonderheiten zu informieren. Levi hatte Solaras vorgewarnt, dass er den skeptischen Deutschen eine glaubhafte Geschichte auftischen müsse, um als Kriegsflüchtling anerkannt zu werden. Kalmes solle bei der Ankunft in Griechenland besser ein Kopftuch tragen und sich devoter als sonst verhalten, hatte Aaron gemeint. Außerdem müsse man sich klangvolle arabische Namen ausdenken und die lückenlose Geschichte der Flucht aus Syrien ersinnen.
Das bedeutete für die syrischen Flüchtlinge in spe, jeden Tag nach Feierabend zu büffeln und sich gegenseitig abzufragen, auch wenn das wegen der hohen Beanspruchung durch die Knochenjobs manchmal extrem schwer fiel. Inzwischen war dank effektiver tiberianischer Lernmethoden ein veritabler Wissensstand erreicht, der durchaus Anlass zur Hoffnung gab. Noch in der Nacht sollte es losgehen.
»Ich denke, wir dürfen Levi und Aaron keinesfalls Bescheid sagen, bevor wir den Gleiter holen und nach Libyen fliegen, auch wenn das undankbar erscheinen mag. Ich möchte beim Start lieber keine terrestrischen Zeugen dabei haben. Wir sind den beiden keinen Schekel mehr schuldig«, sinnierte Solaras.
Kalmes nickte. »Stimmt. Wer weiß, wen die sonst anschleppen würden. Aber ich hätte noch eine Bitte. Könnten wir einen Abstecher nach Nazareth machen? Ich möchte zu gern wissen, wie es dort heute aussieht. Wir bleiben einen Tag und fliegen in der folgenden Nacht weiter.«
»Geht klar. Es ist auch mein Wunsch, meine alte Wirkungsstätte noch einmal zu besuchen. Und dann bauen wir uns in Deutschland ein neues Leben auf. Hier in Israel hätten wir ja doch keine Chance, jemals wieder in unseren alten Berufen zu arbeiten. Außerdem müssen wir unsere beängstigende Aufzeichnung den richtigen Leuten vorspielen«, lachte Solaras.
Gegen Mitternacht war der Raumgleiter von Tarnnetz und Erdreich befreit. Außer einer Garnitur Kleidung zum Wechseln, etwas Proviant und Wasser konnte das Paar nichts mitnehmen. Kalmes und Solaras hatten ja wieder mit dem Bus nach Jad Mordechai fahren und die Sachen bis zum Gleiter tragen müssen. Ein Schlauchboot mit Außenbordmotor wollten sie sich erst in der libyschen Küstenstadt Darna besorgen, unmittelbar vor der Überfahrt.
Die Impulstriebwerke fuhren sirrend hoch. Nahezu lautlos schwebte der Gleiter über das Jordanland hinweg, bis der See Genezareth in Sicht kam. Tausende Lichter spiegelten sich auf dem Wasser.
»Ich gehe davon aus, dass diese Gegend nun auch viel stärker bewohnt ist als früher. Schau nur hin, überall Siedlungen. Wenn du mich fragst, sollten wir besser gleich weiterfliegen, ohne hier zu landen. Würde man den Gleiter entdecken, wäre unsere Reise vorzeitig zu Ende. Die israelischen Pässe könnten nach unserer Enttarnung als Nicht-Terraner auch nichts mehr verbessern«, sagte Solaras betroffen.
Kalmes kämpfte einen Moment mit sich, signalisierte dann jedoch ihr Einverständnis. Es stimmte ja. Rund um Nazareth waren keinerlei größeren Flächen zu sehen, die frei von Bebauung waren und eben genug für einen Landung gewesen wären. Weiter weg aufzusetzen hätte nichts gebracht. Längere Fußmärsche nach Nazareth verboten sich von selbst. Die Flucht nach Europa würde noch anstrengend genug werden.
»Früher lebte man hier angenehmer, hatte mehr Freiraum. Warum machen es sich die Menschen eigentlich heutzutage dermaßen schwer? Hocken frustriert auf engstem Raum aufeinander, ersinnen starre Regelungen und klammern sich ans Geld, überall werden Grenzen hochgezogen … Terra ist nicht mehr das, was es einmal war«, klagte sie wehmütig.
*
Die Strecke nach Libyen war innerhalb von zwanzig Minuten zurückgelegt. Zu Solaras‘ Freude gab es in der Nähe der Küste jede Menge wüste, leere Flächen,
die zur Landung geeignet schienen. So war es hier tatsächlich ein Leichtes, den Gleiter im Wüstensand neben einem Wadi zu verbergen. Er baute das Navigationsgerät samt Energiezelle aus dem Cockpit aus, damit sie sich später auf dem Meer halbwegs nach Himmelsrichtungen orientieren konnten.
Er klemmte sich das Gerät und den Holographen unter den Arm und Kalmes zog sich ein Kopftuch über, dann machten sie sich auf den staubtrockenen Weg nach Darna. Im Taxi ließen sie sich zu einem Basar nahe der Küstenstraße fahren, der bei Ausländern als Vegetable Market bekannt war. Neben Obst und Gemüse gab es dort Waren aller Art, und Solaras hoffte darauf, dass man ihm zumindest eine Adresse nennen würde, wo man Schlauchboote samt Zubehör kaufen könnte. Die hierfür notwendigen Worte in Arabisch hatte sich der einstige Wissenschaftler auf Aarons Computer mithilfe eines Übersetzungsprogramms angeeignet.
Gleich am ersten Stand waren seine Bemühungen von Erfolg gekrönt. Ein vierschrötiger Händler mit blitzenden Augen packte ihn am Ärmel, nahm ihn beiseite.
»Bei mir gibt es die allerbesten Boote, sind ganz sicher, beste Qualität. Und ihr braucht auch Schwimmwesten, nur für alle Fälle.« Er schob einen Vorhang im Hintergrund seines Standes beiseite.
Solaras und Kalmes staunten nicht schlecht. Der Typ schien sich wohl auf Bootsflüchtlinge spezialisiert zu haben, denn an der Wand lehnten Schlauchboote in drei verschiedenen Größen, dazu gab es mehrere Modelle von Außenbordmotoren und einen Stapel billiger Schwimmwesten.
»Das da wäre sehr gut für euch, viel Platz.« Er zeigte auf ein graues Boot, das für etwa vier bis fünf Menschen gedacht sein mochte.
»Kleiner auch gut«, radebrechte Solaras. Ihm wurde klar, dass der Mann das Maximale aus seinen ausländischen Kunden herausholen wollte. Am Ende entschied er sich, der mit Fuchteln und herausgedrehten Augäpfeln hervorgebrachten Verkaufsstrategie des Libyers zum Trotz, für ein Zweimannboot und einen eher schwachen Motor, legte noch zwei Paddel, eine Plastikplane und drei Benzinkanister dazu.
»Was kostet das?«
Der Mann strahlte über beide Ohren. »Ich mache euch einen Sonderpreis. Nur bei mir und nur heute. Alles zusammen für lediglich fünfzigtausend Libysche Dinare.«
Solaras überschlug im Kopf den Wechselkurs, wurde blass.
»So viel besitzen wir nicht.«
Die aufgesetzt freundliche Miene des Händlers versteinerte augenblicklich. »Wie viel hast du denn dabei?«
»Ungefähr sechzehntausend Schekel. Und die müssen auch noch für Wasser und Benzin reichen. Das sind rund vierundvierzigtausend Libysche Dinare.«
Der Libyer kämpfte einen Moment mit sich. Er kannte das Problem. Flüchtlinge besaßen meist nicht viel Geld, da nutzte ihm sein ausgeprägter Geschäftssinn leider nur wenig. Seit die sogenannte Balkanroute dicht war, wurde Libyen von den Flüchtlingen wieder verstärkt als Tor nach Norden benutzt. Entsprechend groß war derzeit die Nachfrage nach Booten, wenn auch meist für die größeren Modelle. Oft waren seine Kunden Schlepper. Er verhandelte für sein Leben gern, erkannte aber auch, wann und wo es keinen Sinn machte.
›Nun gut, besser ein mittelmäßiges Geschäft als gar keines‹, überlegte er. Seine Nachbarn zur Linken und zur Rechten verkauften unter der Hand schließlich auch Boote, da hieß es zuschlagen. Er setzte ein bauernschlaues Grinsen auf.
»Na gut, weil ihr so nette Leute seid. Einundvierzigtausendfünfhundert Dinare. Komm, mein guter Freund, schlag ein oder lass es bleiben. Das ist mein letztes Angebot.« Er streckte Solaras mit einem breiten Lächeln seine rechte Hand hin, auf der schwarze Haare wucherten.
Kalmes nickte fast unmerklich, und Solaras schloss das Geschäft ab. »Wir tauschen in der Stadt das Geld um und besorgen Vorräte. Dann kommen wir zurück, bezahlen und holen die Sachen ab.«
Nun war es also beschlossene Sache. Sie würden die rund zweihundertzwanzig Kilometer Luftlinie bis zur griechischen Insel Kreta mit einem kleinen Schlauchboot zurücklegen. Ein äußerst waghalsiges Unterfangen, obwohl die Wetterlage am Mittelmeer im Spätsommer relativ ruhig war.
»Keine Angst, die Strecke schaffen wir«, sagte Solaras einfühlsam, als er die Tränen in Kalmes‘ Augen bemerkte. »Denk doch daran, was wir zusammen schon durchgemacht haben.
Diese eine Hürde noch, dann dürfen wir endlich in Frieden zusammenleben. In Mitteleuropa werden wir sicher vor Verfolgung sein – und frei.«
»Ich weiß … es sind Freudentränen.«
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Solaras benötigte noch mehrere Stunden, bis das gesamte Equipment an einem einsamen, felsigen Strand in der Nähe des östlichen Stadtrandes von Darna bereit lag.
Das letzte Geld war für ein Taxi draufgegangen, mit dem er die sperrigen Sachen dort hatte anliefern lassen.
Gemeinsam ließen sie bei Sonnenuntergang das Schlauchboot zu Wasser, sorgsam darauf achtend, dass die messerscharfen Felsvorsprünge den Boden nicht aufrissen. Solaras füllte Benzin in den Tank, verlud die restlichen Kanister und ein bisschen Proviant an Bord, während Kalmes den Holographen unter der stabilen Plastikplane verstaute. Diese war zum Zudecken gedacht, wenn es über Nacht kühl wurde, sowie zum Schutz gegen Regen und Spritzwasser.


