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Der Motor sprang gleich beim ersten Versuch an.
›Ein gutes Zeichen‹, dachte Solaras, klemmte sich das Navigationsgerät zwischen die Oberschenkel und steuerte Richtung Nordost. Kalmes machte es sich so bequem wie möglich, blickte auf das türkisblaue Meer hinaus, das in der untergehenden Abendsonne glitzerte. In ein paar Stunden würde sie am Ruder sitzen, sobald Solaras sich ausruhen musste. Aufmerksam betrachtete die Tiberianerin rundum den Himmel. Nein, heute Nacht würde es keine Probleme geben. Nicht ein einziges Wölkchen trieb am Firmament.
Das gleichmäßige Tuckern des Motors lullte beide ein. Kalmes döste. Wie lange würden sie nach Kreta brauchen? So zwei, drei Tage vielleicht? In Gedanken versunken, bemerkte Solaras nicht, dass sich ein Wasserfahrzeug auf das kleine Boot zubewegte. Erst als ein Suchscheinwerfer seine langen Lichtfinger über die ruhige See schickte, schrak er zusammen. Ihm blieb fast das Herz stehen.
Schnell kam das Boot näher. Mehrere Personen standen an Deck, und sie hielten Waffen im Anschlag.
»Stoppen Sie sofort, wir kommen längsseits!«, schnarrte es infernalisch laut durch ein Megafon. Kalmes saß augenblicklich senkrecht im Boot, ihr entfuhr ein Schreckenslaut. Bibbernd schlang sie beide Arme um den Oberkörper. Die Lage war schlecht einzuschätzen.
»Das ist die libysche Küstenwache. Wahrscheinlich befinden wir uns zurzeit noch in den von Libyen kontrollierten Gewässern. Sie haben uns erwischt!«, stieß Solaras aufgeregt hervor. Er tat, wie ihm geheißen worden war, ließ den Motor ersterben und hob die Hände.
Das Patrouillenboot ließ eine Strickleiter von der Backbordseite fallen. Ein Mann winkte, bedeutete Solaras, unverzüglich an Bord zu kommen und seine Papiere mitzubringen. Der vertäute das schaukelnde Schlauchboot an einer Öse, fischte die israelischen Pässe aus dem Beutel und kletterte die Strickleiter hinauf.
Kalmes war indessen zur Untätigkeit verurteilt, geriet in Panik. Sie bekam aus ihrem Blickwinkel lediglich mit, wie ihr Lebensgefährte mit den Männern in Uniform gestikulierend verhandelte. Einer von ihnen lachte dreckig. Ihr war nicht wohl bei der Sache. Was, wenn man sie vom Fleck weg verhaftete und das Boot konfiszierte? Sie hatte keine Ahnung, ob oder unter welchen Bedingungen es erlaubt war, hier draußen in der Gegend herumzufahren.
Eine Viertelstunde später war Solaras zurück. »Wir haben großes Glück! Die sind tatsächlich auf der Suche nach Flüchtlingen, um sie am Abhauen zu hindern. Aber die Küstenwache interessiert sich offenbar nicht für Israelis, die ihr Leben auf dem Meer riskieren wollen.« Er winkte zum Deck hinauf, löste mit zitternden Fingern das Tau und versuchte hektisch, den Motor zu starten. Dieses Mal sprang er erst beim sechsten Ziehen des Anlassers stotternd an, spuckte ein blauschwarzes Rauchwölkchen.
Die erste Nacht und erste Tag der Überfahrt verliefen ruhig. Kalmes wurde ein wenig seekrank, bekam aber die Übelkeit schnell in den Griff. Für diesen Fall hatte Solaras vorsorglich salzhaltige Kekse eingepackt, die den Magen beruhigten.
In der zweiten Nacht war die See rauer. Das Schlauchboot schlingerte unkontrolliert zwischen den von Gischt gekrönten Wellenbergen hin und her; es gelang Solaras kaum, halbwegs den Kurs zu halten. Am Horizont zuckten grelle Blitze, der Wind frischte auf.
»Falls das Unwetter näher kommen und das Meer noch weiter aufwühlen sollte, sehe ich schwarz«, unkte die Tiberianerin ängstlich. Sie und ihr Gefährte zogen sich die Plastikplane eng um die Körper, um nicht patschnass zu werden. Das Schlauchboot drohte mit jeder größeren Welle zu kentern. Einer der Wasserkanister ging über Bord – ausgerechnet der letzte volle.
Nach einer Stunde beruhigte sich das Meer. Der Sturm war glücklicherweise weiter westlich vorübergezogen.
»Oh je … wir sind ein paar Kilometer vom Kurs abgekommen. Hoffentlich reicht uns der Treibstoff«, bemerkte Solaras frustriert nach einem Blick auf das Navigationsgerät.
Er reichte nicht. Etwa zwanzig Kilometer vor der Küstenlinie Kretas begann an Tag Drei ihrer Überfahrt der Außenbordmotor zu stottern, ging schließlich ganz aus. Man vernahm nur noch das eintönige Glucksen der Wellen.
»Und was machen wir nun?«
»Solaras fuhr mit der Zunge über seine rauen, aufgesprungenen Lippen. »Rudern, was sonst? Wir müssen uns dabei abwechseln. Hoffentlich treibt uns die Strömung in die richtige Richtung, sonst wird es haarig.«
Wie zum Hohn lag das Mittelmeer spiegelglatt im strahlenden Sonnenschein. Innerhalb von zwei Stunden bildeten sich brennende Blasen auf Solaras‘ Handflächen, doch er ruderte unverdrossen weiter, stets das Navigationsgerät des Gleiters im Blick behaltend. Die Entfernung zur Insel Kreta schien sich kaum zu verringern.
»Ich habe Durst! Lange halte ich diese Strapazen bestimmt nicht mehr durch. Ich bin schließlich erheblich älter als du«, jammerte Kalmes, nachdem auch sie eine Stunde lang an den Rudern gesessen war. Längst haderte Solaras bitter mit seiner Entscheidung, nicht die Landroute über die türkische Grenze genommen zu haben. Er übernahm die Paddel, fand jedoch kaum mehr die notwendige Kraft, sie zu benutzen. Die Sonne brannte gnadenlos vom Himmel.
Gegen 15 Uhr tauchte am Horizont ein kleiner weißer Punkt auf. Kalmes saß plötzlich kerzengerade im Boot.
»Da, ein Schiff! Wir müssen uns irgendwie bemerkbar machen!«, krächzte sie und wedelte mit den Armen. Doch der weiße Punkt verschwand hinter dem Horizont. Schluchzend sank sie in ihre orangerote Schwimmweste, barg das Gesicht in den Händen. Die Hoffnung schwand. Das Ufer wollte einfach nicht in Sicht kommen. Sie waren noch mehr als zwölf Kilometer vom Strand entfernt.
Als die Sonne in einem spektakulären Farbenspiel am Horizont versank, riss sie die Hoffnung der Tiberianer gleich mit in den Abgrund der Verzweiflung. Mittlerweile hatten beide zu rudern aufgehört, sie konnten vor Erschöpfung einfach nicht mehr. Nebeneinander lagen sie im Schlauchboot und blickten starr in den dunkler werdenden Himmel, während es orientierungslos auf den Wellen dümpelte.
»Ich fühle mich so hilflos. Hättest du geglaubt, dass es auf eine solch jämmerliche Weise mit uns zu Ende geht?«, flüsterte Kalmes und schmiegte ihren Kopf an Solaras‘ Schulter.
»Nein. Ich habe die Gefahr total unterschätzt, das werde ich mir zeitlebens nicht verzeihen können. Wobei dieses zeitlebens wohl nicht mehr sehr lange dauern wird. Ohne Süßwasser sind wir hier draußen verloren.«
Auf einmal vernahmen sie ein brummendes Geräusch, das näher zu kommen schien. Ein Boot der griechischen Küstenwache! Von neuer Kraft durchströmt, winkten Kalmes und Solaras mit den Paddeln, schwenkten dazu die Schwimmwesten. Mit zitternden Fingern setzte Kalmes ihr durchnässtes, salzverkrustetes Kopftuch auf und warf die israelischen Pässe über Bord.
Routiniert nahm die Crew der Limeniko Soma die Flüchtlinge an Bord. Die Helfer kannten den Anblick durchnässter, dehydrierter Menschen nur zu gut. In Wolldecken gehüllt und mit Wasserflaschen versehen, sahen die traumatisierten Außerirdischen überglücklich die hell erleuchtete kretische Küstenlinie auf sich zukommen.
Das Boot steuerte den Badeort Plakias an. Dort wurden sie zu einem älteren Gebäude geleitet, das, der verblichenen Aufschrift nach, früher wohl als Lager für Oliven gedient hatte.
Ein Übersetzer nahte. Jetzt bloß keinen Fehler machen! Solaras kratzte seine arabischen Sprachkenntnisse zusam
men und bestätigte einsilbig, dass sie ursprünglich aus der umkämpften Stadt ArRaqqa in Syrien kämen, die Pässe auf der Bootsfahrt verloren hätten und weiter nach Deutschland zu reisen gedächten. Er gebrauchte das Zauberwort Asyl, wie Levi und das Internet es ihm angeraten hatten. Kalmes richtete ihren Blick zu Boden und sprach keinen Ton. Beide atmeten auf, als sie Nahrung und ein Feldbett zugewiesen bekamen.
*
Nach drei Tagen Aufenthalt in Plakias brachte man die mutmaßlichen Flüchtlinge zum Küstenort Gouves im Nordosten der Insel. Dort hatte die griechische Regierung erst kürzlich einen sogenannten Hotspot zur Registrierung von Bootsflüchtlingen eingerichtet. Von dort ging es mit der Fähre weiter zum Festland, wo Solaras und Kalmes vorläufig in einer Flüchtlingsunterkunft am Hafen von Piräus strandeten. Sie hielten sich vorsichtshalber so gut wie möglich von ihren Leidensgenossen fern, vermieden direkten Kontakt. Solaras sprach nur das Nötigste und ausschließlich, soweit sie von Offiziellen behelligt wurden. Das fiel nicht negativ auf, denn viele der Flüchtlinge waren traumatisiert und wortkarg. Drei Wochen hielten sie in Piräus durch, dann wurde ihnen die Situation zwischen Abfällen, quäkenden Kindern und den vielen fremden Menschen unerträglich. Es gab nachts keinerlei Privatsphäre und auch keine Ruhe, die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal. Infektionskrankheiten machten die Runde.
Solaras hielt gleichwohl Augen und Ohren offen, interessierte sich für das, was in seiner Umgebung vor sich ging. So erfuhr er, dass einige Lagerinsassen sehr konkrete Pläne hegten, mithilfe von Schleppern nach Deutschland weiterzureisen. Allerdings wollten diese Leute für ihre illegale Tätigkeit fürstlich bezahlt werden, und sie besaßen keinerlei Geldmittel mehr. Eine kleine Hoffnung blieb dennoch, und die zielte auf die menschliche Neugierde und Sensationslust ab.
Solaras beobachtete aus sicherem Abstand, wie sich eine fünfköpfige syrische Familie mit zwei ketterauchenden Männern traf. Man diskutierte und gestikulierte wild. Am Ende erfolgte offensichtlich eine verdeckte Geldübergabe, denn die beiden Männer entfernten sich grinsend.
Der Tiberianer atmete tief durch, folgte den zwielichtigen Typen und sprach sie mutig an. »Ich möchte mit meiner Frau so bald wie möglich nach Deutschland. Können Sie mir helfen?«
Einer von ihnen sprach leidlich Arabisch. »Nun, das kommt ganz darauf an. Unsere Leistungen gibt es selbstverständlich nicht umsonst. Zehntausend Euro pro Person, im Voraus und in bar. Dafür werdet ihr aber exklusiv bis hinter die deutsche Grenze befördert. Soll heißen, nicht im überfüllten Laster mit hundert anderen Seelen.«
Solaras schluckte. »Ich … das kann ich mir unmöglich leisten! Es muss eine andere Möglichkeit geben. Ich könnte eine Weile für Sie arbeiten oder Ihnen einen Gegenstand anbieten, den Sie auf der Welt nirgendwo sonst bekommen …!«
»Was? Du machst wohl Witze! Ich will Bares sehen, sonst kannst du in Piräus meinetwegen bis in alle Ewigkeit verrotten! Es wollen noch genügend andere Leute unbedingt nach Deutschland gebracht werden«, knurrte der Kerl. Seine dunkelbraunen Augen hatten einen stahlharten Ausdruck angenommen. Er drehte sich zu seinem Kompagnon um, sprach in abfälligem Ton mit ihm. Dieser schüttelte unwillig den im Vergleich zum Körper riesigen Kopf, äußerte irgendetwas auf Griechisch.
»Was für einen Gegenstand, und wieso sollte der einmalig auf der Welt sein? Hast du etwa einen Riesendiamanten geklaut, oder was?«, fragte er spöttisch.
Solaras hatte nur die Hälfte verstanden. Die Sprachbarriere machte ihm schwer zu schaffen.
»Das Gerät ist schlecht zu beschreiben. Du musst es gesehen haben. Wir treffen uns morgen um dieselbe Zeit wieder hier, dann zeige ich dir in einer unbelebten Ecke das Tauschobjekt. Es ist unbezahlbar. Einverstanden?«
Der Mann zögerte kurz, willigte dann aber grunzend ein.
Am folgenden Nachmittag standen die beiden Männer bereits am Treffpunkt, als Solaras im Laufschritt eintraf. Unter dem Arm trug er einen grünen Stoffbeutel mit Inhalt. Mit skeptischen Blicken beobachteten die in Hemd, Hose und Pullunder mit Rautenmuster gekleideten Schleuser, wie der angebliche Flüchtling einen halbrunden Gegenstand daraus hervorzog.
»Was soll das denn sein? Eine hässliche Schneekugel, oder was?«
»Das ist ein außerirdisches Navigationsgerät, es stammt von einem zweitausenddreihundert Lichtjahre entfernten Planeten. Und hierbei handelt es sich um eine Energiezelle. Sie ist klein, speichert aber so viel Energie, dass du eine Glühlampe tausend Jahre lang ununterbrochen brennen lassen könntest.«
Solaras fingerte an der Rückseite des Gerätes herum, zog einen fingerdicken, matt glänzenden Stift heraus.
»Der will uns veräppeln! Das hätte ich mir eigentlich denken können. Komm, lass uns abhauen«, schimpfte der Kleinere und wandte sich zum Gehen.
Solaras steckte die Energiezelle wieder ein und hielt seinen Daumen auf ein kleines schwarzes Feld am Gerät. Ein leises Zischen ertönte, und sogleich erschien ein gestochen scharfes 3DHologramm über der halbrunden Kuppel. Es zeigte eine animierte Landkarte. Darauf waren deutlich Piräus und seine Umgebung zu erkennen. Man sah sogar klitzekleine Menschen auf den Straßen flanieren. Türkisfarbene Zahlenreihen und ein Pfeil erschienen über dem Bild eingeblendet.
»Was zum Teufel …!« Dem Widerling blieben weitere Worte im Hals stecken.
»Dieses Gerät benötigt im Grunde keine Software, sondern scannt und speichert selbsttätig die Daten der Umgebung, in der es sich gerade befindet. Man könnte sagen, es lernt. Der Pfeil zeigt momentan Richtung Kreta, weil dies der letzte Punkt war, den ich eingegeben hatte. Du kannst aber jedes beliebige Ziel ansteuern, dir jeden beliebigen Ort Terras … äh, der Erde in derselben brillanten Bildqualität liefern lassen. Sag, hast du ein Mobiltelefon einstecken?«
»Ja, warum?«
»Gib es mir kurz. Dann siehst du gleich, was die Energiezelle kann.«
Das Smartphone zeigte einen Ladezustand von 44 Prozent an. Solaras nahm es, hielt es für eine Sekunde in die Nähe der Energiezelle. Augenblicklich war es zu hundert Prozent vollgeladen.
»Wow! Das revolutioniert glatt den gesamten Handymarkt. Die Hersteller in Fernost würden sich die Finger nach dieser Technik lecken«, hyperventilierte der Schlepper.
»So ist es. Und diese beiden Schätze würde ich euch überlassen, wenn ihr uns nach Deutschland bringt. Ihr könnt das Gerät bereits auf der Fahrt ausgiebig testen und hinterher auf eure Namen ein Patent anmelden, oder wie man das nennt.«
»Und das Zeug ist echt bislang noch nicht bekannt und im Umlauf?«, fragte der kleinere Typ argwöhnisch. »Das mit der außerirdischen Herkunft nehme ich dir jedenfalls nicht ab. Du bist einfach nur ein Entwickler, der diesen Prototypen in seiner Firma geklaut hat, garantiert!«
»Wenn es etwas Vergleichbares bereits gäbe, hätte man in den Nachrichten davon gehört. Und, hast du das? Natürlich nicht. Glaube was du willst – aber dieses Gerät wird dir deine Zukunft vergolden«, erwiderte der Tiberianer hartnäckig.
»Übergabe bei Abfahrt, die übrigens innerhalb einiger Tage erfolgen muss. Ergreift die Chance, sonst frage ich Konkurrenten. Ihr seid sicher nicht die Einzigen, die Schleuserdienste anbieten«, verfügte Solaras selbstbewusst.
Der Deal kam nach einer kurzen Beratung zustande. Gierig schielten die Fluchthelfer auf den fremdartigen Gegenstand, den der angeblich außerirdische Syrer behutsam wieder in den Stoffbeutel zurück schob.
›Und wieder haben wir Tiberianer ins Weltgeschehen eingegriffen und den terrestrischen Menschen technische Entwicklungshilfe geleistet. Mal sehen, wie lange es dauern wird, bis derartige Navigationsgeräte nebst Energiezellen hier auf den Markt kommen‹, dachte Solaras betrübt.
*
Wie ein lebloses Packstück wurde Kalmes mit ihrem Gefährten auf der Ladefläche eines altersschwachen 7,5 Tonners in eine stabile Sperrholzkiste gesetzt,
wo sie sich bis zum Zielort ruhig verhalten sollten. Einer der etwa fünfzigjährigen Männer verschloss die Ladetüren, dann holperte das Gefährt mit quietschenden Stoßdämpfern los. Es stank unangenehm nach Gummi und Treibstoff.
Bereits nach einigen Kilometern stand fest, dass sich die blinden Passagiere auf der langen Fahrt wohl Prellungen und blaue Flecke holen würden. Die ungesicherte Kiste mit dem menschlichen Inhalt rutschte zwischen anderen Gütern auf der Ladefläche herum, eckte hart an den Bordwänden an. Die Insassen fühlten sich unangenehm an ihre illegale Reise im Frachtraum der Deep Red Planet erinnert.
Solaras umklammerte den grünen Stoffbeutel mit dem Holographen, damit er keinen Schaden nahm. Der kleine Kasten war dick mit Kleidungsstücken umwickelt. Er wusste, dass die Schleuser keinesfalls von seiner Existenz erfahren durften, weil sie ihn sonst vermutlich wegnehmen würden.
Hätten die Tiberianer nach draußen blicken können, hätten sie gesehen, dass an der Grenze zu Mazedonien noch immer tausende von Flüchtlingen, hauptsächlich aus Bulgarien und Rumänien, im Schlamm lebten und unbeirrt auf die Grenzöffnung hofften. Weiter ging es durch die Hügel des Balkans nach Ungarn. Die erfahrenen Schlepper wussten sehr genau, wo der im Jahr 2015 errichtete Grenzzaun der Ungarn Lücken aufwies.
Der mit dem Logo einer Umzugsfirma beschriftete Lastwagen fuhr unbehelligt in Richtung Nordwesten und erreichte schließlich die deutsche Grenze. Das Fahrzeug hielt an. Einer der Männer befreite die beiden Flüchtlinge aus ihrer stinkenden Kiste, in der sie ihre Notdurft hatten verrichten müssen.
»Eines muss ich euch echt lassen! Dieses Gerät funktioniert einwandfrei. Man hätte aus der Vogelperspektive sogar gesehen, wo die Polizei mit ihren Fahrzeugen steht. Sehr hilfreich für die nächsten Transporte. Nun trennen sich unsere Wege. Geht immer da lang, dann gelangt ihr nach Passau«, sagte der Schlepper und zeigte auf einen breiten Schotterweg.
Die Tiberianer verabschiedeten sich, setzten sich in der angegebenen Richtung in Bewegung. Die Männer fuhren weg.
Solaras sah sich um, streckte gähnend seine zerschundenen Glieder. »Das ist also unsere neue Heimat. Es ist schön hier. Sieh nur, wie grün und frisch alles ist. Die Wiese blüht.«
Kalmes zeigte auf ein nahes Waldstück. »Apropos frisch – komm, wir ziehen uns im Schutz der Bäume zuerst einmal frische Kleidung an. Wir stinken ja zum Himmel.«
Der befestigte Feldweg führte erstaunlicherweise direkt zur Passauer Flüchtlingsunterkunft, wo sie eine lächelnde Sozialarbeiterin herzlich begrüßte. Man kontrollierte die Registrierungspapiere aus Griechenland eingehend, sicherte Fingerabdrücke, schoss Passfotos und stellte Fragen zur Herkunft. Die Polizei jagte all das durch den Computer und behandelte die Angaben erkennungsdienstlich, bevor endlich der schriftliche Asylantrag gestellt werden konnte. Die ermüdende Bürokratie war somit das Allererste, was Kalmes und Solaras in Deutschland hassen lernten.
Im Vergleich zu den Verhältnissen in Piräus erwartete den vorgeblichen Syrer Raschid al-Haruni und seine ältere Gefährtin Leyla eine saubere, bestens durchorganisierte Unterkunft in einer Industriehalle. Dort sollten sie auf ihren Platz in einer Erstaufnahme-Einrichtung, irgendwo im Bundesgebiet gelegen, warten. Mittlerweile überstellten die deutschen Behörden zum Glück keine Asylbewerber mehr in jene Länder, in welchen sie zuerst europäischen Boden betreten hatten. Die Einhaltung des sogenannten Dublin-Abkommens verursachte einfach einen zu großen Verwaltungsaufwand.
»Geschafft! Wenn wir noch die Anhörung zur Fluchtursache in ein paar Wochen – oder Monaten – überstehen, ohne Skepsis zu wecken, erhalten wir unsere auf drei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis! Schließlich kommen wir vorgeblich aus einem Kriegsgebiet. Ehrlich gesagt, fühle ich mich so gestresst, als entspräche das der Wahrheit«, stöhnte Solaras und ließ sich wie ein nasser Sack auf sein zugewiesenes Feldbett sinken.
Terra, 16. September 2017 nach Christus, Samstag
Levi blickte ärgerlich drein, nahm das Päckchen entgegen, das Aaron ihm entgegenstreckte. »Was genau soll das heißen: Die sind weg?«
»Dass ich dreimal zu unterschiedlichen Uhrzeiten bei der Adresse in Nave Sha’anan gewesen bin, die du mir gegeben hattest. An der Wohnung öffnet niemand, und die besoffenen Nachbarn wissen alle von nichts.
Außerdem hat mir Solaras vor einigen Wochen mein Notebook zurückgegeben. Er erklärte, er habe inzwischen genug recherchiert. Die beiden sind bestimmt schon unterwegs in die Türkei. Du wirst deine Graspäckchen künftig also wieder selber ausliefern müssen«, meinte Aaron achselzuckend.
»Ohne sich zu verabschieden? Nach allem, was ich für sie getan habe? Was für undankbare Arschlöcher!«
»Das ist für uns nicht unbedingt von Nachteil«, überlegte Aaron laut. »Wenn die sich unfair verhalten, können wir das ebenfalls tun. Ich jedenfalls fühle mich an das Versprechen, niemandem über die fliegende Untertasse bei Jad Mordechai zu erzählen, nicht mehr gebunden.«
Levis Augen leuchteten auf. »Krass, Alter! Wenn wir damit zur Presse gehen, sind wir die Größten. Levi und Aaron, die glorreichen Entdecker einer AlienInvasion. Und zum Beweis präsentieren wir den … wie haben sie das Ding genannt?«
»Den Raumgleiter.«
»Genau. Wir fahren dorthin, buddeln ein wenig im Sand, fotografieren ihn und schicken das grandiose Bild zum Anfixen an die Zeitung. Die werden uns fürstlich bezahlen.«
»Ich bin dabei!«, freute sich Aaron.
Mit einer Schaufel bewaffnet, machten sich die beiden Jungs noch am selben Tag auf den Weg zum Busbahnhof. Sie schilderten sich gegenseitig in den schillerndsten Farben, was sie mit dem vielen Geld anfangen würden, das man ihnen bald in Bündeln nachwerfen würde.
Knapp eineinhalb Stunden später bog der Bus in die Haltebucht vor dem Kibbuz ein. »Jetzt werde ich doch ein bisschen nervös«, gestand Aaron. »Was, wenn sie ihren Raumgleiter doch abgeholt haben?«
Levi lachte kehlig. »Du spinnst doch total! Die müssen sich am Grenzübergang registrieren lassen, dürfen nicht einfach drüber weg fliegen. Ich hatte denen klar und deutlich gesagt, dass sie ansonsten ihre Sozialhilfe in Deutschland vergessen können.«
»Hoffen wir das Beste.«
Gegen 16 Uhr erreichten sie, nachdem sie sich ein paarmal verirrt hatten, die fragliche Stelle. Beim letzten Besuch war es relativ dunkel gewesen, die Umgebung wirkte heute verändert. Nun standen die beiden fassungslos vor einer symmetrischen Bodenmulde, um deren Rand etwas Aushub und ein paar tote Steppenpflanzen zu sehen waren.
»Scheiße!«, fluchte Levi. »Das ist definitiv der Ort, an dem sie das Ding versteckt hatten. Ich erkenne den verkrüppelten Baum da drüben wieder. Diese Idioten sind doch damit weggeflogen. Der Teufel soll sie holen!«
Aaron wischte sich Schweiß aus dem Gesicht. »Ja, leider. Aber noch ist nicht aller Tage Abend. Wir gehen trotzdem zur Zeitung und erzählen denen unsere Geschichte. Dass wir den Aliens wochenlang geholfen und wie sie ihren fernen Heimatplaneten beschrieben haben, die Story von diesem gruseligen Holographen … und so weiter. Dann führen wir die Zeitungsfritzen hierher. Man sieht an den deutlichen Abdrücken im Sand, dass bis vor kurzem hier etwas sehr Schweres mit strukturierter Unterseite gelegen oder gestanden haben muss. Die sollen mit Messgeräten anrücken, vielleicht ist Radioaktivität oder sowas messbar. Soll ja auch andernorts nach UFOSichtungen so gewesen sein.«
Sie fotografierten die leere Bodenmulde von allen Seiten mit den Smartphones. Danach zogen sie frustriert wieder ab.
Zwei Wochen später waren Aaron und Levi erheblich reicher als zuvor, wenn auch nur an Erfahrung. Bei der großen Tageszeitung Tel Avivs waren sie als Spinner ausgelacht worden. Also hatte Levi die Bilder mit entsprechendem Kommentar ins Internet gestellt. Sie erzeugten dort jede Menge Aufmerksamkeit, allerdings hauptsächlich der negativen Art. Ein wahrer Shitstorm ergoss sich auf die jungen Männer. Sie hätten die Abdrücke ganz einfach selber in der Mulde erzeugen und ein paar Pflanzen ausreißen können, hieß es.
Freilich, es gab auch ein paar unverbesserliche Verschwörungstheoretiker, die voll auf die angebliche Begegnung der dritten Art einstiegen. Aber mit denen war eben kein Blumentopf zu gewinnen. Sie stahlen einem nur Zeit, besaßen jedoch nicht die Möglichkeit, an der Landestelle irgendwelche Messungen durchzuführen.
Allein das Restaurant Nefilim profitierte von den Gruppen, die nach den ersten Posts wochenlang zur Besichtigung des angeblichen UFOLandeplatzes anrückten. Und das sogar noch, nachdem es geregnet hatte und definitiv keinerlei Spuren mehr zu erkennen waren.


