- -
- 100%
- +
Rupert wusste nur zu gut: Dazu wären sie nie und nimmer in der Lage gewesen. Weder zum Verhüllen des gesenkten Kopfes mit einem weißen Tuch, das einer Kapuze glich, noch zum richtigen Anbringen der Schlinge. Zum Abnehmen des leblosen Körpers vom Seil, den man weiter unten in Empfang zu nehmen hatte, zur andächtigen letzten halben Stunde also, ganz allein mit dem Kadaver des Missetäters, erst recht nicht. Sie hätten kalte Füße bekommen und sofort den Schwanz eingezogen, wenn sie an seiner Stelle gewesen wären. Maulhelden waren sie.
Obwohl er beide, Stuart wie auch Burt, mochte und ihre Loyalität schätzte. Auch weil er wusste, dass er sich vor ihnen nie rechtfertigen musste – seine Berechtigung zum Hinrichten würden sie zuallerletzt infrage stellen. Darüber hinaus wusste er, wie sehr es ihnen imponierte, dass er sich nie mit seinen Leistungen und Opferzahlen brüstete. Es schmeichelte ihm insgeheim, dass Ivins und Nicholson ihm so ergeben waren, wenngleich er doch in all den Jahren kein Sterbenswörtchen durchsickern lassen, nicht einmal eine Andeutung gemacht hatte. Und dass sie, auch wenn sie diesbezüglich bislang noch nie auf ihre Kosten gekommen waren, allabendlich allein seinetwegen eigens aus Oldham und Hollinwood anreisten. Was bemerkenswert war und ganz schönen Aufwand erforderte.
An der Qualität seiner Biere konnte es sicher nicht liegen. Die waren nichts Besonderes. Anständig und banal. Nein, seine Boys kamen wirklich gern. Sie mochten, ja liebten ihn, konnten keinen Abend ohne ihn zubringen. Es machte ihnen Spaß, sich als Ruperts Freunde auszugeben, Ruth, ohne es wirklich ernst zu meinen, schöne Augen zu machen und mit dem einen oder anderen jungen Mädchen, das gelegentlich in Begleitung vorbeikam, um im Stehen einen Port oder Sherry zu trinken, möglichst unbemerkt zu flirten. Ganz harmlos war das eigentlich alles.
Hätte jemand Burt und Stuart interviewt, so hätten sie sich, ohne zu zögern, als seine besten Freunde bezeichnet. Aber so jemand wie Rupert Beaufort hatte, wie er nur zu gut wusste, keine Freunde. Nur Bekannte. Das war auch besser so. Das war ihm wichtig, und das schützte ihn. In die Karten schauen ließ er sich von niemandem, und wenn überhaupt, dann nur von Ruth. Und auch von ihr nur ein ganz klein wenig.
Wenn sie ihm gar zu sehr auf die Pelle rückten mit ihrer Neugier, wenn Stuart ihn in die Zange nahm und Burt ihn erneut ausfragte, ja auszuquetschen versuchte, beugte Rupert sich über die Spüle, pfiff einen Gassenhauer, tat so, als sei er von einem anderen Gespräch im Raum abgelenkt, hielt ein abgetrocknetes Glas prüfend gegen das Licht oder beschäftigte sich so lange gedankenverloren mit dem Zapfhahn, bis sie von ihm abließen.
Irgendwann, meist erst zu später Stunde, wenn sie merkten, dass sie wieder nichts aus ihm herausbekommen würden, gaben sie Ruhe, fast zufrieden, dass der Publican nun doch nicht zum Schwätzer geworden war. Dann jedoch trat ihr berühmter Buddy in den Schankraum und war nicht länger zerstreut, wandte sich leutselig einem anderen Gast zu, spazierte von Tisch zu Tisch, ließ joviale, aber folgenlose Bemerkungen fallen und seinen angeborenen Charme spielen. Dass er so gut mit Menschen konnte, die ihm überhaupt nicht am Herzen lagen, die ihm sogar gleichgültig waren, dass er Warmherzigkeit versprühte und mit seinem unverbindlichen Small Talk eine gemütliche Atmosphäre herzustellen vermochte, war der Hauptgrund dafür, dass der Pub immer gut gefüllt war und die meisten Gäste nur sehr ungern von dannen zogen, wenn die Uhr elf geschlagen hatte.
„Du hast sie wieder über den Tisch gezogen“, pflegte Ruth dann anerkennend zu ihm zu sagen, während sie das Geld zählte und er vor dem Ausfegen die Stühle auf die Tische wuchtete, „du bist einfach ein schlauer Fuchs.“
Rupert musste sich indessen gar nicht eigens um eine freundliche Taktik bemühen. Diesen Gelassenheitspanzer, diese Rüstung aus Friedfertigkeit und Liebenswürdigkeit hatte er sich schon vor einer halben Ewigkeit zugelegt. Dieser Selbstschutz funktionierte einwandfrei.
Besonnenheit war seine große Stärke. Nie über den Durst trinken, nie ungefragt ins Erzählen geraten. Nie die Fassung verlieren. Einfach nur nett sein und gesellig. Zuhören. Nicken und von Zeit zu Zeit beipflichtende, triviale Bemerkungen anbringen. Für jeden ein freundliches Wort überhaben.
Mit Leuten umzugehen, das lag ihm von jeher im Blut. Und wenn sie, bei seinen musikalischen Darbietungen buchstäblich an seinen Lippen hängend und ihn mucksmäuschenstill anstarrend, nach dem dritten Rausschmeißer, johlend und wie wild klatschend, noch eine weitere Zugabe verlangten, kam er erst richtig in Fahrt, drehte auf und gab seinem Affen Zucker. Ließ seinen sonoren Bariton ertönen und versorgte sie mit noch einem herzzerreißenden Matrosenliedchen, noch einer irischen Volksweise, noch einer schottischen Ballade, noch einer anzüglichen Moritat, noch einem inbrünstig vorgetragenen Love Song.
Dann tat er ihnen eben den Gefallen. Sein Repertoire – frivole Gassenhauer, Folklieder, bluesige Nummern – war ja unerschöpflich. Sie jubelten. Sie himmelten ihn an.
Beaufort, der war einfach einmalig.
Ein Pfundskerl.
Ein Held noch dazu.
Ein Glücksfall.
Wir sind so froh, dass wir ihn kennen.
Einer von uns.
So hörte er sie raunen und schwärmen.
So manches Männerauge wurde feucht, wenn er seine Stammgäste zum Abschied kurz umarmte und sie damit für den Bruchteil einer Sekunde zu Privilegierten machte. Nie zu lange, stets ohne sentimentale Anwandlung.
Rupert beherrschte die Kunst der richtigen Dosierung von Distanz und Zutraulichkeit. Verfügte – nicht nur beim Hängen – über ein unnachahmliches Timing. Und er wusste, morgen würden sie gleich nach Lokalöffnung wieder zur Stelle sein. Todsicher um Einlass bitten. Zu ihm aufschauen und um seine Gunst buhlen. Das war eine Genugtuung für ihn. Danach konnte er die Uhr stellen.
Es war auch eine Handvoll Frauen unter seinen Fans, die Rupert vor jeder Hinrichtung anfeuerten wie bei einem Boxkampf. Die ihm schamlose Blicke zuwarfen und ihn anstachelten, die ihm: „Gib’s dem Halunken!“, oder, ärger noch: „Bring’ den Schweinehund zur Strecke!“, zuriefen, bevor er sich anderntags auf die Reise machte.
Das war ihm immer ein wenig unbehaglich und manchmal richtig zuwider. Er kam sich dann vor wie ein großer halb nackter Bulle, der, von Tausenden Augenpaaren angeglotzt, in den Ring steigt. Wie ein hirnloses Kraftpaket, das sich zum wild gewordenen Affen macht, indem es sich grölend an die Brust schlägt und seinem Gegner einen brutalen, gezielten Faustschlag verpasst. Bis der Getroffene k.o. geht und am Boden liegt. Um dann, noch voller Verachtung, nachzutreten.
Rupert hasste es, wenn sich Außenstehende an seiner Pflichterfüllung aufgeilten und unverhohlen ihren Rachedurst bekundeten. Denn was er in Pentonville oder in Strangeways, in Wandsworth, in Shepton Mallet oder in Mountjoy mit seinen Verurteilten anstellte, die ihm im Laufe der Jahre immer mehr wie Schutzbefohlene erschienen waren, hatte freilich mit Brutalität und Fertigmachen, mit Plattwalzen und Auslöschen rein gar nichts zu tun.
Er war kein öffentlicher Auspeitscher, er betätigte keine Guillotine, er schlug niemanden zu Brei. Er nutzte die Position der Überlegenheit, die Amt und Gesetz ihm zuschrieben, nie aus, um zu demütigen oder zu vernichten.
Er war stark, ohne muskulös zu sein. Mit einer unkontrollierbaren Bestie, der man einen Schwächling zum Fraß vorwarf, hatte er nichts gemein. Und schon gar nicht mit einer Tötungsmaschine.
Diese armen Menschen, die ihm in ihren letzten Lebensminuten unter die Augen traten, weil sie der Gemeinschaft der Unbescholtenen nicht länger unter die Augen treten durften und für ihre Untaten büßen mussten, waren alles andere als wehrlose Gegner. Rupert hatte vor den zu Hängenden den allergrößten Respekt. Ihm war bewusst, dass sie die Konsequenzen ihrer Straftaten, nach wochenlanger Grübelei in den Zellen und in der Einsamkeit der Kerker, längst akzeptiert hatten, und er wusste um ihr Einverständnis. Er war zutiefst davon überzeugt, dass jede und jeder von ihnen am Todesmorgen mit ihrem oder seinem Ende einverstanden war. Und dass sich die meisten von ihnen glücklich schätzten, dass gerade er zu ihnen gekommen war, damit dieser Abschluss möglichst rasch herbeigeführt werden konnte.
Höflich war, mit wenigen Ausnahmen, ihr Betragen. Gefasst waren sie, nur wenige wehrten sich, und die Ruhigsten unter ihnen atmeten hörbar auf, wenn sie merkten, dass Rupert auch ihnen mit Zuvorkommenheit begegnete.
Seine Verurteilten. Sie gehörten ihm ja, an diesem letzten Tag ihres Lebens. Ihm allein. In ihrer Todesstunde, kaum mehr als ein Stündchen, das dann auf nur wenige Minuten, Sekunden eigentlich, zusammenschrumpfte, gehörten sie ihm ganz und gar.
Er hatte gelernt, sie zu studieren und ihre Demut zu deuten. Er las in ihren Augen, spürte, wie zartbesaitet sie eigentlich waren, erkannte die Verwundbarkeit, die Verletzungen, die tiefen Wunden ihres Vorlebens; von ihren eigentlichen Straftaten erfuhr er in diesem Moment nichts und wollte auch, zumal wenn er die Hinrichtung hinter sich gebracht hatte, so wenig wie möglich davon wissen.
All dies hätte er seinen Gästen im Pub am liebsten einmal in Ruhe auseinandergesetzt. Allerdings ließen sie ihn nie zu Worte kommen, ihnen stand der Sinn nach anderen Informationen. Oder nach Liedern. Möglichst zweideutigen oder obszönen. Diesen sich in Ekstase steigernden, nach Blut und Gewalt förmlich lechzenden Frauen in seinem Lokal, allesamt ehrbare Ehefrauen noch dazu, die sich unter dem amüsierten Blick ihrer Männer gerne einmal ein wenig gehen ließen, hätte Rupert gern erklärt, dass er überhaupt kein Mörder war. Beteuert hätte er es. Auch, dass er sich nicht mit einem Serial Killer, wie ihm immer wieder zu Ohren gekommen war, vergleichen ließ.
Bei solchen Szenen hätte er Stuart am liebsten untersagt, was der seit Monaten am liebsten tat: von Ruperts neuestem Auftrag überall im Ort und selbst in Manchester ungeniert herumzuerzählen.
Es half nichts: Die Sensationsgier seines Kumpels war stärker. Kaum hatte Rupert das nächste offizielle Schreiben von der Gefängniskommission erhalten und, an den Kaminsims gelehnt, aufmerksam studiert, kaum das genaue Datum der Exekution in Erfahrung gebracht und den Ablauf seines Wochenendes fern von zu Hause geplant, wusste Nicholson aus mysteriösen Gründen genauestens Bescheid, verbreitete Gerüchte, applaudierte Rupert, wenn er die Kneipe betrat, grinste vielsagend, wies mit dem Daumen auf ihn und ließ ihn hochleben – dabei hätten Ruth und ihr Mann die Hand dafür ins Feuer legen können, niemandem davon berichtet zu haben.
The Rose & Crown war Ruperts und Ruths zweiter Pub und der erste mit einem ansprechenden Namen, der erste auch auf dem Land. Den ersten, weitaus kleineren, im Randbezirk der Großstadt, hatten sie kurz nach ihrer Eheschließung gepachtet, was mitten im Krieg und ohne nennenswerte Ersparnisse ein mutiger, fast leichtfertiger Schritt gewesen war.
Rupert, damals an die vierzig, hatte aber schon seit Langem Aufstiegschancen gewittert und nur auf die passende Gelegenheit gewartet, sie auch wahrzunehmen. Eine niedere Existenz als Auslieferungsfahrer eines Gemüsegroßhändlers führen zu müssen, davon hatte er die Nase voll gehabt. Für einen wie ihn musste und würde sich irgendwo eine Tür öffnen, das war weniger eine Hoffnung als eine Tatsache, von der er schon als Heranwachsender überzeugt gewesen war.
Als Rupert die Anzeige entdeckte, in der nach einem neuen Pächter gesucht wurde, fackelte er daher nicht lange und griff zu. Seine Frau war, wie erwartet, einverstanden. Gemeinsam arbeiteten sie auf ihr neues Ziel hin, verschrieben sich einer Idee. So töricht sie auch sein mochte. Taten alles, um sie Wirklichkeit werden zu lassen.
Sich Gastwirt nennen zu können, das war doch etwas ganz anderes. Und sein eigener Herr zu sein, das war auch nicht zu verachten. Bei allem Risiko. Binnen Kurzem, so hatte Rupert mit reichlich Wunschdenken angenommen, würde er zur Respektsperson werden, würde die Kasse klingeln. Als patenter, gutmütiger Wirt im Hintergrund.
Anfängerglück und der nötige Elan zahlten sich für ihn und die gar nicht so schüchterne Ruth, die sich wahrlich lange genug an der Theke eines Krämerladens die Beine in den Bauch gestanden hatte und gleichfalls nach Höherem strebte, denn auch aus. Weg mit den Brotberufen!
Ihr Elan sollte ihnen Recht geben. Der seit Menschengedenken gut eingeführte Laden, im Zentrum von Hollinwood, für Kneipengänger aus Oldham und trinkfeste Zecher aus Manchester spielend erreichbar, florierte. Und das in den schlimmen Jahren 1943/44! Das Wirtsehepaar besaß offenbar ein Händchen für das neue Metier.
Dass ihr junges Glück bislang kinderlos geblieben war – was sich auch in den Nachkriegsjahren nicht mehr ändern sollte –, begünstigte den Neustart: Beide Beauforts konnten sich der Arbeit im Pub ohne Einschränkungen, Säuglingsbetreuung oder umständliche Aufgabenteilung zwischen Lokal und Kneipe widmen. Sie hatten die Wohnung gleich über dem Pub bezogen, was praktisch war und sie Berufs- und Privatleben auf ideale Weise verbinden ließ.
Dass der traditionsreiche Laden nun ausgerechnet Help the Poor Struggler heißen musste, irritierte das junge Ehepaar anfangs doch sehr. Struggler, da dachte man ja unwillkürlich an einen um sein Leben Kämpfenden, einen, der verzweifelt mit den Beinen strampelt, dessen Füße herabbaumeln und der vergebens nach einem Halt sucht. An einen, der dringend Hilfe braucht, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren und im Sumpf unterzugehen. Struggler, das klang nach Agonie und erfolglosem Bemühen. Zu einem Henker passte der Name dagegen wie die Faust aufs Auge. Trug aufgrund seiner Deutlichkeit dazu bei, dass man sich ordentlich gruselte, provozierte er doch böse Assoziationen und wahre Horrorvorstellungen. Ein schlechter Witz. Ein Bonmot mit üblem Beigeschmack. Weil er, wenn man vom Nebenerwerb des tüchtigen Beauforts erst einmal wusste, natürlich eine echte Geschmacklosigkeit war.
Eine Zeit lang meinte Ruth, es sei womöglich besser, das Schild abzuhängen und eine Namensänderung vorzunehmen, bevor es zu spät sein könnte. Aber die Leute im Viertel hingen längst an dem alten, seit Jahrzehnten etablierten Namen, der auch über Manchester hinaus einen guten Klang zu haben schien.
Es blieb also dabei. Dass den „poor strugglers“ am Galgen aber niemand mehr zu Hilfe kam, dass diesen Armen auf Erden nicht mehr zu helfen war, wusste im Übrigen nur der Galgenmann allein. Das war Ruperts vielleicht größtes Geheimnis. Doch wasserdicht war sein Alibi anscheinend nicht: Alle paar Wochen kritzelte jemand, der den Beauforts auf die Schliche gekommen war und von Ruperts dunklem Geschäft wusste, jemand, der es nicht so gut mit ihnen meinte oder sich einfach auf ihren Kosten einen unpassenden Scherz erlauben wollte, mit Kreide ein Galgenmännchen an die Eingangstür des Pubs. Für jedermann sichtbar.
Augenscheinlich ein Eingeweihter! Wer ihm wohl diese Informationen zugespielt hatte – sie hatten keinen Schimmer. Und einen Könner hatten sie obendrein vor sich, denn die Zeichnungen waren so explizit wie gelungen. Was dem Publican und seiner Frau jedes Mal einen gehörigen Schrecken einjagte. Ruth beeilte sich, das Graffito rasch wieder abzuwischen. Keiner von beiden wusste, wie lange dies barbarische Spielchen noch weitergehen mochte.
In den ersten Monaten nach der Eröffnung des Struggler war gottlob alles gut gegangen, niemand hatte zunächst den Doppelsinn des Lokalnamens auch nur erahnen können. Doch dann, nach Kriegsende, kam die zermürbende, aufreibende Phase auf die Beauforts zu, eine wahre Bewährungsprobe, als Rupert für die Hängung von zahllosen deutschen Kriegsverbrechern nahezu ununterbrochen nach Deutschland geflogen wurde, in geheimer Mission. Nur dass es mit diesem Geheimnis nicht weither war … Ein Auftrag, der von „ganz oben“ kam und eine große Ehre für ihn darstellte. Man brachte ihn in die britische Besatzungszone, um dort, im bislang unbedeutenden Gefängnis einer kleinen niedersächsischen Stadt, von der britischen Militärjustiz angeordnete Todesurteile im Akkord zu vollstrecken.
Nicht selten damals tötete er ein Dutzend Menschen oder mehr an einem Tag oder an einem Wochenende. Hinrichtungen am Fließband, auch für ihn ein Novum. Und eine Herausforderung, die er wiederum meisterte. Wenn es ihm, zum ersten Mal, auch schwerfiel. Woche um Woche, Monat um Monat. Seinem Gewissen zusetzte und seine Seelenruhe auf die Probe stellte.
Da war es, sobald die Presse Wind vom Beginn der Aktion bekam und von der Identität des heldenhaften Executioner erfuhr, aus und vorbei mit der bewährten Diskretion und der früheren Geheimniskrämerei. Von einem Tag auf den anderen war der Name Beaufort in aller Munde, und die Menschen kamen in Scharen nach Hollinwood, um ihn anzustarren, zu bewundern und zu feiern. Damit war sein Schicksal als Volksheld unwiderruflich besiegelt, und über Nacht war er zu einer Berühmtheit geworden. Zu einem tollen Hecht, der es den verhassten Deutschen endlich einmal zeigte. In Hameln. Hamelin, wie seine Landsleute sagten. Der mit Judenmördern abrechnete und der Unmenschen wie verachtenswerten Schindern den Garaus bereitete. Der die Schlächter unter den Nazis, die lange genug ungestraft ihr Unwesen treiben durften, kurzerhand ins Massengrab beförderte. Der den Sieg der freien Welt mit seinem Tun eindrucksvoll untermauerte.
Wenn es nach Rupert gegangen wäre, hätte sein Leben lang nie jemand von seinem Zweitberuf erfahren. Auch jetzt noch nicht. Nur allzu gern hätte er die Uhr wieder zurückgedreht und die deutsche Episode ungeschehen gemacht, um seine Anonymität bis zum letzten Atemzug zu bewahren und zu schützen.
Es widerstrebte ihm, seine Leidenschaft an die große Glocke zu hängen. Alles, was mit Galgen und Todesstrafe, mit Vollstrecken und Hinrichten zu tun hatte, wollte er um jeden Preis für sich behalten. Er hätte demnach auch weiterhin eine richtige Dr.-Jekyll-and-Mr.-Hyde-Existenz führen können, so perfekt und undurchsichtig wie möglich.
Wenn ihm die Tötungsserien im fernen Hameln nur nicht dazwischengefunkt hätten, wo er es zum ersten Mal nicht mit Liebenden, Verzweifelten, Dieben oder Psychopathen zu tun bekommen hatte, sondern mit Funktionsträgern eines Unrechtsstaates, die mordeten, weil ein verbrecherisches System es ihnen befohlen hatte. Mit Bürokraten des Grauens, genau genommen. Deshalb hatte er sich zum ersten Mal auch die Frage stellen müssen, ob er da in Wahrheit nicht seinesgleichen unbekümmert in den Tod schickte. Menschen, die wie er Vorschriften gefolgt waren und Befehle ausgeführt hatten, die an ihren Auftrag geglaubt hatten und nun, wohl oder übel, einsehen mussten, dass eine andere, tolerantere Rechtsprechung ihr Handeln im Nachhinein als unrechtmäßig einstufte und sie verdammte.
Ja, zum ersten Mal war Rupert mit grundsätzlichen und sehr unangenehmen Fragen konfrontiert worden, die an sein Inneres rührten, die sein Selbstverständnis ins Wanken bringen konnten, die ihn massiv bedrohten. Rupert hatte nicht lange überlegt, war nur für einige Minuten in sich gegangen und hatte sich in einer Art innerem Kreuzverhör selbst befragt. Zweifel hatte er erst gar nicht an sich herangelassen, nach jedem Hamelner Wochenende eine tiefe Mütze Schlaf genommen und eventuelle Gemeinsamkeiten zwischen ihm und den deutschen KZ-Schergen empört verneint.
Welten trennten ihn von ihnen, und, wie unübersehbar war, standen die Schergen auf der falschen Seite der Geschichte. Hatten sich ihr Los selbst zuzuschreiben, während er, momentan, sich aus freien Stücken in den Dienst der Alliierten stellte. Nach allen Regeln der Kunst hatte er mit ihnen, die in Schnellverfahren, von deren Verlauf er keine Kenntnis hatte, abgeurteilt worden waren, kurzen Prozess gemacht. Burt und Stuart meinten: hochverdient. Rupert müsse ein Orden verliehen werden für seine Verdienste ums Vaterland, um die Freiheit und die westliche Demokratie. Eine Auszeichnung für ihn müsse dringend her, mit einer großen Freudenfeier, mit Feuerwerk, Marschmusik und offiziellen Reden. Und auch Ruth ließ ihn spüren, dass er seine Sache diesmal besonders gut gemacht hatte.
Triumphgefühle ließ, wie Rupert wusste, das britische Justizwesen gar nicht erst aufkommen, erst recht nicht im Zusammenhang mit den heiklen Kriegsverbrecherprozessen, wo auch nicht unbedingt alles nach Wunsch oder mit der gebotenen Fairness abgelaufen war – schnell, rasend schnell hatte es gehen müssen, die Rechtsprechung hatte auf wackligen Füßen gestanden, die Bürger der Siegermächte waren von verständlichen Emotionen wie Vergeltung, von niederen Gefühlen wie Heimzahlen und Aufrechnen keinesfalls frei gewesen. Vor weiteren Anwürfen, die nur er selbst an sich richten konnte, musste er fortan auf der Hut sein und aufpassen, nur ja nicht auf einmal dünnhäutig zu werden. Oder angreifbar. Nun war sein Name regelmäßig in den Zeitungen des Landes zu lesen und sein Konterfei auf so mancher Titelseite abgebildet gewesen, und an diesem misslichen Umstand hatte sich auch in der jüngsten Vergangenheit nichts mehr ändern lassen können.
Rupert musste mit seiner Berühmtheit weiterleben, ob er wollte oder nicht. In den Folgejahren machte er seinen Frieden mit diesem neuen Status. Übte Nachsicht mit seinen Anhängern. Ließ es zu, dass die Würdigung seines Tuns so manches Mal überhandnahm. Ließ sich dazu hinreißen, ganz selten nur kam das vor, die „Beaufort!“-Rufe zu genießen, die ihn an Samstagabenden entgegenschallten. Nur für Stuart und Burt war er einfach Rupert. Und für Ruth, na klar. Sonst durfte sich niemand eine solche Vertraulichkeit herausnehmen.
Für den Struggler, begehrt wie nie zuvor, zahlte sich seine Reputation auf alle Fälle aus – die Gäste standen Schlange, wollten dem bunten Hund Beaufort die Hand schütteln und ihre Komplimente loswerden.
Bald gehörte es zum guten Ton in Manchester und Umgebung, hier nach Arbeitsschluss vorbeizuschauen, sich ein paar Gläschen zu genehmigen und gesehen zu werden. Es wurde Kult, im Struggler für eine große Anzahl Freunde oder Kollegen eine Runde zu schmeißen. Selbst mit einem Champagnervorrat musste sich Rupert eindecken – ein edles Gesöff, das früher nie jemand bestellt hatte.
Nach ein paar Monaten konnten Ruth und er sich sogar eine Bedienung leisten und zusätzlich einen jungen Mann, der an den Wochenenden spülte und den Laden sauber hielt. Der Pub hatte sich als Goldgrube erwiesen.
Einige Jahre später zogen die Beauforts aufs Land und wurden Pächter einer viel größeren Kneipe. Hier war der Rummel erträglicher, auch wenn die hartnäckigen Fans aus Hollinwood, treu wie sie waren, ihnen nachreisten und Wochenende für Wochenende die Bude einrannten. Auf sie war Verlass. Was Rupert rührte.
Ganz ohne Sensationstouristen, die sich gemeinsam mit ihm ablichten lassen wollten, wobei sie mit albernen Gesten sich die Hand an die Kehle legten oder den Kopf hängen ließen und die Zunge herausstreckten, um eine Hinrichtung nachzuahmen, ganz ohne die Horrorfans ging es auch in Much Hoole nicht ab. Egal, da musste Rupert durch. Machte gute Miene zum bösen Spiel. Blickte mit gespielter Verzweiflung in die Kamera. Ein kleines Häuschen war nun auch drin für ihn und seine emsige Frau. In dem sie es sich bequem machten. Much Hoole war nicht der Nabel der Welt, Preston, etwas weiter nördlich, auch nicht, aber auf den Stress der Großstadt und auf das hektische Vorstadttreiben konnten die beiden, unterdessen im mittleren Alter angelangt, gut verzichten.
Wohlhabender als seine Familie in Clayton, wo er geboren, und in Huddersfield und Failsworth, wo er aufgewachsen war, waren Ruth und er mittlerweile allemal. Und auch ein ganzes Stück glücklicher, wie ihm schien.
Rupert störte es nicht, dass er nach Schließung des Lokals, eine Viertelmeile von ihrem Cottage entfernt, allnächtlich noch einen kleinen Bummel absolvieren musste, bevor er endlich alle viere von sich strecken und sich ausruhen konnte. Dieser kurze Spaziergang, auch an kalten, sternenklaren Winterabenden, zwischen verrauchter Bude und trautem Heim tat ihm gut, half ihm, seine Gedanken zu ordnen. Schuf Abstand zwischen dem Geplänkel im Pub und der ersehnten Nachtruhe, Seite an Seite mit Ruth.
Aus den armen Kämpfern, aus dem Lieferanten und der Hilfskrämerin war ein zufriedenes Ehepaar geworden, das sich seinen Wohlstand hart erarbeitet hatte. Ziemlich weit hatten sie, der ehemalige Fahrer und die ehemalige Verkäuferin, es gebracht. Eine ansehnliche Laufbahn absolviert.




