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Nicht dass sie über die Stränge schlugen. Eine Woche Brighton oder ein paar Tage Blackpool pro Jahr, ein Wochenendausflug nach Birmingham, ein Kurztrip zur Hadrian’s Wall lagen im Bereich des Möglichen. Wenn ihnen Pub und Henkergeschäft überhaupt Zeit dafür ließen.
Sie waren es zufrieden – denn mit den Hinrichtungen allein wurde man weiß Gott nicht reich. Henker waren keine Beamte, ein Grundgehalt gab es nicht, und bezahlt wurde, neben Spesen, allein die erfolgte Hinrichtung: als Einzelleistung. Nicht mehr als ein Zubrot sprang dabei heraus. Eine Aufwandsentschädigung, wenn man so wollte. Eine Besoldung war auch für die besten unter den Scharfrichtern nicht vorgesehen.
Es war und blieb ein Handwerk ohne goldenen Boden. Nur in den Nachkriegsjahren hatten die Massenexekutionen Rupert kurzzeitig die Taschen gefüllt; danach kehrte, mit im Schnitt nicht mehr als zehn Hängungen pro Jahr, wieder der Normalzustand ein. Die schon früher mal in liberalen Kreisen aufgeflammte und jetzt quer durch alle Bevölkerungsschichten immer hitziger geführte Debatte um Sinn und Abschaffung der Todesstrafe hatte in jüngster Zeit die Zahl der Hinrichtungen noch weiter gedrückt – eine beängstigende Entwicklung, zumindest für die Beauforts. Schlimmer noch: Wurde im letzten Moment einem Gnadengesuch stattgegeben, was meist auf Druck der Öffentlichkeit gestellt wurde, ging der Executioner völlig leer aus, obwohl er sich schon eigens für den Vollzug der Strafe in eine andere Stadt begeben hatte – und obwohl er absolut nichts für diesen Sinneswandel der öffentlichen Meinung und der zuständigen Gerichtsbarkeit konnte. In diesem Fall waren zwei ganze Tage futsch, und es wurden nur Auslagen zurückerstattet, so wie erst neulich wieder, im zurückliegenden Monat Mai. Als er aus Pentonville unverrichteter Dinge und mit leeren Taschen zurückreisen musste.
Minuten nur bevor er die Todeszelle betreten hätte, hatte ihn ein Angestellter der Staatsanwaltschaft kurz und bündig darüber unterrichtet, dass man dem Antrag auf Begnadigung gefolgt sei und die ursprüngliche Todes- in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt habe. Kein Tod: kein Lohn. Dann hatte im Pub für fast achtundvierzig Stunden eine Arbeitskraft weniger zur Verfügung gestanden, ohne dass ein finanzieller Ausgleich dafür geschaffen werden konnte, und die ausgefallenen Einnahmen im Rose & Crown standen in keinem Verhältnis zum Almosen, das Rupert für eine ausgefallene Hängung zugestanden wurde.
Nicht einmal ein Wort des Dankes oder des Bedauerns hatten die hohen Herren für ihn gefunden. Beim bloßen Gedanken an diese Schmach kochte gleich wieder die Wut in ihm hoch.
Gleich nach seiner Rückkehr nach Much Hoole hatte er, enttäuscht und frustriert, an die Kommission geschrieben und sich in seiner Beschwerde, Bezug nehmend auf den Vorfall in Pentonville, bitter beklagt. Höflich und zuvorkommend, aber auch selbstbewusst und bestimmt. Sein erster Brief überhaupt nach seinem erfolgreichen Bewerbungsschreiben, das er damals noch als junger Mann an die Behörden gerichtet hatte. An seine jahrelange Treue und guten Dienste hatte Rupert erinnert, darauf gepocht, gefälligst respektvoll behandelt zu werden, darauf hingewiesen, wie sehr sich in letzter Zeit – zu seiner und ihrer Bestürzung – die Gnadengesuche gehäuft hätten, und sodann die volle Bezahlung eingeklagt. Ohne Abstriche.
Woraufhin sich eine längere, ziemlich unerfreuliche Korrespondenz entspann, in deren Folge er zwar nicht seinen Forderungen entsprechend entlohnt wurde, man ihm jedoch wenigstens mehr als nur die ursprünglich ausgezahlten, vom Gesetz vorgesehenen Spesen zukommen ließ. Das Vierfache des von Pentonville angebotenen Satzes bekam er nun, gewiss, aber noch immer nicht einmal ein Drittel seiner üblichen Bezahlung. Ein fauler Kompromiss.
Ruperts Unzufriedenheit war mit diesem Zugeständnis nicht verflogen. Und er war sich fast sicher, in Zukunft nie wieder etwas aus London oder Manchester zu hören, zur Strafe womöglich sogar von der berüchtigten „Liste“ gestrichen zu werden, der Liste einsetzbarer Vollzugspersonen, die aus Assistenten und Chief Excutioners bestand und die er jahrelang unangefochten angeführt hatte. Mit seinem klangvollen, ungewöhnlichen Namen.
Einem Namen, mit dem man sofort eine ganze Dynastie von Henkern verband, einem Namen, der einer Qualitätsmarke gleichkam. Zu groß war wohl die Unverschämtheit gewesen, die er in den Augen der Königlichen Kommission begangen hatte, zu weit hatte er sich vorgewagt. Und es sich vielleicht für immer verscherzt.
Als dann jedoch letzte Woche ein erneuter Befehl auf dem Kaminsims bereitlag, einschließlich der Aufforderung, sich heute in Wandsworth einzufinden und wie gehabt nach bestem Wissen und Gewissen ein Todesurteil zu vollstrecken, tat man auf beiden Seiten scheinbar so, als wäre nichts vorgefallen. Überging den peinlichen Zwischenfall. Das wollte etwas heißen.
Sie wissen schon, was sie an mir haben, hatte Rupert im Stillen frohlockt, ohne dabei den Mund aufzumachen, als er das zerknitterte Blatt Papier in seine Jackentasche stopfte und Ruth einen wissenden Blick zuwarf. Gut gemacht, schien sie ihm zu erwidern, auf meine Unterstützung kannst du rechnen. Als er dann am Folgetag den Pub aufschloss, stand Ivins schon lauernd vor der Eingangstür. Platzte fast vor Stolz, wusste Bescheid, fühlte sich als Komplize. Und Ivins, indem er Rupert jetzt erst recht für einen Auserwählten hielt und sich selbst für Beauforts engsten Kameraden, Ivins strahlte über beide Backen.
Träumte Ruth? Das hatte Rupert sich schon oft insgeheim gefragt, sie aber nie ausdrücklich zu fragen gewagt. Wie stand es um sie? Bereiteten ihr seine Aufträge oder sein Ruf als kaltblütiger, emotionsloser Vollstrecker eigentlich regelmäßig Albträume oder zumindest ab und zu schlaflose Nächte? Setzten diese Vorgänge ihr, der exklusiv Eingeweihten, zu, versetzten sie sie gar in Panik?
Falls ja, hatte sie sich nie etwas anmerken lassen und auch nichts erwähnt. Und wenn Rupert nachts selbst einmal wach lag, hatte er sie betrachtet, wie sie, tief in die Kissen eingesunken, friedlich ruhte, und minutenlang ihre regelmäßigen, tiefen Atemzüge studiert.
Keinerlei Anzeichen von Unruhe, Besorgnis oder echter Furcht. Nichts als tiefe Entspanntheit. Zu seiner großen Erleichterung. War sie jemals schweißgebadet vor dem Morgengrauen aufgewacht oder hatte sich, von Angstzuständen geplagt, an ihn geklammert? Hatte sie ihn jemals darum gebeten, sie zu beschützen? Rupert konnte sich nicht daran erinnern. Wann immer sie sich an ihn schmiegte, schnurrend wie ein Kätzchen, dann stets, um ihre Bereitschaft zum Beischlaf zu signalisieren. Um auf ihre Begierde hinzuweisen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Was selten genug der Fall war.
Wovon träumte Ruth, was ging in ihr vor? Das fragte er sich auch heute wieder, als er sich den Mund mit der Serviette abtupfte, vom Tisch aufstand, die Hände wusch und seine Schritte in Richtung Haustür lenkte. Es war kurz vor elf. Sie brachte ihn nach draußen, um ihn zu verabschieden und ihm viel Glück zu wünschen. Sagen musste sie das nicht eigens. Aber Rupert konnte ihre Worte dennoch hören. Die Intensität, mit der sie ihn anschaute, unverwandt und fast flehend, ihre fließenden Bewegungen beim Abräumen, die alle nur auf ihn gerichtet zu sein schienen, die Art, wie sie ihm ein flüchtiges Küsschen auf die Wange drückte, als beide den Gartenzaun erreicht hatten, verrieten ihm, dass er sich für immer und ewig ihrer Unterstützung gewiss sein konnte. Mit jeder Faser ihres Herzens liebte sie den Wirt und den Mann in ihm, und sie konnte auch mit dem Henker in ihm leben. Dessen war er sich immer sicher gewesen, heute indessen mehr denn je. Wohl auch, weil er ihre Zuversicht heute mehr denn je benötigte. Es war offenbar doch ein ganz besonderer Tag.
Er nahm sie in den Arm, nicht länger als nötig, denn die Nachbarn schauten zu und würden sofort registrieren, dass er heute wieder einmal früher als sonst das Haus verließ und an der Straßenecke auf den Überlandbus nach Preston wartete, anstatt wie sonst am Nachmittag mit dem Wagen Besorgungen zu machen und seine Einkäufe dann zum Pub zu fahren. Plötzlich sagte Ruth doch etwas. „Man sollte meinen“, bemerkte sie und ließ ihn ihre Körperwärme spüren, „deine Euphorie habe sich in den Jahren ein wenig verflüchtigt. Und doch freust du dich heute wieder wie ein kleiner Junge, nicht wahr?“ Zuweilen hatte sie diese etwas merkwürdige Gewohnheit, sich hochtrabend auszudrücken und ihre Worte sorgsam zu wählen. Sie behauptete oft, eine literarische Ader zu besitzen. Und überhaupt für alles Musische empfänglich zu sein. Wer konnte schon mit Sicherheit sagen, ob das wirklich zutraf?
Rupert stimmte ihr zu. Sie hatte nicht unrecht: Er konnte es in der Tat kaum noch abwarten, auf Reisen zu gehen. Und seine Pflicht zu tun. Die Lust am Hängen, die Lust am Strafvollzug war wieder zu ihm zurückgekehrt. Schon beim Aufstehen hatten sich elementare Bedürfnisse bei ihm zurückgemeldet. Gleichzeitig fiel ihm unwillkürlich auf, nicht zum ersten Mal, dass Ruth neuerdings wieder zur Üppigkeit neigte. Während Rupert, wie sie spöttisch und mit weit weniger anspruchsvollen sprachlichen Wendungen befand, wenn sie abends im Bad nebeneinander standen, seltsamerweise aus nichts als Haut und Knochen zu bestehen schien. „Mein hagerer Hund“, gurrte sie, lachte schelmisch auf, und Rupert feixte.
Dürr, das stimmte, dürr war er schon. Schlaksig und mager, so wie sein Daddy und dessen Bruder. Und das, obwohl er sich ohne Zurückhaltung über jeden Sunday Roast hermachte, den sie auftischte, und sich auch bei den leckeren, kalorienreichen Scones, die zur Tea Time gereicht wurden, gütlich tat. Rupert war es recht so. Dass Ruth diese herrlichen Rundungen besaß, gefiel ihm ungemein, und dass er zur Belohnung verdrücken konnte, was er wollte, ohne jemals auf sein Gewicht achten zu müssen, mindestens ebenso.
„Gute Reise, my love“, hauchte Ruth ihm ins Ohr, löste sich aus seiner Umarmung und wandte sich auf dem Absatz um.
Rupert rief ihr ein „See you tomorrow!“ hinterher, wartete, bis er die Haustür hinter ihr ins Schloss fallen hörte, drehte sich nicht noch einmal um und spazierte die kaum belebte Hauptstraße des Dorfes entlang gemächlich auf die Haltestelle zu.
Schon sah er den Bus von Südwesten herannahen, er war pünktlich. In zwanzig Minuten würde Rupert in Preston sein, dann mit dem Vorortzug nach Manchester weiterfahren und um vierzehn Uhr mit dem Wochenend-Express von der London Road Station in die Hauptstadt reisen. Zweiter Klasse, das war an einem Freitagnachmittag am unauffälligsten. Und mit leichtem Gepäck – Beaufort führte nur eine Aktentasche mit sich, in der sich Füller und Papier, die Wochenendzeitung, ein Regenschirm, Waschzeug und frische Wäsche befanden. Sowie ein weißes Tuch, das er seinem Delinquenten morgen früh wie eine Kapuze über den Kopf ziehen würde.
Ein Gnadenakt, den er stets gern erwies. Einer von vielen. Eine letzte Geste der Schicklichkeit.
Alles würde wie immer sein.
Tagträume gestattete er sich durchaus. Besonders während der langen, schier endlosen Zugfahrten quer durch das Vereinigte Königreich. Mit leerem Blick starrte er aus den verschmutzten Fenstern in die vorbeiziehende Landschaft aus Grün- und Brauntönen und die sich wie in Zeitlupe entfaltenden Städte und Industrieanlagen, nahm die heruntergekommenen Provinzbahnhöfe und die traurig in den Junihimmel ragenden Fabrikschlote nicht wirklich wahr, auch die wartenden und rauchenden Passagiere auf den Bahnsteigen nicht, ignorierte zu- und aussteigende Mitreisende, klappte die Lider herunter, registrierte nichts Bestimmtes um sich herum.
Kurz, er verbrachte die Fahrtzeit wie in Trance. Blendete alles aus, lästige Gespräche, unbeholfene Anbandelungsversuche unter Teenagern, das öde Geschnatter aufgeregter Hausfrauen, die zum Shopping nach London unterwegs waren, fußballverrückte Männer, die fachsimpelten und andere von den Vorzügen gerade ihres Clubs überzeugen wollten, Fahrkartenkontrollen, fliegende Händler, das ewige Geschiebe von Koffern und Taschen, das inquisitorische Auftreten der Schaffner, von Sitznachbarn angebotene Bonbons, den strengen Geruch eines ausgewickelten, mit Innereien belegten Sandwiches, das Geräusch, wenn sich jemand aus einer mitgebrachten Thermoskanne Tee eingoss, die Ausdünstungen eines Arbeiters, der nach der Frühschicht in der Fabrik noch nicht dazu gekommen war, sich zu reinigen, all das also, was nichts mit seiner Aufgabe zu tun hatte.
Rupert schlug die Zeit tot, nutzte die langen Stunden und das monotone Geratter, um bei der Ankunft noch wachsamer, noch konzentrierter sein zu können.
Tagträume waren sehr hilfreich. Um Fremde abzuwimmeln, die ihn im Abteil erkannten, auch wenn er den Hut weit ins Gesicht gezogen hatte. Und ihn bedrängten und bestürmten. Mit Fragen, Glückwünschen und Kommentaren.
„Sie sind’s doch, Beaufort, stimmt’s?“, war die Standardformel.
„Großartig, wie Sie Ihren Job machen!“, bekam er ein ums andere Mal gesagt. Gefolgt von einem solidarischen „Weiter so, alter Freund. England ist stolz auf Leute wie Sie.“
Rupert verfuhr wie im Pub: Er bedankte sich artig, winkte bescheiden ab und lächelte, behalf sich mit ein paar nichtssagenden Floskeln, schlug wie ein junges Mädchen, dem man zum ersten Mal etwas Nettes sagt, verschämt die Augen nieder und gab deutlich zu erkennen, dass er nicht an Austausch oder Konversation interessiert war. Meistens gelang ihm das. Wenn nicht, verzog er sich in den Speisewagen, begab sich zum Rauchen in den zugigen Zwischenraum zwischen den Waggons oder versteckte sich hinter seiner Zeitung, gähnte vernehmlich oder täuschte ein Nickerchen vor. Dabei war er hellwach.
Tagträume waren kein Allheilmittel gegen Belästigungen. Es war schon vorgekommen, dass, obschon er so unbeteiligt wie möglich zur Seite geblickt und betont gelangweilt getan hatte, ihn jemand in eine langwierige Unterhaltung verstrickt hatte, aus der er nicht entkommen konnte. Irgendein Unbedarfter und Wissensdurstiger, der ihn bis zur Ankunft nicht aus seinen Klauen ließ, dem immer noch weitere Fragen zu den Delinquenten einfielen, zu den Gräueltaten, die zu ihrer Verurteilung geführt hatten, zum Ablauf der Hinrichtung natürlich, zu Ruperts persönlichen Gefühlen und Eindrücken beim Hängen – intime Einzelheiten, über die er nie reden mochte, Gott bewahre, schon gar nicht mit einem Fremden. Außerdem hatte er vor Jahrzehnten eine bindende Erklärung unterschreiben müssen, die ihn zu radikalem Stillschweigen verpflichtete. Auf Lebenszeit. Ein solches Gelöbnis war ihm heilig. Innerlich, während er eine heitere Miene aufsetzte, verfluchte er dann diesen so bemühten, enthusiastischen Menschen vor ihm, der ihm Löcher in den Bauch fragte, weil er endlich einmal die Chance sah, über die Unterredung mit ihm direkt mit dem vermeintlich Bösen in Verbindung zu treten.
Rupert hütete sich, solche Leute zu verprellen oder abweisend zu wirken. Der Galgenmann ertrug solche Zumutungen mit Galgenhumor. Das gehörte wohl zu seiner Stellung und zu seinem Amt dazu, dieses unablässige, eintönige Interesse. Das musste man aushalten. Er wollte niemanden vor den Kopf stoßen. Und auch nicht verärgern.
Dass seine Fragensteller aber mit Enttäuschung reagierten, wenn sie bei ihm auf Granit stießen, das wiederum konnte er nicht verhindern. Dessen ungeachtet war ihm wichtig, dass sie ihn in guter Erinnerung behielten. Als zwar zugeknöpften, doch umgänglichen Zeitgenossen. Für maulfaul oder verschüchtert sollten sie ihn seinetwegen halten, aber nicht für unhöflich, ruppig oder gar feindselig. „Doch nicht so spannend, wie wir dachten. Doch kein so aufregendes Gewerbe. Und nicht gerade redegewandt, der Bursche …“: Wenn sie so von ihm dachten, wenn dies ihr Image von Rupert Beaufort war, dann ging das in Ordnung.
Heute war alles gut gegangen, man hatte ihn im Zug und auch auf dem Bahnhofsgelände in Frieden gelassen. Die Reisezeit war wie im Nu vergangen. Rupert schritt, vom Gefühl beseelt, dass auch sonst alles wie am Schnürchen laufen würde, mit großer Eile aus dem Bahnhofsgebäude heraus und winkte ein Taxi herbei. Der einzige Luxus, den er sich im Rahmen seiner Aufträge leistete. Um nicht auch noch durch dicht gedrängte Großstadtstraßen hetzen zu müssen, um der unangenehmen Nähe von Menschenmassen zu entgehen. Um Clochards und Rowdys konnte er auf diese Weise einen großen Bogen machen und zugleich Ansammlungen aggressiver Spinner vermeiden, unter denen, wer weiß, womöglich auch noch Streitsüchtige waren, die für die Abschaffung der Höchststrafe demonstrierten und ihm den Weg in die Strafanstalt versperren mochten.
Er warf sich auf den Rücksitz und schnippte, unternehmungslustig und auch ungeduldig, mit den Fingern. Der Fahrer, ein mürrischer Alter, der kaum die Zähne auseinanderbekam, gab nicht zu erkennen, ob er begriffen hatte, wen er da durch London kutschierte.
„Wandsworth Prison – und sparen Sie die großen Boulevards aus“, kommandierte Rupert ihn herum und zündete sich eine Zigarre an.
Das Zigarrerauchen gehörte für ihn wie schon für seinen Onkel Theodore, den alle Welt nur Uncle Theo genannt hatte, einfach zu den Ritualen dazu, mit denen man sich das Hinrichtungswochenende etwas angenehmer gestalten konnte. Drei pro Auftrag, mehr nicht.
Uncle Theo, der nun schon zwei Jahre tot war, hatte ihm auch das beigebracht.
Rupert kurbelte das Fenster herunter und spähte in den bleiernen Londoner Himmel. Es hatte sich bezogen und war, den gemäßigten Temperaturen zum Trotz, schwül geworden. Mit der kaum gelesenen Zeitung fächelte er sich Luft zu. Tauben flatterten vorbei. Als sie die Themse überquerten, ließ der Verkehr merklich nach. Auf den Trottoirs südlich des Flusses wimmelte es dagegen nur so vor Tagedieben, ausgehwütigem Volk und einkaufenden Hausfrauen. Vor den Pubs bildeten sich die ersten kleinen Schlangen, durchweg Männer, viele von ihnen noch in Arbeiterkluft. Die Freiflächen vor den Kinos waren gerammelt voll. Junge Frauen in Petticoats, die sich schick gemacht und die Haare toupiert hatten, standen sich dort die Beine in den Bauch.
Das Taxi bog in eine Seitenstraße ein, musste einmal scharf an der Kreuzung bremsen, um einer älteren Dame den Vortritt zu lassen, ließ einen belebten Park, Clapham Common, und ein verwaistes Cricketfeld rechts liegen und verlangsamte schließlich seine Fahrt.
Rupert vergewisserte sich, bevor er das Auto verließ – denn nur drinnen war er in Sicherheit: Noch waren weit und breit keine Demonstranten oder Fanatiker zu sehen, keine Transparente, noch waren keine Trillerpfeifen oder wütenden Gesänge zu vernehmen.
Menschenleer lag der abweisende Platz vor Portal und Haupteingang vor ihm, dahinter die große steinerne Festung mitsamt Barrikaden, wehenden Fahnen, Wappen, winzigen vergitterten Fenstern. Gewitterwolken brauten sich über der Fassade zusammen. „Welcome, Rupert“, sagte er zu sich selbst, und dann brach er in Schweiß aus.
Vor dem Gefängnistor beim Aussteigen würdigte ihn der Chauffeur keines Blickes, hielt ihm am ausgestreckten Arm missmutig die Aktentasche hin. Bildete er es sich nur ein, dass er von ihm angeknurrt wurde?
Er hörte etwas genauer hin. Ja, kein Zweifel: Hier wollte einer Stunk machen. Hatte der Mann etwas gegen ihn? Grollte er oder zählte er zu seinen erklärten Feinden? Welche Laus war ihm nur über die Leber gelaufen?
„Thank you, Sir“, brachte der Alte dann mühsam hervor, verbeugte sich unmerklich und unterdrückte seinen Unmut, als Rupert ihm die Münzen einzeln in die Hand zählte. Presste die Lippen zusammen, so als würde jemand versuchen, ihm Gift einzuflößen. Viel hätte nicht gefehlt, und er hätte ausgespuckt oder das Geld auf die Straße geworfen.
Rupert entschied, das ungebührliche Betragen des Mannes nicht auch noch mit einem Trinkgeld zu belohnen.
Er hielt inne und nahm die Haftanstalt in den Blick. Merkte, wie vertraut ihm gleich wieder alles war. Der Stacheldraht, die Scheinwerfer, die auf und ab patrouillierenden Wachen, die Schäferhunde mit Maulkorb. Die Abwesenheit von Passanten und spielenden Kindern. Die tödliche, gespenstische Stille. Sein Zuhause, sein Revier.
Er drückte den Rücken durch und schien über sich hinauszuwachsen. Der gute alte Henderson stand schon bereit, tippte zum Gruß an die Mütze, lächelte knapp.
Alles war wie immer.
Seite an Seite mit Henderson durchschritt Rupert die ellenlangen Flure, nahm zuvor kurz vom Büropersonal Notiz, das sich zu seiner Begrüßung im Eingangsbereich versammelt hatte, und ließ sich eine Sicherheitstür nach der anderen von Henderson aufschließen.
In jenen Zellen, die vom Innenhof nur durch Gitter abgetrennt waren und nicht durch Wände, standen die Gefangenen Spalier und verfolgten ihn mit den Augen. Keiner muckste sich, niemand erhob die Stimme. Alle wussten genau, wer hier zu Besuch kam und was sein Erscheinen zu bedeuten hatte. Als der Bedienstete und er, vom Erdgeschoss in den dritten Stock gelangt, nach etlichen Minuten endlich im Sicherheitstrakt angekommen waren, standen wie üblich schon der Gefängnisdirektor, Mister Lurie, jemand vom Justizministerium, ein kleiner Beamter, und ein Vertreter der Staatsanwaltschaft, ein hohes Tier, dessen Namen er sich nie merken konnte, bereit.
Und Howard natürlich, ein Mittdreißiger aus Leeds, Howard Phelps, sein treuer, zuverlässiger Assistent, der ihm nun schon seit vielen Jahren zur Hand ging. Und ihn jetzt mit einem breiten Grinsen empfing.
Man war unter sich in dieser Männerrunde, man kannte sich. Alles war eingespielt, man konnte getrost zur Routine übergehen. Hände wurden geschüttelt, knappe Begrüßungen ausgetauscht.
„Schön, dass Sie mal wieder bei uns sind, Beaufort“, sagte der Gefängnisdirektor mit unverstellter Freundlichkeit zu ihm und sah ihn dabei direkt an, eine Spur zu lang vielleicht. Eine Anspielung auf die dumme Angelegenheit in Pentonville? Rupert hatte nicht den Eindruck.
„Sie wissen ja, was zu tun ist“, fuhr der ältere, ehrwürdige Herr fort, auch er nicht in Uniform. „Ratschläge benötigen Sie nun wirklich nicht.“
Er nickte Rupert anerkennend zu, gab ihm zu verstehen, wie sehr er es schätzte, dass der Executioner sich hier bestens auskannte, hielt inne – fiel ihm noch etwas ein? – und räusperte sich.
„Wir sehen uns dann morgen früh.“
Lurie verabschiedete sich gleich wieder. Der Priester und die beiden Wärter, die während der Prozession zu beiden Seiten des Sträflings mit ihm von der Todeszelle in die unmittelbar benachbarte Schreckenskammer schreiten würden, waren noch nicht anwesend. Sie würden erst im Morgengrauen dazustoßen und dann zwei Kollegen ablösen, die den Vortag und die Nacht mit dem Verurteilten verbrachten. Oft waren sie es, mit denen der Unglückliche Zigaretten rauchte und palaverte, seine Henkersmahlzeit zu sich nahm. Oft waren sie es, die am meisten von ihm erfuhren, seine Nöte, seine letzten Geheimnisse, die seine Verzweiflung und seine Tränen zu sehen bekamen, manchmal auch seine Reue, seine tiefe Bestürzung.
Oft waren sie es, die nach der Todeshandlung Mühe hatten, die Fassung zu bewahren. Vielleicht, weil sie dem zum Sterben Verdammten so verdammt nahe kamen. Und als Vorletzte dessen Körperwärme gespürt hatten, die dann auf einmal nicht mehr da war, wie weggezaubert.
Rupert teilte sich mit Howard eine Zelle, eine Etage höher. Mit einem Waschbecken sowie zwei Feldbetten ausgestattet und recht komfortabel, „unser Wohnzimmer“, witzelten sie, ihr Living Room. Wenn Phelps auch die Angewohnheit hatte, fürchterlich laut zu schnarchen. Für ihr leibliches Wohl würde gesorgt sein. Oft sogar war das Essen, das man ihnen hochbrachte, erstklassig und stammte gar nicht aus der Gefängniskantine. Woher genau und wer dahintersteckte, blieb ihnen verborgen: ein unbekannter Gönner. Gewiss ein Förderer, ein Befürworter des Todes durch den Strang, dem es eine Herzensangelegenheit war, den Henkern ihren Arbeitstag so angenehm wie möglich zu gestalteten.
Den angebotenen Alkohol lehnten sie kategorisch ab. „Hinterher“ genehmigte sich Howard, noch an Ort und Stelle, gern ein Bierchen oder einen Cognac, denn die Gefängnisleitung hielt immer ein paar hochprozentige Getränke und Erfrischungen bereit, sobald alle wieder außerhalb der Schreckenskammer waren; Rupert trank erst, wenn er und Howard die Haftanstalt verlassen hatten und vor der Heimreise noch irgendwo in London einkehrten. Meistens spielten sie am Vorabend Karten, unterhielten sich über dies und jenes und legten sich früh schlafen. Um bei Tagesanbruch fit und hellwach zu sein.



