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Gudrun und Hartmut Koschyk zeichnen hier im Namen des Alexander-von-Humboldt-Kulturforums seit 2008 für Symposien, Vorträge, Konzerte, Liederabende, Ausstellungen und Theateraufführungen verantwortlich. »Daß Humboldts Genialität hier in Franken zur Entfaltung kam«, betont Hartmut Koschyk zu Recht, und er habe sich »immer gewundert, warum man so wenig aus Jean Paul gemacht hat. Der Jean-Paul-Preis wird in München verliehen.«
Sein Anliegen ist es, »Bewußtsein für Humboldt in der Region zu wecken«. Mittlerweile kämen Humboldtianer »aus China, Afrika und der arabischen Welt« in diesen »beschaulichen Ort«, in diese dörfliche Stadt, man müsse indes, wolle man den »Wegbereiter der Globalisierung«, der in dieser Kleinwuselwelt regelrecht aufblühte, den Menschen nahebringen, die hiesigen Gesangvereine und Posaunenchöre einbeziehen, was, verrät ein Blick in die Programme der Goldkronacher Kultursommer, offenbar bestens gelingt.
»Die Leute sind offen für das geistige Erbe Frankens«, für den interkulturellen Dialog, nicht minder für die Vermarktungspotentiale jener beiden Intellektualgrößen, die sich nie begegneten und die nie miteinander ein »braunes Bier« (Jean Paul) auf der Terrasse des Goldkronacher Schlosses goutierten, das grünblaugoldene Landschaftspanorama förmlich in sich hineinsaugend.
Wir treffen den Schauspieler und Rezitator Hans- Jürgen Schatz in Goldmühl, das bereits zu Bad Berneck gehört. Humboldt wohnte 1793/94 in der Alten Mühle. Im Schwarzen Roß nebenan, in fünfter Generation in Familienbesitz, kredenzt man uns zum seraphischen Steak dunkles Beck’n-Bier aus Büchenbach. Hans-Jürgen Schatz, künstlerischer Leiter der im Oktober stattfindenden ersten Jean-Paul-Tage in Bad Berneck, versucht seit 1992, die »Nachempfindbarkeit der Entstehungsbedingungen der deutschen Romantik« durch akribisch arrangierte Lesungen zu befördern und Jean Paul »durchzusetzen«. »Man braucht Ruhe, um Jean Paul zu lesen«, merkt er an, auch als Vortragender müsse man sich seine wildwüchsigen, gestrüppartigen, gewissermaßen avant la lettre postmodern mäandernden artistischen Welterkundungen »zäh erschließen«. »Doch wenn man Jean Paul kommentierend und einordnend vorstellt, sagen die Leute: ›Vorgelesen ist es gar nicht mehr so schwer.‹«
Der in sich schlingernde Schwebezustand, das ist womöglich die Jean Paulsche Lese- und Lebensempfindung. Das gute Goldkronacher Gefühl. Sehr groß ist er, mit Rilke zu raunen, der Sommer, sehr groß ist sie, die kleine »geflügelte Welt« (Jean Paul: Siebenkäs). Das Firmament blank und heiter. »Man kann die seligsten Tage haben«, schwärmt Jean Paul, »ohne etwas anderes dazu zu gebrauchen als den blauen Himmel.«
Laß uns vor die Tore der Stadt wandern, nur ein paar Meter. Laß uns behaglich die Luft und die gescheckten, sich in die Ferne hineinschmiegenden Wolken atmen. Laß uns die Untererde der Gesteine vergessen und das grüntrunkene Gehügel, Gesäume und Gebüschel schauen, das herumwackelnd’ Getier, das brummelnd und bummelnd sich wandelnde Wimmeln, die gnadenreiche Illumination all dessen, laß die Wonne Oberhand gewinnen in einem Kosmos, den Jean Paul ersonnen haben muß und aus dem man langsam, langsam herausfallen möcht’, weich und zeitverzögert.
»Weizen?« – »Ja, gerne.« Die schlanke, kleinwüchsige Bedienung der Krone kennt uns unterdessen. Ein Einwortfragesatz langt. Die Bachstelze flaniert wippend vorbei. Der Koch tritt vor die Tür und erkundigt sich beim Mittagstisch, ob es schmecke. Ein altes, dürres Weiblein, die Nachbarin, sitzt auf der Bank vor ihrem Haus und lugt.
Das zweite Weizen kommt. »Brauch’ mer net anschreib’n, oder?«
In der milchig beleuchteten Schwemme, in der die olfaktorische fränkische Signatur von Sauerkraut und Angebratenem prosaisch verwunschen herumwabert, ist sie noch einmal zu spüren, die fußläufige Weltläufigkeit der beharrlich geschmeidigen Jean Paulschen Seele, und an der Wand hängt ein Schild: »Als der Herrgott die Arbeitsstunden der Wirtsleute mit deren Einkommen verglich, drehte er sich um und weinte bitterlich.«
Daß sich innere und äußere Welt »wie zwei Muschelschalen aneinanderlöten und dich als ihr Schaltier einfassen«, das ist uns, »doppelselig« (Wutz), beschieden. Es ist gar recht dies alles, vor allem, wenn man wähnt, geistig in den Seilen zu hängen, die durch die Leere gespannt sind.
Ein Mann in einem grünen Poloshirt schlappt mit einer goldenen Tuba auf den Marktplatz. Stände sind aufgebaut, anläßlich des alljährlichen Marktplatzfestes. Sie bieten Waffelbruch, Schaumwaffeln, gebrannte Mandeln, Kokosmakronen feil, wie in unserer Kindheit. Luftballons flattern im linden Wind, und vom Stand des Kleintierzuchtvereins Goldkronach gackert ein Huhn so unablässig und mechanisch herüber, als sei es eine elektronische Attrappe. Erst als wir es begutachten, gewahren wir: Es lebt. Es ist ein Zwerg-Vorwerkhuhn.
Auf einem Informationsblatt der Frauenliste Goldkronach (»Nerven und Abgase sparen: Bus fahren«) finden wir eine Verbindung nach Bayreuth. Es schmerzt, der Ruhe den Rücken kehren zu müssen. Aber die Aussicht aufs gelbgrüne Buckelland rundherum wird uns dafür entschädigen, die Aussicht auf die gestaltgewordene Sanftmut unter einer unvergleichlichen Goldlichtglocke.
Lehnen wir ab
Kopfschmerzen bei Beck’s und Co. – nie zuvor haben die Deutschen weniger getrunken als 2013. Selbst schuld, sagt Jürgen Roth, Präsident des in Münster ansässigen Deutschen Bier-Institutes.
Der Bierverbrauch ist auf einem historischen Tiefstand. Ist bei Ihnen jetzt Frustsaufen angesagt?
Roth: Wir sind da zwiegespalten. Sehr zu unserer Freude ist der Rückgang gerade bei den Großbrauereien massiv. Da dürfte sich auch der Bierkartellskandal auswirken. Die Leute sind einfach nicht mehr bereit, für Markenprodukte mehr auszugeben als für beinahe identische Billigbiere. Traurig ist andererseits, daß die Menschen seltener in Gaststätten gehen, u. a. weil das Bier dort viel zu teuer ausgeschenkt wird.
Der Brauer-Bund führt das schlechte Wetter als Grund für den Rückgang an. Dabei war 2013 in unserer Erinnerung ein Topsommer.
Dieses dumme Gequatsche geht seit fünfzehn Jahren so. Nach dem Jahrhundertsommer 2003 wollten uns dieselben Leute weismachen, daß es zu heiß war und deshalb die Leute lieber Limonade getrunken hätten. Lachhaft.
Könnte es schlicht sein, daß die Deutschen längst nicht mehr das beste Bier brauen?
Die Erkenntnis setzt sich offenbar langsam durch. Daher sind sogenannte Craft-Biere – eine Bewegung aus dem angelsächsischen Raum – im Vormarsch, bisweilen mit Sorgfalt gebraute Getränke. Die Leute haben die Schnauze voll vom designten Einheitsbierbrei. Ein anderer Aspekt ist der Fitneßwahn der Deutschen, die Bier verteufeln und meinen, Weißweinschorle sei gesünder. Oder sie trinken gleich alkoholfreies Bier – ein Trend, den unser Institut rundweg ablehnt.
Gleiches gilt womöglich für Bier mit Limonengeschmack.
Wer so etwas über seine Lippen rauschen läßt, mit dem reden wir gar nicht erst.
Bierschatten
Von Thomas Kapielski

Mit Beharrlichkeit und gutem Beistand, der auf Stilgefühl im Volke schließen läßt, ließ sich in vielen Gaststätten der Willybecher wiedereinbürgern und irriges Bierglasdesign zurückdrängen. Der Willy ist ein (des darin waltenden Goldenen Schnittes wegen) ebenmäßiges, schlichtes Bierglas, das alle Standardgrößen von 0,2 bis 0,5 l harmonisch zu variieren vermag. Gestaltet hat es kein Designer, sondern Willy Steinmeier, Vertriebsleiter der Ruhrglas AG. Allein solchen Geistes entsprossenes Glas und ähnliche Humpen und Kelche sind dem Biere angemessen; zu Recht trägt es des Schöpfers Namen. Führt eine Wirtschaft den Willybecher, dann hat sie die Prüfung bestanden. Der hier abgebildete steht parat im tadellosen Wirtshaus Wuppke zu Berlin.
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Hier lebte und wirtschaftete einst der Blaue Affe am Berliner Hermannplatz. Es gab ihn seit den zwanziger Jahren, als ein Rausch noch Affe und ein Bier- und Schnapsrausch blauer Affe hieß. Ich besuchte ihn ab und an seit 1971, regelmäßig dann von ’82 bis ’88, dann erst wieder (leidiger Umzüge wegen) ab ’91 bis ’98. (Im Film Das Quiller-Memorandum – Gefahr aus dem Dunkel sieht man den Tisch, an dem sich der Verleger Bernd Kramer mit mir besprach und anregte.) Kneipen leben ahistorisch, allenfalls zyklisch – nicht apokalyptisch! Der Blaue Affe war ein Himmel auf Erden. Heute stehen Geldautomaten einer Bank darin. Im Hammer vis-à-vis werden schon seit Jahrzehnten Matratzen verkauft; bevor er starb, war er, einer Renovierung wegen, längst unheilbar. – So waltet wohl doch eine Endzeit!
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Auch diese Wirtschaft ist durch verunglückte Auffrischung schwer beschädigt worden. Sah sie zuvor, wie abgebildet, noch dem Foyer und der Frühstücksstube eines plüschigen Vertreterhotels ähnlich (was auch schon unstatthaft ist, aber gemütlich war), so gleicht sie nun einer klinischen Wartehalle. Die unübertrefflichen Gäste, das vortreffliche Personal, die Raucherlaubnis und der Willybecher sind erhalten geblieben; sie bilden den fügenden Rest. Überdies hofft man – mehr Hoffnung besteht vorerst nicht! –, die Raucher werden die geweißten Wände alsbald wiedergutmachen. Einer unter uns Betrogenen aber sprach schon verdrießlich: »Wenn ick mein Bier inne Sushibar oda Eisdiele saufen will, denn tu ick dit – inne richtje! Ick will aba ’ne Kneipe! Und da jeh’ ick jetz hin!«
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Oder sollen wir uns denn eines Tages nach Zürich auf den Weg machen müssen, die alten, währschaften Kneipen zu suchen?
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Hier läuft es noch ganz gut, bei Büttelmann in Spandau! Trotz schepper Kugeln und Tischdecken. Das heitere Alltagsleben dort ist beschrieben im Roman Je dickens, destojewski!: »Ernst Wuboldt trat ein und grüßte einen jeglichen Gast im bevölkerten Raumrund. In liebbraunes Licht getunkt, grüßte das Trinkvolk unbeirrt brummelnd dawider. Ein leichter Wind bewegte Gardinen, und diese wiegten der Sonne wuselnde Strahlen durch den zarten Tabakdunst über Tische und Leiber hinweg. Im Lichtbalken, der durch die Tür einfiel, tanzten Stäubchen. Dem Wirt saß ein schicklich lodernder Sonnenfleck im Antlitz; des Büttelmanns Brillenglas lohte forsch wider und beflügelte den Schwung seines Geistes. Den Wuboldt machte es herzfroh, seinen Wirt so frisch und besonnt zu sehen. Er fand gewohnten Platz am Rundtisch. Schon blickte er mit glaubensstarker Muße auf sein von fern herbeieilendes Bier …«
Quatsch! Klar. Sowohl als auch. Logisch
Es gibt nicht einen Grund, nach Berlin zu fahren. »Berlin, das nichts ausläßt und alles bewilligt, sofern es sich um Schwachsinn und Ausschweifung handelt« (Thomas Kapielski), kann mir gestohlen bleiben – und zwar nicht erst, seit alle naslang jeder warum auch immer dazu Berufene seinen Blödsinn zur bombig brummenden Berliner Kultur- und Partyszene von sich gibt.
Man muß jedoch ab und zu beruflich nach Berlin, und dann treffe ich mich, wenn es irgend geht, mit Thomas Kapielski in der Gastwirtschaft Wilhelm Hoeck. Da sitzen wir dann in diesem gestaltgewordenen »Berliner Zillestubenideal« (Eckhard Henscheid), plaudern und trinken Bier, zügig eins nach dem anderen (»Arne, mach noch eins! Nee, zwei!«), bis ich zum Flughafen aufbreche und mich dabei bereits aufs nächste Mal freue.
So. Mehr nicht.
Nein, schon, zum Beispiel wenn unsere Freunde Barbara Kalender und Jörg Schröder beschwingt mitzechen und unser Quartett in funkelnder Uneinigkeit die Zeit damit zubringt, darüber zu »diskutieren« (Wowereit), ob Andreas Baader schlicht ein arrogantungebildetes Arschloch war. Jörg: »Quatsch!« Thomas: »Klar.« Barbara: »Sowohl als auch.« Ich: »Logisch.«
Oder wenn die Rede auf Eckhard Henscheid kommt. Thomas hält ihn für ein Genie, ich halte ihn für ein Genie, und obwohl bei soviel Einigkeit gemeinhin wenig Gesprächsbedarf besteht, finden wir kein Ende. Daß Kapielskis Bemühungen, Henscheids neues Buch bei Merve unterzubringen, keinen Erfolg hatten, ist schade. Diese beiden Fixsterne der deutschsprachigen Literatur im selben Haus beheimatet zu sehen, wäre gar zu schön gewesen.
Heute feiert Eckhard Henscheid seinen siebzigsten Geburtstag, übermorgen feiert Thomas Kapielski seinen sechzigsten Geburtstag. Wir erheben uns und wünschen beiden das denkbar Beste.
Daß ich Thomas Kapielski ebenso verehre wie Eckhard Henscheid, muß ich vielleicht nicht gesondert hervorheben. Mache ich aber. Und weil ich mit Eckhard Henscheid auch mal im Gasthaus Fuchsbeck in Sulzbach-Rosenberg ein paar Seidla getrunken habe, möchte ich, die geistige Verwandtschaft beider Dichter weder beschwörend noch herbeifaselnd (obschon ich als Gewährsmann etwa Stephan Wackwitz nennen könnte, der 2009 in der taz schrieb: »Die literarische Karriere Thomas Kapielskis, das wird erkennbar, je länger sie dauert und sich ausdifferenziert, weist Parallelen auf zu derjenigen Eckhard Henscheids«), aus Kapielskis Buch Mischwald (Frankfurt/Main 2009) zitieren:
»Dann eilte ich weiter hinauf in den Ort, der trotzig wider Amberg auf einem Berge ansitzt, zum Fuchsbeck, dem Hausbräu hin […]. Der Wirt […] fabuliert welt- und weitläufig. […] Dann im Zug nach Amberg, das mich enttäuschte: Weder ANO noch Bayrischen Hof gibt es noch; alles sehr schick insgesamt (Café Colomba und so die Richtung; der übliche Café-Mulatte-Unfug mit langen Weißschürzen an Germanistikstudentin) […]. Eine Absturzkaschemme, die sich gleichwohl auch als Speisegaststätte gerierte (im Raume Steinhofgasse?), besuchte ich dennoch instinktsicher. (Nee, eher befand ich sie.) Auffällig ein Holzschild mit solcher Inschrift: ›Der Kopf tut weh / Die Füße stinken / Jetzt müssen wir / Ein Bierchen trinken!‹«
Und ein paar Absätze weiter: »Und noch ein Amberger Schnapsschuß: Einer bauchfreien, gepiercten als auch gearschadlerten, dicklichten, jungen, gleichsam schon alt aussehenden Oberpfälzerin will so ein Rollkoffer am Amberger Bahnhof nicht recht gehorchen; da flucht sie laut: ›Fuck! Oldä!‹ (Und meint sowohl sich, maskulin adressiert!, als auch ihr Ungeschick. Und den Koffer och noch!)«
Wie heißt es in Eckhard Henscheids »kleinem Stadtführer« Unser liebes Amberg (bibliophile Neuausgabe 2003)?
»Diese Stadt ist eine einzige, langdurchzogene, lästerliche und alles in den Bann ziehende Natur- und Intellektualgemeinheit. In den Köpfen der Bürger nisten Brutalität, Infamie und der hundertprozentige Wille zu nichts. […] Unverschämtheit und Unzurechnungsfähigkeit gehen Hand in Hand in dieser aufs äußerste gemeingefährlichen, heruntergekommenen, durch Hinterhalt und Lüge kriminell heruntergewirtschafteten Stadt.«
Und, um es nicht zu unterschlagen: »In den Gastwirtschaften ertönt, so die tägliche Erfahrung, der beherrschendste und niederreißendste Wurstesser- und Biertrinkerlärm. Der Gedanke an ein Glas Bier führt oft zu den allergrößten Überschätzungen. Kaum haben sie ein Glas Bier, wollen sie noch eins und schütten auch noch vollkommen hingerissen und verblendet Schnaps drauf. Die Parteien begrüßen es.«
Wir auch.
Vom Sinnlichkeitsvorreiter zur Sushibarbegeisterung
Im Gespräch mit Eckhard Henscheid.
Roth: Wie gestaltete sich dein erster Aufenthalt in Frankfurt?
Henscheid: Der hatte schon mit einem bestimmten Frankfurt-Bild zu tun. Am Tag nach Adornos Tod, es muß also am 7. August 1969 gewesen sein, hat es der Zufall gefügt, daß ich Adornos Nachfolge angetreten habe, indem ich mich bei pardon vorstellte, der damals noch dominierenden satirischen Zeitschrift. Und meiner Erinnerung nach war bei mir tatsächlich so eine Art Bild von Frankfurt mit Satire, mit Komik, mit Intelligenz verschwistert. Das hat sich zum Teil hergeleitet – wie ich das später beschrieben habe – vom Spielwitz der Frankfurter Eintracht, aber auch von pardon, deren mehr oder weniger hingegebener Leser ich seit einigen Jahren gewesen war. Ich hab’ mir aber auch eingebildet – nicht ganz zu Unrecht –, daß die alte Frankfurter Schule, also die Kritische Theorie, mit dieser Art von Satire doch auch einiges zu tun hatte. Es gibt zum Beispiel von Adorno ein paar kleinere Texte, die in ihrer Anlage ausgesprochen satirisch sind – etwa ein Stück über einen amerikanischen Konzertführer, ein Lieblingstext von mir, an dem man Adornos satirisches Talent ebenso erkennt wie die Karl-Kraus-Schule. Dieser Eindruck hat sich allerdings später sehr stark verändert. Habermas zum Beispiel ist ein komplett humorfreier und komikunfähiger Mensch, dem die Idee, daß die Neue Frankfurter Schule mit der alten was zu tun haben könnte, wesensfremd ist. Er fällt aus allen Wolken, wenn er mit solchen Dingen konfrontiert wird. Insofern hat sich mein Frankfurt-Bild bestätigt und zugleich relativiert. Daß Frankfurt eine besonders satirenahe Stadt ist, das waren zum Teil halt Flausen in meinem Kopf. Frankfurt ist mindestens im gleichen Maße natürlich eine Bürger- und Grattler- und Spießerstadt.
Eine Brücke zwischen Neuer Frankfurter Schule und Kritischer Theorie wäre zumal der erwähnte alte Wiener Karl Kraus.
Ja. Allerdings gilt das mehr oder weniger nur für Adorno. Bei den sonstigen Standesvertretern der Kritischen Theorie findet man Kraussche Spuren erst bei äußerst genauem Hinschauen, sei’s bei Horkheimer oder Löwenthal, sei’s bei der zuletet als Erbverwalter tätigen Professorenschaft am Institut für Sozialforschung.
Wien ist ja, zumindest im Ersten Bezirk, eine ausgesprochen schöne, fast zu schöne Stadt. Geht es dir, Krausens Wien mit Frankfurt konfrontierend, ähnlich wie Martin Mosebach, der des öfteren sein unausgesetztes Leiden an Frankfurt zum Ausdruck gebracht hat, sein Leiden an der obwaltenden »Monumentalverhunzung« und »lauten Häßlichkeit«?
Mosebach gehört ein bißchen einer anderen Generation an. Er ist gewissermaßen immer vor Ort gewesen. Mein Bild verdankt sich eher einer kleinen Suggestion, die lange Zeit aufrechterhalten und sogar forciert worden ist, nämlich daß Frankfurt zwar häßlich, aber – das waren damals schon etwas inflationär mißbrauchte Lieblingswörter – eine besonders »aufregende« und »ehrliche« Stadt sei. Das las und schrieb man auch in unseren Kreisen noch in den achtziger, neunziger Jahren. Das war meines Erachtens nun seinerseits wieder eine Mythisierung, die darüber hinweggetäuscht hat, daß diese Häßlichkeit zum Teil bereits eine strukturelle war. Um einen Punkt nachzutragen: Als ich nach Frankfurt kam, war Frankfurt noch gut in sozialdemokratischer Hand, angeblich sogar unter linker sozialdemokratischer Kontrolle. Das hat sich in den achtziger Jahren geändert und ging dann immer hin und her, mit eigentlich dominierenden CDU-Magistraten und -Bürgermeistern. Das war mehr oder weniger eine Rückkehr vom Mythos zur Realität – daß Frankfurt vielleicht in Spuren noch so etwas wie ein Ausdruckscharakter von Kritik, von Theorie, von Philosophie, von Goethe und Satire ist. Der Spielwitz der Frankfurter Eintracht ist im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte ja auch zum Teil sehr ins Bodenständige zurückgesunken.
Eine etwas ältere satirische Arbeit von dir beschäftigt sich mit einem ehemaligen Frankfurter OB, der das Postulat in die Welt gestemmt hatte, man müsse Frankfurt wieder als »sinnlichen Raum« begreifen und gestalten. Das fordert die Satire gewissermaßen mit wehenden Fahnen heraus.
Damals noch nicht so sehr. Ich bilde mir sogar ein, daß ich einer der wenigen war, der damals schon lachen mußte und sich auch lachend geäußert hat. Inzwischen hat man nachlesen können, daß dieser Wahnsinn von der »sinnlich erfahrbaren Stadt« nicht nur die Freßgasse betroffen hat, wo ununterbrochen Apfelwein ausgeschenkt und Fleischwurst gefressen wurde; sondern es gab auch im Umfeld der Grünen, scheint’s, weitgehend ernstgemeinte Pläne, aus dem Main das zu machen, was er früher wohl mal war: eine Art Vergnügungszentrum mit offenbar einem geheizten Schwimmbadteil, in dem pausenlos das Äußerste an Sinnlichkeit herausgekitzelt werden sollte. Meines Wissens war auch der junge Obertheoretiker Jockel Fischer an diesen Überlegungen beteiligt. Als Main-Vergnügungsminister oder zumindest -stadtrat hätte man ihn gern erlebt, den vielmaligen Ehemann und Sinnlichkeitsvorreiter.
Gibt es denn, wenn schon diese paradiesische Main-Vision nicht hat Wirklichkeit werden sollen, in Frankfurt noch elysische Enklaven? Martin Mosebach würde sagen, die einzigen echt frankfurterischen Räume und zugleich idyllischen Flecken seien die Sachsenhäuser Äpplerwirtschaften.
Ich tendiere seit zwei, drei Jahren aus den dir auch bekannten Gründen mehr nach Bornheim, sowohl zu den bekannten Apfelweingartengaststätten als auch den Wintergaststätten und, immer noch, den Wasserhäuschen, die bei Hermann Peter Piwitt, Mosebach und mir eine reale und literarische Anhängerschaft gefunden haben. Die besitzen, wenngleich etwas anders als die Münchner Stehausschänke, zumindest noch einen Hauch vom Paradiesischen, sei’s im milden Sommer, sei’s auch bei minus 25 Grad im Freien, für etwas gutgepolsterte Menschen.
Auch bei Jörg Fauser und Peter Kurzeck ist das Wasserhäuschen ein hervorstechendes Frankfurt-Element.
Ja, aber doch noch nachdrücklicher die Sachsenhäuser Kneipe. Ich wohnte übrigens im Winter 1969/70 in Sachsenhausen und hab’ mal an einem Sonntag an einem mir noch unbekannten Wasserhäuschen was besorgt, die Zeitung oder Schnaps, und da standen bei selten niedrigen Temperaturen diverse Männer rum und hielten eisern ihre Bierflaschen in der Hand. Das war einer der ersten und freundlichsten Frankfurter Eindrükke, wenn nicht gar ein paradiesischer Eindruck.
Das – freilich fiktionalisierte – wabernde, dunstige Kneipenmilieu wie in der Gaststätte Mentz, das in den Vollidioten atmosphärisch von einer hohen Signifikanz ist, ist das in Frankfurt angesichts der Sushibarbegeisterung und Chill-out- Tuereigänzlich verschwunden?
Ich bin heute zufällig am Horizont, der ehemaligen gewissermaßen Stammkneipe des Titanic-Umfeldes, vorbeigekommen und hab’ mir da sagen lassen, dessen hochfliegende Zeit sei auch schon wieder vorbei – so wie ja das Grünen-Milieu mit seinen Ausuferungen in die Lehrerschaft hinein nicht mehr das ist wie vor zehn, zwanzig Jahren. Der Ment selber war schon eine Singularität und nicht unbedingt typisch. Da kam allerhand zusammen. Der Mentz war eine ganz ordinäre Bierwirtschaft, die aber plötzlich ein sternmarschförmig angegangenes Ziel von eben Linken wurde, von sowohl an der Universität tätigen theoretischen Köpfen als zum Beispiel auch von Robert Gernhardt mal so genannten Kulturkrautern. Dazu kam, daß der Mentz eigentlich, was in den Vollidioten noch erwähnt wird, Berliner Zillestube hieß. Also, das Ganze ist eher ein Kapitel von Mißverständnissen durch dick und dünn, und der legendäre und großartige Wirt Hans Mentz hat wohl die Verhältnisse auch ganz gut auf sich wirken lassen, war aber im Grunde geprägt von diesem Berliner Zillestubenideal. Aus diesen und ähnlichen Gründen war das ein großes, verwegenes Gemisch und insofern wahrscheinlich besonders fruchtbar. Allerdings gab es damals noch eher diesen Typ von Frankfurter Eckwirtschaften, die so schöne Namen wie Sportlerstubb oder Sportentrale hatten – schöne Spießerkneipen in einer Weise, in der man den Spießer sehr begrüßt, in der der Spießer sozusagen etwas Fruchtbares entwickelt wie in den alten Frankfurter Volksstücken. Vermutlich ist das aber beides und alles ziemlich den Bach hinuntergerauscht.
Literaturfähiger Soziotopersat könnten solche Snack-Points wie der Caddy, dieser gewagte Stehimbiß bei dir um die Ecke, oder umgerüstete Tankstellen wie der Rossi sein.