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Um kurz nach zwölf war ich in Mainz-Süd in die S 8 gefallen, eine gute halbe Stunde später wäre ich zu Hause in Frankfurt gelandet. Nun schaute ich in den widerlichen Himmel über Hanau. Die Uhr zeigte Viertel nach eins. Auf den Gleisen standen Gleismeßzüge, verrostete Cargo-Waggons und gestrandete InterRegios. In der Ferne schimmerten ein paar Funzellichter. Ein Kasten, das Arbeitsamt, entworfen von unzweifelhaft schwerkriminellen Halunken, schob sich ins Passepartout aus Nichtigkeit, Weltverachtung und Wirklichkeitsvernichtung.
Nichts fuhr mehr, kein Zug, keine S-Bahn. Finis, Feierabend, Sense. Weil ich eingeschlafen und an der Endstation Hanau von einem unbarmherzigen Bahnbediensteten aufgeweckt worden war, hing ich jetzt in der denkbar verfluchtesten Materialisation des Nichts fest und herum wie der traurigste Arsch auf Trockeneis. Rumhängen in Hanau, das ist ein Gefühl, als müsse man sich auf der Stelle entleiben. Zum Glück fiel mir ein Satz meines Kumpels Christoph Winnat ein: »In Hanau zu sterben ist sinnlos.«
Ich hatte nicht gewußt, daß Hanau, das laut der obligaten städtischen Website »viel zu bieten hat« – eine Ex-Atomfabrik, »Dauerkleingärten« und eine »Altstadt« (www.hanau.de), aus der schon die Brüder Grimm zu fliehen sich gezwungen sahen –, darüber hinaus auch über keine sichtbaren Hotels in Bahnhofsnähe verfügt. Von Gästen will man in Hanau offenbar nichts wissen, man läßt sie am Rande der Stadt herumirren und vergammeln, dort, wo diese architektonische Saufrechheit von einem Bahnhofsgebäudespitzenmißgriff der Erde Antlitz aufs himmelschreiendste verschandelt und, die Worte sind bedächtig gewählt, entsetzlich entstellt, ja hohnlachend zur Schnecke macht.
Ich hatte also kein Hotel gefunden, weil dem untrüglichen Anschein nach kein Hotel zu finden war. »Ich muß nach Frankfurt«, antwortete ich dem Taxifahrer, und er zog die rechte Augenbraue hoch. »Das ist aber weit.« – »Ich weiß«, sagte ich demütig und wies mich mit einem Hunderter aus. »Na gut, steigen Sie ein«, sagte er, »aber ich kenn’ mich in Frankfurt nicht aus. Ich fahr’ nur bis zum Bahnhof.« – »Ich wohne bloß zwei Kilometer vom Bahnhof entfernt, ich zeig’ Ihnen dann den Weg.« Er sagte nichts.
Am Frankfurter Hauptbahnhof, nach etwa sechzig Euro, endete die wortlose Fahrt. »Entschuldigung«, sagte ich, »wir müssen noch ein Stück weiter.« – »Ich kenn’ mich nicht aus«, sagte der Taxifahrer und drückte eine Taste am Taxameter. »Bitte«, ich fischte den Hunderter aus der Jackentasche, »nur schnell zweimal rechts und drei Minuten die Mainzer Landstraße runter.« – »Die was?« – »Die Mainzer Landstraße bis zur Galluswarte, dann sind wir fast da.« – »Sie haben gesagt: direkt am Bahnhof.« – »Ja, na ja, es ist wirklich praktisch am Bahnhof, das dauert nur ein paar Minuten.«
Der Hunderter in meiner rechten Hand bewegte ihn dazu, den Gang wieder einzulegen. Als wir auf die Mainzer Landstraße eingebogen waren, fragte er: »Und?« – »Gleich. Da hinten.« Ich wies mit dem Zeigefinger geradeaus. Hundert Meter weiter hielt er an. »Ich fahr’ keinen Meter mehr, ich kenn’ mich hier nicht aus.« – »Ich bitte Sie, es ist nicht mehr weit. Wir sind gleich da.« – »Das sagen Sie.« – »Glauben Sie mir doch!«
Erneut rollte der Wagen an, und im gleichen Atemzug stieß der Mann am Steuer einige dunkle, unverständliche Laute aus, was mich dazu animierte, ihm nachdrücklich Mut zuzusprechen. »Sie haben gesagt: am Bahnhof«, giftete er zurück, und als ich ihm ein mattes »Ja« entgegnete, stieg er, die Galluswarte war noch immer nicht zu sehen, in die Eisen.
»Schluß jetzt! Ende der Dienstfahrt! Raus!«
Was macht Hanau bloß aus den Menschen? Sie werden doch gut bezahlt. Von mir.
Alles fahren lassen
Man hat ein Wochenende in Eisenach verbracht. Am Tag der Rückreise weilt Freund M. aus beruflichen Gründen in Weimar. Man verabredet, sich zu treffen, das eine oder andere zu unternehmen und abends gemeinsam nach Frankfurt zu fahren – mit dem Zug, versteht sich, denn Zugfahren ist eine dem Gemüt dienliche, rundum vernünftige Fortbewegungsart.
Beim Zugfahren läßt sich lesen, dösen, faseln, aus dem Fenster gucken, rauchen, trinken und Schiffeversenken spielen. Das wird nicht mal die Kundenorganisation Pro Bahn bestreiten, die nimmermüde Beschwerdelisten erstellt und nolens volens den letzten unantastbaren deutschen Mythos nährt: daß nichts verkommener und unzuverlässiger sei als die deutsche Bahn.
Daß Freund M. nicht nach Eisenach brummt und ich statt dessen in die Klassikerstadt aufgebrochen bin, obwohl die abendliche Route von Osten gen Westen, mithin von Weimar via Eisenach nach Frankfurt, also von Eisenach Frankfurt führt, bleibe hier beinahe unerwähnt. Keineswegs ablassen von ihrem nörglerischen Tun können indessen all die Hunderttausenden von Bahnbashern in diesem Lande. »Ruhig beschweren bei Ärgernissen«, empfiehlt, avantgardistisch gestimmt, www.geizkragen.de, obschon die Bahn rechtlich nicht verpflichtet ist, bei »Unregelmäßigkeiten, Ausfällen oder Störungen zu haften« (Stiftung Warentest). Denn es geht den Krakeelern und Giftzwergen ja nicht in erster Linie um geldwerte Erstattungen auf Grund von dreitägigen Verspätungen, doppelt reservierten Sitzplätzen, wegen des durch klemmende Klimaanlagen verursachten sommerlichen Ungemachs, stundenlang verstopfter Klosetts, vernagelter Türen, verpaßter Anschlußzüge, »irreführender Durchsagen« (Verbraucherzentrale NRW) und vollgereiherter Polster; sondern um das Gemoser an und für sich, das ihnen als Ausweis ihrer kerzengerade rechtschaffenen Spießerexistenz gilt.
Ich treffe Freund M. in einem Café an der Carl-August-Allee. Rasch ist uns nach anderen Getränken zumute, zum Beispiel einem Bier im einst von Hitler heimgesuchten Elefanten. Über Stunden gestalten wir zusammen mit den zwei Kellnerinnen das numerische Verhältnis Gäste–Bedienungen einwandfrei ausgeglichen. Gegen acht streben wir zum Bahnhof, rasten in einer Schenke an der Carl-August-Allee, bequatschen formvollendet derangiert die blonde Schönheit hinterm Tresen und besteigen den letzten, pünktlichen Direktzug nach Frankfurt. Ein Rädchen greift ins andere, auch wenn die zerebralen Verbindungen langsam ein wenig knirschen.
Über den von Pro Bahn mehrfach genannten Beschwerdepunkt »Fahrer raucht beim Fahren« könnten wir nur lachen, laut, laut lachen. Freund M. ratzt praktisch augenblicklich am Bistrotisch weg, ich versuche eine Brünette zu becircen, die sich aber etwa bei Bad Hersfeld meinen geschickt formulierten Avancen (thematisch eingekleidet in Rilke, Goethe, wahrscheinlich Fußball) durch Verlassen des Abteils entzieht.
Freunde der Bahn sind nicht selten auch Anhänger von »Romantischen Eisenbahnfahrten«, von abscheulichen Nostalgiesonntagsausflugsveranstaltungen. Wahre Wertschätzung der Bahn entwickelt man, wenn der Nachtschaffner sodann zwei engagiert zerstörten Ausflüglern ohne Umstände und Aufpreis ein Kojencoupé zur Verfügung stellt und höflich verspricht, die braven Gesellen kurz vor Frankfurt zu wecken.
Freund M. haut mir auf den Kopf, als wir um 3.45 Uhr in den Mannheimer Bahnhof hineinrumpeln. Er meint, der Schaffner habe uns nicht wach gekriegt. Der reumütige, zufällig am Ende des Gangs stehende Missetäter läßt sich von mir ordnungsgemäß zur Minna machen, anschließend entern wir im Bauch des Bahnhofs den einzigen geöffneten Imbiß der Stadt, vertilgen die fettigsten Frikadellen zwischen Oder und Oeder Weg und lauschen begeistert derartigen Dialogen: »Gibt’s hier schon alkoholische Getränke?« – »Klar.«
Drei Wochen später sitze ich mit Freund K. im Bistro des IC von Mainz nach Frankfurt. Hinterm Flughafen dämmert mir was. »Verflucht, der fährt nach Mannheim, nicht übern Bahnhof«, sage ich. »Stand das auf dem Plan?« – »Nee!« Diesmal übernimmt Freund K. den Part der Schaffnerbeleidigung. Das hat man davon. Wir müssen nachlösen, nicht zu knapp. Also bloß eine Frikadelle für zwei.
»Sie haben recht, es ist die Summe vieler, oftmals kleiner Dinge, die den Service ausmachen«, lautet Pro Bahn zufolge eine der meistgebrauchten brieflichen Formentschuldigungen der Bahn. »Wird eine Facette negativ erlebt, so wirkt sich das auch negativ auf die Gesamtbeurteilung gegenüber allen Mitarbeitern der Deutschen Bahn AG aus.«
Wird eine Facette wiederholt positiv erlebt, das unwillentliche Erreichen des Mecker-Mekkas Mannheim nämlich, dann ist die Bahn en bloc zu loben: für die großzügig gewährten spirituellen Erfahrungen, die wertvollen zwischenmenschlichen Begegnungen und die außerordentlich vernünftige Zufuhr eiweißsatter Frikadellen aus der one and only Frikadellenkapitale Mannheim am Rhein.
Merci!
Beim Bistrobier belauscht
Drei Männer, um die Sechzig, Geschäftsleute vermutlich (oder Vertreter), im Bistrowagen.
DER EINE (nimmt sein Handy, wählt, beginnt zu sprechen): Du, servus, Helmut! Mir sann grod irgendwo in Fulda. – In Fulda, ja.
EINER DER BEIDEN ANDEREN (ohne Handy): In Würzburg.
DER EINE: Ja, Helmut, der Fischer Karl, der Kanngießer Willi und ich, mir sann grod in Fulda.
DER EINE DER BEIDEN ANDEREN (erst etwas lauter, dann eindringlich): In Würzburg. In Würzburg!
DER EINE: Halt, Helmut, in Würzburg sann ma. – In Würzburg, ja. Des sieht genauso aus. Ja, servus, Helmut.
Beckett guckt Beckenbauer
Den dümmlicherweise »Kein Roman« und nicht einfach »Erinnerungen« untertitelten, aber sonst recht lesenswerten Erinnerungen des ehemaligen pardon-Redakteurs und Werbemannes Rainer Baginski, Das drittletzte Kind (Frankfurt am Main 2002), ist eine Begebenheit zu entnehmen, auf die man hin und wieder in Interviews mit dem Frauenforscher Peter Handke gestoßen war, die jedoch erst bei Baginski in wahrer Überzeugungsstrahlkraftpracht auf uns wirkt. »Vor Jahren«, heißt es da, sei der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld nach Paris gereist, um seinen Starautor Samuel Beckett in der Brasserie Lipp zu treffen. Nun ist auch Peter Handke an der Seine aufhältig, und aus Zufall (oder nicht) trifft Handke auf den Verleger Unseld, von dem er, Handke, erfährt, daß er, Unseld, am nächsten Tag den Beckett treffen werde zwecks bedeutsamer Konsultationen oder Cocktailkonversationen.
Handke stutzt wohl und erbittet, dabeisein zu dürfen, denn den Beckett wolle er schon lange einmal kennenlernen. Unseld willigt ein und ermahnt Handke zur Pünktlichkeit, in Fragen der Pünktlichkeit nämlich sei der Weiberfex Beckett kleinlich, ja penibel.
Folgenden Tags harrt das Duo Unseld & Handke des Weltfrauenfachmanns. Um zwölf Uhr mittags erscheint Beckett. Der Womanizer nimmt Platz. Das gewichtige Gespräch beginnt, nimmt seinen Lauf und endet um Gongschlag 15 Uhr. Handke bringt während dieser drei bedeutenden Stunden der Weltgeschichte kein Wort heraus. »Pünktlich um 15 Uhr«, so Baginskis Kolportage, »erhebt sich Beckett und teilt mit, er müsse leider dringend gehen. Er muß im Fernsehen Fußball gucken. ›Wie bitte?‹ Peter Handke hat wohl nicht richtig gehört. Mit einemmal kann auch er fließend sprechen. Entgeistert fragt er Beckett, ob der wirklich Fußball gucken gehe. Samuel Beckett macht Peter Handke mit Nachdruck deutlich, daß er jeden Tag mehrere Stunden Fußball guckt, daß es für ihn nahezu nichts gibt, das der Bedeutung von Fußball gleichkommt. Und sagt adieu und geht. Zurück bleibt Peter Handke, reif für ein Jahr in der Niemandsbucht.«
Was Baginski verschweigt, ist dies: Der Sinnvertilger und Niemandsfigurenerschaffer Beckett trollt sich flotten Schrittes, die Hand noch mal zum Abschiedsgruß erhebend, schlägt auf der Straße den Weg zum nächsten Supermarché ein, eilt durch dessen Gänge, reißt zwei Sixpacks Kronenbourg-Bier aus dem Regal, rennt zur Kasse, bezahlt hektisch, stopft die Flaschen in einen Plastikbeutel und hetzt nach Hause.
In den heimischen vier Wänden angekommen, drückt er außer Atem den Fernsehknopf, zerrt aus der Tüte fahrig eine Flasche Bier, blickt währenddessen auf das flackernd sich aufbauende Schwarzweißbild und sieht schemenhaft Gerd Müller aus der Drehung einen Kullerball knapp neben das italienische Tor setzen.
Ein Genie! Ein Künstler! Ein Jahrhundertmensch! entfährt es Beckett. Längst sitzt Beckett auf der Cordcouch, seine linke Hand führt die Flasche zum Mund, mit der rechten fingert er nach einer Filterlosen, er stellt die Pulle ab, und es ist ja schon wirklich piepenegal, ob Deutschland – Italien, damals, in Mexiko, 1970, vor vielen Jahren, gegen 15 Uhr lief, Hauptsache, Samuel Beckett hängt da rum und glotzt, glotzt gedankenverloren und ganz versessen auf Müllers Stiefelsticheleien, auf Müllers Hüftakrobatik und Balliebeleien, außer sich gerät der alte irische Haudegen bei Overaths Antritten, und in großes Entsetzen versetzen ihn Beckenbauers Tändeleien, Beckenbauer, der komische Tänzer und beinahe schwebende Balltätschler, nein, dieser Beckenbauer bringt diese Deutschen, diese wakkeren Rackerer, noch um den verdienten Lohn der sauren Arbeit, vor den Lohn, so nämlich denkt Beckett jetzt, haben die Götter laut Hesiod noch immer den Schweiß gesetzt, und dieser Beckenbauer, der schwitzt ja nicht einmal, der Anblick dieses Beckenbauer macht einen verzweifeln, Angst macht einem diese Leichtigkeit und Leichtfertigkeit, Beckenbauer, kein schlechter Mann, sicher, alles in allem gesehen, aber er sollte sich ein Vorbild an Overath nehmen oder an Seeler, an Seeler, dem Tapferen, der rennt sich die Lunge aus dem Leib wie ich vorhin auf der Jagd nach dem Bier, dieses Spiel macht Durst, es macht sehr durstig, viehische Temperaturen herrschen da ja in diesem fernen und seltsamen Mexiko, wie man da Fußball spielen, wirklich und allen Ernstes Fußball spielen kann, in dieser zerpfiffnen Schüssel, das entzieht sich mir. Das verstehe ich nicht.
Beckett öffnet eine neue Flasche Bier und sieht Held scheitern. Schulz ist auch ein Mann, der zum Scheitern geboren ist, denkt Beckett, oder Haller, der wird alles zunichte machen. Ein Pfiff des Schiedsrichters Yamasaki unterbricht das nervenaufreibende Match. Beckett hält inne.
Andké, diese Stutze’, diese sprachlose und in seine Bücher so sprachschaumige kleine Schummelpoet, diese Andké weiß nix von Leben, denkt der Dichter Samuel Beckett und wendet sich wieder dem Wesentlichen zu, wo »Riva dampft vor Kraft. / Facchetti knüppelt völlig ungestraft. / Der Boden bebt. Es geht um Kopf und Kragen.« (Ror Wolf)
»Beckett guckt Beckham« wäre auch ein schöner Titel für diese Geschichte gewesen. Setzen wir ihn einfach hier unten einmal hin.
Daseinsbewältigung 2008
Jeden Morgen um einundzwanzig vor elf die verquollenen Quanten aus dem Bett schlunzen und die unter dem Kopfkissen bereitliegende halbe Schachtel »Aspirin C plus Thymoleptikum« in den Schlund schütten?
Nein, es gehört sich nicht, Anno Dominostein 2008 so das Dasein zu bewältigen und zu schultern. Der Trend, das zeichnet sich schon jetzt allzu deutlich in den Medien und auch überall sonst »irgendwo irgendwie« (Holger Sudau) ab, geht gänzlich anderswohin.
Nämlich zunächst einmal führe, wird hie und da von diesem und jenem empfohlen, der rechte »Weg« (M. Horx) der Existenzerwägung und anschließend-bekräftigung geradewegs ins Innere unser aller selbst.
Heißt was?
Über das Thema der Daseinsbewältigung sei vorderhand stark, streng und bei einem Glas Bier nachzudenken. Ist eine positive Antwort im Sinne des Thomas von Aquinarius und darob hinsichtlich der tatkräftigen Fortsetzung der Lebensführung gefunden, schreite man voran und kaufe sich sechzehn neue Deep-Purple-Platten. Prodesse et delectare.
Danach lösche man alle Motorradmotorsport- und Videoportalfavoriten in seinem Internetexplorer. Dann kehre man sein Arbeitszimmer. Man mache obendrein alle Redaktionen/Geschäftsführungen jener Zeitungen/ Zeitschriften zur Sau, die (Freitag, Schwarzwälder Bote et alii) auch nach der vierzehnten Zahlungsaufforderung keine Honorare überweisen wollen.
Man grüße indes fürderhin die Bekannten auf der Straße.
Man schicke großen Leuten, die das eigene Dasein im abgelatschten Jahre ’07 durch ihre Anwesenheit, ihre Freundlichkeit und ihre Genialität (nur so oder auf einer gemeinsam geteilten Lesebühne) ab und an in einen luziden Punktualrausch zu verwandeln vermochten, pro Monat einen Gruß und eine Bierflasche ihrer Wahl. Also Manni Breuckmann, Hans Well, Stefan Gärtner, Horst Tomayer, Michl Gölling, F. W. Bernstein, Gerhard Polt. Und noch einigen.
Man fasse den Beschluß, die Frauen noch mehr zu adorieren und zu lieben (besonders diese eine).
Man lege, auf daß es wieder recht rund in der Rübe rattern möge, eine Liste mit Beleidigungen und Flüchen an, mit deren Hilfe man proper gerüstet in jeden Tag des Jahres 2008 wird einzusteigen vermögen. Westerwelle, Mehdorn, das Dreckspack aus dem Fernsehen en bloc, das Kapital, das Kerner im speziellen, sie stehen – als Adressaten – sicher alle drauf. Und noch ein paar mehr.
Man fahre in die Eifel und bewundere sie.
Man ehre die Eltern.
Man wünsche den Freunden, denen das Leben mit dem Eispickel zusetzt (Andreas, Guido!), alles, was man wünschen kann.
Man nehme sich vor, nicht nachzugeben. Man sei sorgsam und ausschweifend. Man drehe seine Zigaretten mit Andacht und rauche sie frohgemut. Man hoffe, daß die Courage nicht schwinde. Man danke. Man trinke ein Bier.
Man schreibe endlich mal diese kreuzverfickte Reportage über Mosambik. Und die über Dortmund auch.
Man esse Bohnen.
Man überlege, was noch zu erledigen sei. Mal wieder zehn Bahnen schwimmen? Gebongt. Weniger wuxln? Frage gestrichen.
Weniger Klage führen, mehr Heinz-Sauer-Platten kaufen? Das ja. Weniger fernsehen, mehr Fernseher zu Klump hauen? Na gut. Seltener den Lieblingswirt Apollo beschimpfen, öfter mal ein Bier mehr bei ihm …
Nein, man, man, man – schaue einfach geflissentlich sich um, welche Chancen, Herausforderungen und Versprechen einem 2008, das Jahr des Daseins, zu Füßen zu legen sich anschickt, denn eins is’ mal klar: Der Megatrend der Daseinsbewältigung 2008 heißt:
Och, hab’ ich grade vergessen.
Das heilige Viereck
Er habe, las ich in Thomas Kapielskis Buch Weltgunst (Berlin 2004), das Frühjahr 2002 u. a. damit hingebracht, den Blättern beim Wachsen zuzusehen. »Fernerhin«, erzählt Kapielski, »habe ich mich über Wochen an einer funktionierenden Deutschfassung der SATOR-Formel versucht; die ebenmäßigste war, wie bei den Blumen, zugleich auch die einfältigste:
A U A
U H U
A U A«
Um die gerade in Betrieb befindliche, begeisternde Jahreszeit auszukontern, hab’ ich mich dann, weil man auch mal was Sinnvolleres tun soll, als immerzu zu lesen, in eine Gastwirtschaft in der Nachbarschaft verdrückt und den Kollegen Tetzlaff dorthin bestellt, damit wir vom Tresen aus in den Regen gucken und den Blättern beim Fallen zuschauen konnten.
Das war uns aber auf die Dauer zu interessant. Daher schlug ich vor, ein paar SATOR-Formeln zu basteln. Die berühmte SATOR-Formel »SATOR ARE-PO TENET OPERA ROTAS« stammt mutmaßlich aus dem 1. Jahrhundert und ist ein Satzpalindrom in Quadratform, das horizontal, vertikal, vorwärts und rückwärts gleich gelesen werden kann:
S A T O R
A R E P O
T E N E T
O P E R A
R O T A S
Was das SATOR-Quadrat, das eine Art magische Funktion besessen haben mag, bedeutet, ist umstritten. »Der Schöpfer (sator) lenkt (tenet) verborgen (arepo) die Räder (rotas) der Welt (opera)«? Oder »PA-TER NOSTER A O«, Vater unser, von Alpha bis Omega, vom Anfang bis zum Ende?
Herrn Tetzlaff war das egal. Er fing flott an und legte mit
O M A
M A O
A O K
einen respektablen Klotz vor, der renten-, welt- und gesundheitspolitische Aspekte in sich vereinigte – obwohl die Wörter nur vorwärts, vertikal und horizontal, aber nicht rückwärts gleich zu lesen und deshalb keine Palindrome waren.
»So ganz stimmt’s nicht«, wandte ich ein. »Mir doch wurst«, entgegnete Herr Tetzlaff. »Wer braucht heute noch Palindrome? Die Scheiße ist auch so schon schwer genug.« Und schon hatte er den nächsten Hammer aufs Papier gezaubert:
I C H
C D U
H U T
»Hut, Tuh«, sagte ich. »Gut, begnügen wir uns mit der entschärften Variante. Ich – du – CDU, schön. Bloß, was hast du und was hab’ ich mit der CDU am Hut?« – »Bitte …«, Herr Tetzlaff griff zum Kuli, »immer haste was zu meckern. Nimm dies!«
Ich las:
S P D
P D S
D S F
Das war natürlich nicht von schlechten Eltern und ziemlich gut gegeben. Ich spendierte Herrn Tetzlaff ein Bier und versuchte mich, um ihm den Schneid abzukaufen, an einem etwas heikleren Begriff. Heraus kam folgendes:
L I E B E
I N S E L
E S S E N
B E E R E
E L N – –
»Blödmann«, sagte Herr Tetzlaff, »›Liebe‹, ts, ts. Wie wär’s mit ›Frau‹, hä?« – »Ja klar. Und wie?« fragte ich. »So«, sagte Herr Tetzlaff:
F R A U
R O S T
A S T A
U T A H
Um mir den Rest zu geben, erledigte Herr Tetzlaff anschließend das Thema »Gott« durch
G O T T
O D E R
T E S A
T R A N
– und rundete den erkenntnistheoretischen Teil des Treffens mit unserem neuen heiligen Viereck ab:
B I E R
I N R I
E R S T
R I T T
Dann stierten wir in den Regen und schwiegen, wie es sich gehört.
Kleine psychosoziale Biertypologie
Startbier
Vierundzwanzig Grad Celsius Außentemperatur. Am Himmel halten ein paar katzenkleine Schäfchenwolken Mittagsschlaf. Die Sonne blinzelt uns neckend zu, ihr Licht streift durch die Kronen der Bäume, durch die Büsche und Blumenstauden und legt sich in aller behaglichen Ruhe und Stille in Streifen, Kreisen und Klecksen auf der Wiese nieder.
Da kommt es – das Startbier. Man sitzt zu viert, zu fünft in einer Runde, die Stimmung ist einwandfrei, gedämpft heiter (auf keinen Fall ausgelassen und übermütig!), und da kommt es daher, in Halbliterpokalen oder -bechern oder, mögen das die Umstände diktieren, -glaskrügen glänzend und leuchtend, das Startbier, mit einer stolz-zierlichen, ja: stolz-zierlichen, vornehmformschönen weißen Haube, so kommt es daher, gebracht von einer blonden Dame im schwarzen Rock, die stellt es vor uns hin, nicht robust, sondern präzise und feingliedrig, und dann nehmen wir die Humpen zur Hand und führen sie zum Mund, der Schaum knistert bittersüßleis’, ein Duft aus Hopfen und Hoffnung weht uns an, und der erste Schluck, er ist, wie er ist, noch nicht beschrieben worden, und wir maßen uns genausowenig an, das zu wollen oder gar zu können.
Ja, das Startbier ist das beste Bier der Welt, und »das beste Bier der Welt, / das haben wir grade bestellt« (Michael Tetzlaff). Allerdings wird das Startbier auch als Flaschen- und Solitärbier genehmigt, auch als ein solches vermag es, etwa am Schreib- oder Gartentisch geöffnet und in den Körper hineingelassen, sehr deutliches Einverstandensein mit der Welt auszulösen, denn das erste Bier des Tages gibt uns immer zu verstehen, daß dies kein verlorener oder immerhin kein gänzlich in die Grütze gegrübelter Tag gewesen sein wird. So ist es.
*
Aufbaubier
Heute hartprotestantisch runtergeochst: einen Aufsatz über Thomas Bernhard, eine Glosse über die Heillosigkeit in und rund um Pirmasens und der da und dort herumwurstelnden Menschengestalten, ein Minidrama über das »extreme Ende« eines sexualnarrischen Schauspielers und ein einzeiliges Gedicht über Probleme der Patisserie. Noch zu erledigen und wegzukurbeln: kurze theoretische Skizze über die Dignität der Dampfgitarre, Bemerkungen zum Schweizer Wehrgeist in der Kunst und Komplettzerlegung des »Werkes« von Andy Warhol (Form offen). Das Aufbaubier (nie vor vier, besser: nie vor 18 Uhr! Nur dann schon vor vier, wenn bereits morgens um sechs vor der Computerkiste gesessen), das Aufbaubier ist unser nobelster Helfer und Salvator. Es ermuntert die körperlichen und geistigen Elementarteilchen, sich trotz Erschlaffung und Gammelgestimmtheit einen Schubs zu geben, sich zu strecken und zu recken, ein paar Kniebeugen zu machen und die bleiernen Beine zu schütteln und derart erfrischt und verjüngt in harmonischster Kopf- und Somaformation strammzustehen, für uns, die Obermieter der Elementarteilchen in Schädel und Schrumpf (eigentlich: Rumpf). Und siehe, dank Aufbaubier kriegt mindestens der Warhol heute noch hartherzig-gerecht und satt jeweils eine auf die Drei, die Neun und die Zwölf.