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Vorlaufbier
Während der Besichtigung einer Wohnung, die ein Mitarbeiter des münsterischen Oktober Verlages zu mieten gedachte, fragte der Vermieter den Mitarbeiter des münsterischen Oktober Verlages, wie der Verlag denn zu seinem Namen gekommen sei. Der Verlag sei zu seinem Namen Oktober Verlag gekommen, weil er im Oktober gegründet worden sei, antwortete der Mitarbeiter des Oktober Verlages, der dem Vermieter beim Betreten der Wohnung sofort seine Visitenkarte ausgehändigt hatte, weil das, wie er gedacht hatte, bestimmt einen günstigen Eindruck machen würde.
Ein paar Minuten später hörte der Mitarbeiter des Oktober Verlages den künftigen Vermieter im Nebenzimmer zu seiner Frau sagen: »Gott sei Dank, er ist kein Kommunist.«
Ohne Vorlaufbier, das der Mitarbeiter des Oktober Verlages auf Grund einer Vorahnung, daß die Angelegenheit sich als heikel würde erweisen können, zwecks antizipierender Kalmierung eingenommen hatte, wäre die Sache sicher nicht gut- und klargegangen.
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Unterbier
Scheußliches Symptom, mit dem eine Art Fünfter Weltkrieg im Geist und im physiologischen Apparat des Biertrinkers charakterisiert wird, der am Tag/ Abend zuvor »einen zuviel«, »einen über den Durst« und/oder »einen Container mehr, als er verträgt«, umgebolzt hat.
Der um sämtliche Fährnisse und Mißtritte in dieser Welt wissende Gasthausvater fragt den oder die unter Unterbier leidenden Biertrinker, der oder die am Frühstückstisch herumlemurt/herumlemuren, als seien – wechseln wir endgültig mal in den Plural –: als seien sie von Seelenfäule in Kombination mit Magenatomarsäure befallen, ob sie »ein Unterbier« hätten.
Hm, ja, hm, doch, ja, könnte sein. Aber was sei denn ein »Unterbier«.
»Ja, ihr hobts halt a Unterbier!« sagt der Gasthausvater, läßt, nun bereits wieder wie auf einen Gotteswink hin stämmig und stad hinterm Tresen stehend, diverse Gegenunterbiere in diverse Gegenunterbiergläser einrauschen, schleppt die diversen Gegenunterbiergläser dann hinüber zum Frühstückstisch, und die unter Unterbier leidenden Biertrinker saugen die Gegenunterbiere des Gasthausvaters zügig in sich hinein, und dreiundzwanzig Sekunden danach kann die schon jetzt ehemaligen unter Unterbier leidenden Biertrinker ihr ehemaliges, ja kürzlich noch schmerzlichst bemerktes Unterbier vollständig zufrieden volles Rohr am Arsch lecken.
Das zum Unterbier.
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Konterbier, auch: Stützbier
Folgt aus der Diagnose, ein Unterbier zu haben. Impliziert indes den eher autonom gefaßten und weniger von einer Wirtsperson unterbreiteten Spontanplan, der ziemlich ausufernden Gefühlsmarodität wegen Abusus vortags gehörig und mit letzter Schützengrabenentschlossenheit brutalstmöglich in die Eier zu treten. Heißt: Fight fire with fire. Einfacher gesagt: unmittelbar nach dem Erwachen aus diarrhöetrüben Träumen ein bernsteinglühendes Schlappeseppel hineinlitern und ordnungsgemäß einschrauben. Ein Bier kann auch ein Skelett sein, o ja!
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Dehnungsbier
Laut dem Universalsoziologen Dieter Steinmann dies: »Das Dehnungsbier ist ein Bier, mit dem man eventuell Zeit dehnen kann oder Vorgänge oder das Warten auf den Kellner oder irgend so etwas. Eine Untergattung wäre das Prolongariatsbier oder so was ähnliches, irgendwie. Nicht irgendwie ein Eckenstehereibier irgendwie. Es gibt ja so Vorgänge im Gehirn, aber das Dehnungsbier ist ja was Reelles, was Materielles, es steht ja da. Das extreme Gegenteil auf jeden Fall vom Schnaps oder vom Cocktail. So Vorgänge gibt’s. Es gibt so Vorgänge. Die die Zeit länger machen, irgendwie.«
Genau.
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Spekulativbier
»Wäre ein Ermutigungs- oder ins Psychodynamisch-Praktische hineinstoßendes An- und Befeuerungsbier denkbar?« (Dr. D. Steinbierleberlaus)
Nicht schlecht, daß wir uns diese Frage gestellt haben. Tut ja sonst niemand.
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Anbiederungs- und Affirmationsbier
Offeriert in Golfklubs, Theaterfoyers, Eros-Lounges und Saunen. Lehnen wir ab.
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Substitutions- und Humanplatzhalterbier
Dito entdeckt und dingfest genagelt von Dieter Steinmann – als sozialsymbolisches Handlungsersatz- und -anbahnungs- und -anbahnungsscheiterbier in Kreisen verkrüppelter Krautköpfe, die durchaus unser Mitleid verdienen. Lehnen wir dennoch ebenso streng ab. Das Bier der Geworfenen. Müßt halt Heidegger lesen und dumm bleiben.
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Ad-hoc-Bier
Ein Wunderzauberereignis. Man hängt in der Welt herum, sieht dies, sieht das, ist indifferent-omnilateral vermurkst, guckt ein Auto an, das richtig parkt, und fragt sich: Warum ist dieses Auto richtig geparkt worden?
Antwort gibt ein Ad-hoc-Bier, ohne Vorsatz bei Costa am Wasserhäuschen gekauft. Und plötzlich ist alles optimal gut eingeparkt in dieser rundherum veritabel wahnsinnigen Welt. Hau doch die Kuh aufs Eis, aber was!
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Unbier
»Man muß immer trunken sein«, sagte Baudelaire. So sehr es aber Unmenschen gibt, so sehr gibt es Unbier, kantisch gesprochen: Bier zur flaschen, halt: zur falschen Zeit im falschen Raume. Bier läuft in der Nacht nicht weg, heißt es im Pfälzerwald aus güldenem Munde, allein, Bier, das, nicht weglaufend und allzeit zur Hand, zur Unzeit gereicht, ist nicht geeicht auf den Raum, in dem es, gereicht, uns zum Plaisier gereichte.
(Diesen Gedanken noch mal überdenken. Obschon heute an Denken nicht zu denken ist.)
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Erinnerungsbier
D. »Prof.« Steinmann zufolge ein Bier, das ausnehmend wichtig ist.
(Anders das Marginalbier, welches andernorts zu erörtern wäre.)
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Pufferbier
Schützt vor extremistische Folgen zeitigenden, soziopositivistisch gesehen desaströsen Ausfällen gegen die Sack- und Sabbergesichtigkeit der sau- und schweinemäßigen Verbandelungssozialentropiebrotzklotzhaftigkeit höherer Gesellschaftsniedergruppierungen (Ackermann, Adel, Angela M.) im Sinne einer alsbald schlammschlappen Einschläferungsschwerigkeit des akut in solchen Verhältnissen aufhältigen »Einzelindividuums« (Gerhard Polt), das aus Weisheit Bier trinkt.
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Fremdbier
Ein hergelaufenes Bier. Von niemandem geordert. Ist auf einmal da. Nicht gewollt, nicht erkiest. Wie der Sozialdemokrat am Krummgurkenbiegetisch im Ludwigshafener Wolf-Biermann-Kulturkinderheim. Was hat er, was hat es, das Fremdbier, hier verloren?
Die Wege des Herrn sind verworren und dappert, doch auf allem ruht Segen.
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Fahrbier
Rasch müssen wir nach München. Mit dem Automobil. Wir haben etwelche Überbiere in uns und können weder recht Farben sehen noch unseren Namen als Palindrom aussprechen.
Da greifen wir zum Fahrbier, das uns mephistophelische Abilitäten injiziert. Zwischen Würzburg und Nürnberg werden wir, frohbefeuert Rockmusik mitgrölend und mit rechtem Betonfuß ausgestattet, auf dreißig Kilometern dreimal abgelichtet und hernach blitzsauber ins Flensburger Pilsenerphotographiearchiv eingeliefert.
Wir reichen das bei der Künstlersozialkasse ein.
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Bestätigungs- und Beglaubigungsbier
Der Japaner ist zum Biertrinken nicht fähig. Deshalb schnallt er auch gar nichts vom Bestätigungs- und Beglaubigungsbier, das wir verehren wollen.
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Unterhaltungsbier/Sozialbier
Siehe Startbier.
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Zugabenbier
Noch eins? Nein, zur Frau, der unermeßlich schönen und geliebten.
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Finalbier
Versteht sich von selbst. Trinkt sich auch wie von selbst, meist bei abgeschaltetem Hirn (sogenanntes subjektloses Trinken, seit Ausbruch der Postmoderne und auf Grund der durch sie epidemisch gewordenen zerebralen Aufschäumungen unter Akademikern und anderweitigen Arschlöchern beliebt und verbreitet). Das Finalbier vermag sich daher leicht zu multiplizieren, kann »mithin« (Finalbiertrinker) in mehrere Finalbiere mutieren. Wie viele Finalbiere »es dann noch waren«, weiß der gründlich finalisierte, das heißt komplett fertige Trinker am nächsten Morgen naturgemäß meist nicht mehr. Es empfiehlt sich ein Teetag. Nun ja, bedingt.
Bohlens Bier (im Kontext)
Wer meint, der umsichtig inszenierte sogenannte Skandal rund um Martin Walsers sogenannten Reich-Ranicki-Schlüsselroman sei das sogenannte Buch- und Kulturereignis des vergangenen Jahres gewesen, der irrt. Er irrt, weil Irren nicht nur allzumenschlich ist, sondern auch schlicht aus Unkenntnis erwächst, oft sogar aus Faulheit und Feigheit, den – laut Immanuel Kant – beiden Kardinaluntugenden des Unaufgeklärten.
Das skandalproduzierende Walser-Feuilleton von der FAZ bis zur Zeit und die in ihm beschäftigten Literaturexperten hatten mutmaßlich wochenlang genug damit zu tun, über Walsers Tod eines Kritikers und dessen Implikationen zu debattieren. Gleichwohl ist unentschuldbar, daß diese aufgeklärten Frauen und Männer weder jenes Buch lasen, das mit 500.000 verkauften Exemplaren zum Topseller des Jahres 2002 avancierte, noch die begleitende Enthüllungs- und Aufstachelungspresse von Bild bis Gala zur Kenntnis nahmen, aus Dünkel vielleicht, sehr wahrscheinlich aber aus Feigheit und Faulheit.
Im Zentrum der Quasselgemeinde Bundesrepublik Deutschland jedenfalls tobte seit der Buchmesse, auf der Dieter Bohlens gemeinsam mit der Bild-Zeitungs-Chefredakteursgattin Katja Keßler verantwortetes Memoirenmachwerk Nichts als die Wahrheit (München 2002) präsentiert worden war, ein wahrer Deutungskrieg um die literarische Qualität der Bohlen-Beichte und um die juristische Brisanz bestimmter Passagen und »Stellen«.
Wenigstens die seriöse Frankfurter Rundschau kürte den so steinreichen wie blonden Musikproduzenten darob zum »ewigen Bohlen«, und die Bunte, das unmöglichste aller Peoplemagazine, das Karl Kraus in den fugendichten Wahnsinn getrieben hätte, stammelte: »Unglaublich, was der Popstar über seine Frauen erzählt.«
Ja, unglaublich war das. Einen »Aufstand gegen Bohlen« beschwor die Gala (44/2002) deshalb herauf, zimmerte die das ganze verbale Entblößungsgerammel konzis an den Leser herantragende Überschrift »Die Rache der Enthüllten« zusammen, lobte die erkenntnistheoretische oder wohl doch -praktische Brillanz des Buchbalgs wegen der »von Einsteinscher Genialität durchwehten Formel fürs Männerglück (Kohle = Frauen = Autos)« – Frauen gleich Autos, ist das wahr? Oder in umgekehrter Relation? – und stemmte zudem den wegweisenden Unterleibsopener: »Vielleicht hat er die Latte einfach etwas zu hoch gelegt.«
Verglichen mit der artistisch-stilistischen Maßstabslatte, die Walsers Tod eines Kritikers vorgelegt hatte, lag Bohlens Latte, ohne daß es die für Literatur zuständigen Feuilletons bemerkt hatten, tatsächlich hoch. Wer ein Liebhaber der verrutschten Formulierung, des schönschäbigen Bildes, des ächzenden Vergleichs, der vermurksten Redewendung ist, kam bei Bohlen auf seine Kosten. »Ich hatte schon damals, was mich heute auszeichnet: eine halbe Wassermelone auf den Schultern«, steht im Kapitel über die Kindheit, und bereits in der Pubertät leuchtete dem Dieter die Relativität aller Erkenntnis als gleichsam modernes wahrheitstheoretisches Axiom heim oder auch ein – jenseits der gängigen Grammatik: »Anscheinend gibt es verschiedene Wahrheiten: welche, die man sagen darf, und welche, die man für sich behält. Ich habe bis heute nicht begriffen, welche welche ist.«
Vielleicht aus diesem dualen Zustand der Naivität und der Weisheit heraus vermochte Bohlen seiner Ghostwriterklatschtante Kati Keßler einen Kessel Knallbuntes aufzutischen, in dem noch den letzten Walser und den vorletzten Grass überdauernde Satzkunststücke herumtollen: »Ich glaube: Wäre ich mir selbst begegnet, ich hätte mir nicht hallo gesagt.« Oder: »Wie ein Wahnsinniger düste ich Richtung Eppendorf, um Naddel einzutüten.«
Daß Naddel leider, wie Bohlen schmerzlich gesteht, »was Tiefgang und innere Reflexion anbelangt, platt wie eine Flunder« war, soll seinen eigenen inneren Reflexionstiefgang nicht schmälern; noch kann es das. Und den unsrigen erst recht nicht. Angesichts der Ankündigung, es werde im neuen Jahr eine Fortsetzung von Nichts als die Wahrheit erscheinen – nicht mehr im mit Springer assoziierten Heyne Verlag, sondern bei der Bertelsmann-Tochter Random House, und zwar unter dem Arbeitstitel Hinter den Kulissen –, dürfen wir daher Bohlens Lebensreflexions- und Formulierungskünsten, bevor womöglich alles in die Hose geht, mal kurz aufs Pferd helfen.
Was also kann da kommen? Gemessen an einem Bekenntnis wie »Ich fuhr mit zweihundertfünfzig Sachen über den Standstreifen, das Blut lief mir aus der Hose« nicht viel. Dennoch wäre wünschenswert, daß Bohlen vor allem in Sachen Feldbusch nachlegt, zum Beispiel mit folgender, hier und jetzt zur Welturaufführung gelangender zweiter Folge der Saga »Das bekannteste Bekloppten-Paar Deutschlands«:
»Verona saß auf der sündhaft teuren Ledercouch in unserem Alsterappartement. Ich hatte sowieso schon wieder die totale Portemonnaieparanoia, die hatte ich ja schon immer, die Angst, Geld und Besitz zu verlieren. Verona saugte an ihrer Lulle, und die Asche fiel einfach so auf das Sofa. Ich dachte, ich krieg’ die Krise. Also schrei’ ich sie voll an. So einen Megaanschiß hatte sie noch nie gekriegt. Das mußte einfach raus. Dabei guckte ich sie plötzlich so an und sah, daß ihre Duddeln so hochgequetscht waren wie zwei Knödel. Schade, dachte ich, daß ich meine Gabel nicht dabei hatte. Da war der Ärger kurz verraucht. Bei Gabel mußte ich aber auch gleich wieder daran denken, daß Verona nicht nur ein bißchen behindert war, sondern auch nicht kochen konnte. Da kochte ich über. Sie rauchte, ich brüllte – ich würde die Kohle ranschaffen, und sie würde die sauteuren Möbel zerstören und so weiter. Ich wollte die alte Plinse gleich zum Mond schießen, aber sie sprang auf und zur Seite und kreischte: ›Du bist Dreck für mich!‹ – ›Ja, um den Dreck könntest du dich auch mal kümmern, mal staubsaugen und so‹, sagte ich wieder ganz ruhig, und sie begann hysterisch zu lachen. Ich stand bloß da wie eine Gulaschkanone. Ich war irrsinnig traurig, megaenttäuscht. Also haute ich ihr eine runter und ging ein Bier trinken. Man hat ja auch Gefühle.«
So dürfte sie sich abgespielt haben, die berühmte, im Erstling nur angedeutete Episode, und genau so wollen wir das in Hinter den Kulissen bitte lesen.
Die Blaue Bierblume oder: Ein hehrer Halunke und harter Herold
Kurz nach dem unverschuldet verheerenden Zweiten Weltkriege baut Helmut Kohl, unterrichtet uns E. Henscheids diesbezügliche biographische Analyse (Helmut Kohl – Biographie einer Jugend, Zürich 1986), gleich zielorientiert die eigene Bildung zum charakterlichen Masterplan aus und liest sämtliche Weltliteratur zusammen und viel politische Schriften, etwa den »Weber Max« (Gerhard Polt). »Ja, allerlei Firlefanz zieht und grummelt Kohl damals durch den jetzt langsam immer kompakter und ausladender werdenden Kopf« (Henscheid), und bald, sehr bald drängt der Ludwigshafener Bursche »energisch an die Spitze« (Die Kohl-Rolle, Stephan Lamby/Michael Rutz, Deutschland 2000), um einerseits die Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen, andererseits, um sein Bundesland auf Vordermann zu bringen. »Gelassenheit und Selbstsicherheit« helfen ihm dabei so eindrücklich, daß schon die ersten kritischen Stimmen zu schweigen beginnen. Da ist ein Vormarschmensch zu beobachten, der nicht lange fackelt oder wenigstens genau weiß, wohin der bisweilen lange und schotterige Weg führt und wann es Zeit für ein Faß guten Gelsenkirchener Bieres ist.
1967 triumphiert Kohl anläßlich der Landtagswettkämpfe, wird eindrucksvoll zum neuen Ministerpräsidenten des Landes Rheinland-Pfalz bestallt und stemmt darob einen Kasten Bratislava. Er »hat den gestrigen Wahlkampfsieg mit amerikanischen Methoden und einer jungen Mannschaft gleichgesinnter Pfeifenraucher errungen«, feiert das Fernsehen den immer der Sportlichkeit und dem Spiritus gambrinus verpflichteten Sieger. Obschon Kohl gerne boxt, rauft und ein Seidel zuscht oder »zwickt« (Heribert Lenz), muß er nicht den Friedsamen herauskehren. Er verkörpert den Gemütsmenschen, den Bierzeltler par excellence, den heimatträgen Hünen und Rumpelheimer, der aber zu Hause sehr wohl sich zu benehmen, die rauhe Schale abzulegen und einen schönen Schluck Weißbier (trotz Strauß) zu schlucken versteht zugunsten eminenter Gelassenheit: »Wer ihn im Kreise seiner Familie erlebt, spürt recht bald die herzliche Atmosphäre, die von ihm ausstrahlt.«
Gewiß, Kohl ist, auch auf Grund seiner inständigen Bierliebe, ein »vitaler junger Politiker«, der nicht genug damit zu tun hat, von seiner holden Hannelore sich die Eier braten und prima Sprößlinge betreuen und während des Schaukelns sich die Eier tätscheln zu lassen, er strebt, obwohl er bereits Landeschef ist, noch mehr an. Er inspiziert die Lage und erkennt Möglichkeiten. »Dabei kommen ihm«, erkennt der TV-Sprecher, »ein scharfer Intellekt, starker Wille und nicht zuletzt sein ausgeprägter Humor zustatten.« Welcher, bekanntermaßen, aus dem Bier kommt, sofern Kohl seine zwei Paletten intus hat.
Kohl sinniert zu jener Zeit ausführlich und scharf. Zu diesem Behufe stopft er einen Kelch Mayer-Märzen aus der Ludwigshafener Nachbarschaft in sich hinein. Das hat Tradition in seinem Leben. Allzeit waren Zug, Gesinnung und ein strammes Wollen darin, seit Angeburt und dem Erwachen der Persönlichkeit ohnehin, die ohne den täglichen Hektoliter Export allerdings nicht annähernd so prall sich entfaltet hätte (Vermutung). »Mit siebzehn Jahren bekannte er sich zur CDU, mit achtundzwanzig Jahren führte er die Fraktion im Landtag, heute hat er die Partei reformiert«, vom Wahlverein zur »tollen Partei« (A. Merkel) gemacht und entwickelt zur Partei neuen Typs, »der Weg ist ihm vorgezeichnet«.
»Diese sechzehn Jahre«, reflektiert Kohl 1998 fürs Fernsehen, »sind ja nicht irgendwelche sechzehn Jahre.« Gott bewahre. Es sind Kohl-Jahre gewesen, die Kanzlerschaftsjahre, und nicht bloß sie. Da rumort und dröhnt es schon mal bärenstark, wenn sich Kohl zu einem kleinen Damenpils entschließt. Kohl nämlich ist ein Unikum, das sich pressekonferenzlich am 4. Januar 2000 allerdings auch nicht unrechtmäßig wundert: »Ich komme mir beinahe seltsam vor. Ich bin fünfzig Jahre Mitglied der Partei, bin vierzig Jahre Abgeordneter, war fünfundzwanzig Jahre Parteivorsitzender, acht Jahre Ministerpräsident und sechzehn Jahre Bundeskanzler. Ich habe vier Brauereien ernährt. Ich habe wirklich der Partei gedient, es ist meine Partei, es ist meine politische Heimat.«
Er intendierte ja ein schon Psalm-90-lange Jahre währendes Leben »Ordnung« (Fernsehen) und erreichte sie oder errichtete sie notfalls unter Zuhilfenahme dreier morgendlicher Stützbiere. »Alles hat seinen Platz«, berichtet das unparteiische Fernsehen 1972 in einem Film über Kohls Schreibtisch, auf dem sich die abgelösten Bieretiketten akkurat stapeln, und erinnert zugleich an die Stunden der bitteren Niederlagen, aus denen der Oggersheimer Wusler ziemlich gestärkt wieder hervorkraxelte, weil er dem passionierten Bergsteiger Heiner Geißler nacheiferte und seinen persönlichen Bierberg erklomm: »Der Pfälzer bewahrt in der Niederlage Stehvermögen und verläßt sich auf seine Kampftruppe Kohl aus alten Tagen«, die ihm garantiert irgendwann die Rente sowieso sichert und hinblättert und ein Freibier, nur eins!, spendiert, wenn schon sonst nichts mehr geht.
That all beiseite, und Kohl denkt jetzt erst recht nicht daran, zurückzustecken und kleine Mäuse scheu zu machen, er marschiert abermals gerstenfroh und kontert, auf daß die Bilanz dieses äußerst früh vorgezeichnet erfolgreichen Lebens stimme. »Rüde, trickreich und auf Dauer hat Helmut Kohl seine Gegner kaltgestellt«, sagt das Kampffernseh’, und siehe und höre, 1998 becirct Kohl, leidlich besoffen, den weiterhin Seiner Majestät gewogenen Parteitag mit den gestochenen Brauerworten: »In den wesentlichen Entscheidungen haben wir uns nicht geirrt, darauf können wir stolz sein!« Um sich daraufhin steil hochleben zu lassen, bei einer blöden oder blonden Braut.
Stolz zählt sogar 1970 oder 1975 bereits zu den hervorstechenden Eigenschaften des noch nicht ganz zum vollrunden, im Bierphysiognomischen sich äußernden Komplettherrschertum durchgebrochenen Kohl. Ein öffentlich-rechtliches Feature zeigte überzeugende Heimbilder und bemerkte demütig, während Seine Exzellenz laubsägte, einen Kanister Eichbaum ansetzte, der Gattin beim Heimorgeln zuschaute und den dummen Journalisten pfeifemümmelnd-verkniffen, ja wehnerisch böse und total geistesabwesend, ja wie bescheuert lauschte: »Er besaß erstaunliche handwerkliche Fähigkeiten und die nötige Geduld, um die Bastelarbeit auch zu Ende zu führen. […] Nur zu gern scherzte er mit seiner Umgebung. Er liebte dabei nichts mehr als ein Glas Bier und ein Gegenüber, das seine kraftvollen Späße mitmachte und auch mit gleicher Münze zurückzahlte. Hier trat sein wohl tiefster Lebenswunsch zutage: so sein dürfen, wie er wirklich war: ein Gemüts-, ein Biermensch. Was er von anderen an Menschlichkeit erwartete, erwartete er von sich selbst zuerst.«
Kohl ersehnte wirklich nichts mehr als eine human erfüllte Wirklichkeit voller Eichbaumlaubsägearbeiten und späterer Eichbaumschnarchsägereien, in der jeder er selbst und das – nach Maxl Stirner – Seine sein durfte (Satz revisionsbedürftig). Das hatte einen Stil (id est Blaue Bierblume). Deshalb zerstörte er, Kohl, sämtliche Mythen, wuchtete sich würgend eine Schorle rein und brüllte dann die deutsche Presse 2000 an: »Auch das ist Fanta [oder Fama; J. R.]!« Um nicht zu versäumen, seinen legendären »Willen zum Miteinander« (Henscheid) zu demonstrieren, den Stammtischschulterschluß, der jedem Vorsitzenden ein leichtes ist, erneut krafterfüllt humpenhofierend unterstreichend: »Ich stehe hier auch in der universellen Verantwortung als Parteivorsitzender auch für den Fahrer! Weil ICH nicht mehr fahren kann!«
Dieser Max Webersche Kelch- und Kastenwerteuniversalismus leitete Kohl während aller entbehrungsreichen Amts- und Karrierephasen, die samt und sonders dem Leitsatze Maos verpflichtet waren: »Wir müssen an die Massen glauben, wir müssen an die Partei glauben: Das sind zwei Grundprinzipien. Wenn wir an diesen Prinzipien verzweifeln, können wir nichts zuwege bringen.« (Für diese Aussage gönnte sich Kohl, nebenbei erwähnt, zugs einen Kasten Krombacher. Es war grad nichts anderes da. Das dazu.) Zuwege brachte der Pilsener, lies richtig: der Pfälzer einiges, manch titanisch Anmutendes, auch im Sinne seines Lieblingsschriftstellers Jean »Biertitan« Breitner. Nicht entbehrte er indes, trotz der riesigen Anstrengungen auf dem zu beackernden politischen Felde, der Privatheit. »Ich bin einer, der Wärme braucht zu Haus’. Ich bin oft genug draußen im feindlichen Leben«, gestand Kohl 1986 dem Topinterviewer Gaus freimütig, wie beschwingt. »Zu Haus’ fupp’ ich selständick mein Bit viel lieber assi in Bonn aus döm Willibecher!«
Draußen, im und auf dem besagten Felde, herkulisiert Kohl schon als Jugendlicher schwerbehammelt herum. »Im Zeichen der europäischen Aufbruchstimmung reißt er mit Gleichgesinnten deutsch-französische Grenzpfähle nieder« (Henscheid), welche er späterhin gar in Richtung Rußland zerquetscht, den wiedererstandenen deutschen Staat aus den archimedischen Angeln zu zerren. Mit Kraft und Geschick, abermals. Und um das Bier gegen die Wodkawelle und -schwemme zu verbannen. Zu verteidigen.
»Manchmal«, wispert das treue Fernsehen, »gleicht er einem Raubvogel«, der sich Parteigelichter schnappt, manchmal humort er bloß bei III nach 9 herum, der Selbstsicherheit eichendeutsch anvertraut, daß ihn »Niederlagen stärken«. (Wenn er sich hinterher stärken kann – bei Bier, Busen und Bambulalerang.)
Das Hinterland feiert ihn längst. »In den Dörfern der Vorderpfalz wartet man ohne Murren auf das Erscheinen des großen Gastes«, ächzt eine Reportage aus dem Jahr 1976, und keine neun Jahre später weiß man: »Helmut Kohl – unser Kanzler für eine Zukunft mit menschlichem Gesicht« – das indes bereits ein wenig gerötet dreinbrumst.
Welches der stern 2000 dann als porentiefe, schier poröse Landschaft für den bekannten Titel, ob er, Kohl, noch normal ticke, ausschnitt.
Was verfängt’s, ts, ts, wisperte dazumal überdies Kohl und bölkte ein Sixpack Mayer Premium nieder, Kanzlerei ist ein schwieriges Geschäft. Sehr ahnend und sich selbst und irgendwie eventuell zur Vorsicht ermahnend, bekannte er denn den Kameras: »Dies ist ein Amt, das voller Schrecken, voller Eiseskälte der Distanz ist«, gedenkend der eichendorffischen Tage der Bubenprügel, der Bindenkipperei und des familiären Dreiradfahrens. Die ewige Presse, die nörgelnde Journaille wies Kohl zu dieser Stunde souverän bereits ab und fauchte Fragende vollfreihals an: »Zu was?« Und blökte magenbittergrimmig 1998: »Kamera läuft, um diesen Schafskäse abzusetzen.«