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Bier, ob aus den in Mode gekommenen Gasthaus- oder den notorischen Großkotzbrauereien, kann einen ja zur Verzweiflung bringen. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe bis dato etwa 4.000 Marken verkostet.
Und ich schwöre, daß ich, ausgenommen vielleicht das Trumer Weizen aus Österreich, kein gelungeneres, anregenderes, betörenderes, lieblicheres, grazileres helles Weißbier kenne als das von Martin Wentzler mit beinahe metaphysischer Begeisterung verfertigte.
Glauben Sie mir: Bei einer Fuhre Leon Weizen muß man sich nicht mal die Welt schöntrinken. Da ist sie’s. Und die Pilgerfahrt nach Dorst verschieben wir auf ein andermal.
Eins für die Chefin
Von Dieter Steinmann
In einem Dorfgasthaus in der südwestlichen Pfalz, nahe der Grenze zum Elsaß, wirkte bis in die achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts eine Wirtin, die für ihr eisernes Regiment über sämtliche Belange der Wirtsstube weithin bekannt war. Nervensägen, Schreihälse, Streithammel oder anderweitig störende Zecher wurden von ihr stets knapp, deutlich und bisweilen auch barsch zur Ordnung gerufen. Keimende Ausschreitungen erstickte sie allein durch Blicke, selbst allzu engagiertes Einschütten und Besoffenwerden wußte die ledig durchs Leben gehende Prinzipalin, damals stramm in der Blüte ihrer schon reiferen Jugend stehend, ohne große Umstände in geregelte Bahnen zu lenken.
Trotz ihrer also gewissermaßen Strenge und Herbergsmutterhaftigkeit stand Wirtsfrau Waltraud, allgemein Truda genannt, just bei ihren Stammgästen in generell hohem Ansehen, denn sie hatte über die Prägnanz ihrer unmittelbaren Ansprache ans Trinkpublikum hinaus etliche weitere drollige Schnurrigkeiten an sich. In den Legendenschatz der Hackmesserseite, so heißt die Gegend im Volksmund, ging etwa ihr sprachlicher Umgang mit ihrem Haushund ein, einem gerne gemütlich und vorbildlich kameradschaftlich in der Gaststube aufhältigen Quasischäferhund, der als einziges Lebewesen hier das Privileg auskosten durfte, all ihre Befehle, Appelle und Anraunzereien komplett zu ignorieren: »Nimm dich in acht, ja, ja, ei, mein Guterle, jawohl, ein Schatz is’ er, ja, wo is’ er denn, ja, da is’ er ja, gell, so ist’s gut, Platz!«
Nur nebenbei: In Würdigung ihres so häufig geschnarrten wie seitens des Hundes glatt ignorierten Befehls »Platz!« waren Rüpel unter den Gästen irgendwann auf den Witz gekommen, es wäre doch toll, dem Hund einen Sprengstoffeinlauf anzutun und diese Füllung mit einer Zündkapsel rektal zu verschließen, um ihn dann genau beim Wort »Platz!« per Fernsteuerung explodieren zu lassen, das würde garantiert bombig reinhauen, da würde die Wirtin Augen machen. Der Sowieso, beruflich Detonator im Steinbruch, würde das mit links hinkriegen. Klar, daß niemand im Ernst an einen solchen Frevel dachte.
Gleichermaßen zur Belustigung führte immer wieder aufs neue die hingegen reale Spitzennummer des erweiterten beruflichen Verfahrens- und Attitüdenrepertoires der Wirtin selbst: ihre vollendet bühnenreif ausgetüftelte Etikette, fast Subversion, dank deren subtilst ausbalancierten Einsatzes sie in der Organisation der eigenen Getränkezufuhr Habitus und Handfertigkeit nahe an die Sphären der Telekinese heranzuverfeinern wußte. Kenner der Szenerie kannten alle Details der Prozedur: So gut wie jeden Abend war irgendwann zu beobachten, daß die Chefin sich betont beiläufig daran machte, ein Bierchen zu zapfen, das niemand bestellt hatte. Fast ohne hinzusehen füllte sie schrittweise das Glas, eine mittlere Größe, wischte zwischendurch demonstrativ mal eine Teilfläche ihrer mächtigen Theke trocken, schob Flaschen, Gläser und Krüge hin und her, sudelte ohne tatsächliche Veranlassung behend im Spülwasser herum, kontrollierte wie nebenbei das Radiogerät auf Plausibilität des Programms und Wohlklang des Tons und ließ dann wieder fix eine Strecke Bier ins Glas zischen. War das Glas endlich gefüllt, mußte es ein, zwei Minuten neben dem Zapfaltar stehen, während die Gastronomin nun nochmals emsiger, fuchtelig choreographiert fast wie das Gefuddel eines Zauberkünstlers, der Hasen in nicht existente Zylinder zu stopfen trachtet, sozusagen freischaffend mit Salzstangenpäckchen, Kümmerling-Phiolen oder eingeschweißten Miniaturwürsten hantierte, was augenblicklich den ansonsten dösenden Hund alarmierte, dessen in Sachen Beute allerdings zweckloses Antreten die Unübersichtlichkeit des Vorgangsgefüges zusätzlich vertiefte. Und, schwupp, blitzschnell hatte sie in einer scheinbar anderweitig motivierten Drehung ihres Körpers das Glas aufs Fensterbrett der Durchreiche zur Küche gestellt – um aber endlich, eine nochmals spannende Minute später, selbst grandios unauffällig, wie ein Windhauch durch die Tapetentür in ihre Küche zu wechseln. Hier ging sogleich Licht an, und schemenhaft fuhrwerkte die Bierkonspirativlerin drei-, viermal am milchglasbewehrten Durchreicheschiebefensterchen vorbei, das dann plötzlich um eine Handbreit geöffnet stand.
Kurz darauf dann verschwand, wie von heiliger Elevation bewegt, das Glas nach innen, und gleich anschließend stand die nun sichtlich Erfrischte und Entspannte wieder hinter ihrer Theke, zupfte in ihrer ganzen kategorischen Chefinnengrandezza die Falten und Rüschen ihrer prächtigen Kittelschürze auf Zack und zeigte sich zu hundert Prozent gewiß, daß niemand auch nur das Geringste von ihren Manövern mitbekommen hatte.
Feine Gesittung bewiesen ebenso Frau Trudas Gäste, mehrheitlich Vertreter einer eher säkularisiertrustikalen Lebensart, indem sie ihre Wirtin unbedingt im Glauben ans Gelingen ihrer Trickserei ließen und sich so Abend für Abend ihr kleines Kammertheater sicherten.
PS: Mir war es einmal vergönnt, sie für den Lidschlag eines fast wie zenbuddhistisch vernagelten Augenblicks ansatzweise aus ihrer Contenance aufzuscheuchen. Auf ihre Frage »Pils oder Export?« hin bat ich sie, eh nur selten anwesender und keineswegs für voll genommener Zaungast an ihren Tischen, um »ein Schöppchen Clausthaler-Radler bittschön«. Es ist nicht bekannt, daß sie je eine Bestellung mit mehr Verachtung in Blick und Haltung erledigte als diese.
Das Zelt der Zerberusse
Ich hatte immer wieder einmal etwas gehört vom sogenannten englischen Humor, von dessen Schärfe, dessen Schwärze, von dessen respektheischender Selbstbezüglichkeitsneigung, also von der Fähigkeit des Engländers, sich selbst auf den Arm, auf die Schippe zu nehmen. Auch hatte ich wiederholt davon gehört, daß sich der sehr spezielle und bewunderte englische Humor hervorragend mit den zivilisatorischen Errungen- und herausragenden Eigenschaften dieses einst mächtigen kolonialistischen Inselvolkes vertrage, ja, daß sich beide, Humor und Zivilisation, wohl gegenseitig bedingten und womöglich der Humor des Engländers sogar darin gründe oder darauf zurückzuführen sei, daß der Engländer – statt über kulinarischen Geschmack und erfreuliches Wetter – über beste Manieren verfüge, an der Bushaltestelle genauso wie auf dem Sportplatz.
Der Engländer, hatte ich immer wieder gehört, verfüge zwar nicht über den Esprit seines Erzfeindes, des Franzosen, aber er verfüge doch über ein erstaunliches Quantum an sublimer Geisteshaltung, die ein Muster an Zivilisiertheit sei und ihren schönsten Ausdruck finde in seinem Humor und so weiter. Demgegenüber präge den Humor des Deutschen dessen herrisches Wesen, das Ungeschlachte, Unterwerfende, Ungeschliffene. Der deutsche Humor, hatte ich gehört und hörte ich immer wieder, sei eine Katastrophe und ein einziges Desaster, ein Ausbund an protziger Proletenhaftigkeit und selbstgefälliger Kunstunfertigkeit, ein einziges Dokument der niederträchtigen Gesinnung und völligen Unfähigkeit in Sachen Witz, Geist und Komik. Die Deutschen, hörte ich, machten Witze, wie sie Fußball spielten: brachial, plump, niederwalzend.
Das glaubte ich gern, und Beweise lagen ja bald, für mich sozusagen, auch reichlich vor, Mike Krüger oder Ingrid Steeger einerseits, Monty Python’s Flying Circus andererseits, um nur ein Beispiel zu geben. Den Witzkrieg, das war klar, und es war vor allem auch für mich klar, es war für mich sozusagen glasklar, den Witzkrieg, den Humorkrieg hatten die Engländer gewonnen, auch in dieser Höhe verdient. Mit 394:5.
Zwar hatte ich 1987, als ich im belgischen Ausland wohnte, mit anhören und mit ansehen müssen, wie ein Arbeitskollege meines Vaters, ein Engländer, vor unserem Fernseher, in dem ein wichtiges Europapokalfinale zwischen dem FC Porto und Bayern München gezeigt wurde, immer wieder sehr witzige Bemerkungen über Augenthalers Fernschüsse machte und sehr komische Grimassen zog, wenn die drückend überlegenen Deutschen mal wieder eine Hundertprozentige versiebt hatten (es war, glaube ich, vornehmlich Reinhold Mathy, der ausgesprochen standhaft versagte); aber dieses ein wenig ungebührliche und wahrlich sehr lustige Gebaren konnte damals nichts daran ändern, daß ich der festen Meinung war und blieb, daß der Engländer ein sehr feiner Mensch sei, weil er über seinen feinen Humor verfüge, der unsereinem in einer ungewöhnlich leichten und sophisticated Art signalisiere, das alles, dieser Fußball und diese Sportrivalität und so weiter, sei doch nicht so wichtig.
Das sollte sich ändern, und es sollte sich an einem schicksalhaften Tag ändern, an einem Tag, dessen Quersumme jene Zahl 10 ergibt, die auf den denkbar schicksalhaftesten Tag überhaupt verweist, der zehn Tage nach jenem Tag diese furchtbaren Ereignisse über uns brachte. Es sollte sich das also ändern am 1. September, am 1.9. (Quersumme: 10), zehn (in Zahlen: 10) Tage vor dem: 11. September (11.9.) (2001). Die Quersumme des 11.9. beträgt übrigens 20. 20 ist das Doppelte von 10. Der 1.9. des Jahres 2001 war also mindestens halb so fürchterlich wie der 11.9. zehn Tage später.
Es hatte an diesem grausamen und für mich ganz erschütternden, mich aufs dauerhafteste niederwerfenden Tag alles sehr schön begonnen. Einige Freunde, mein Bruder und ich weilten auf einem Campingplatz in den Ardennen, genaugenommen auf einer saftiggrünen Wiese in Spa-Francorchamps unweit des ehemaligen Hauptquartiers von General Ludendorff. Nichts weiter hatten wir im Sinn, als uns ein Wochenende lang an einem Autorennspektakel zu beteiligen und zu erfreuen, und die Kulisse war sehr wohl – und nicht bloß für uns, sondern für all die Tausenden Fans der Formel 1 – recht passend hergerichtet. Der dunkle Wald säumte das friedliche Zeltlager, die Sonne schien, M. Schumacher hatte ein hoffnungsspendendes Trainingsergebnis erzielt, die Gespräche liefen auf Hochtouren.
Es war Samstag, nach dem sogenannten Qualifying, es war der 1. September 2001. Es hatte schön begonnen, und es ging noch schöner weiter, denn unsere Zeltplatznachbarn, eine Gruppe äußerst lärmfähiger holländischer Musikfreunde, die jeden Morgen in Flugzeugturbinenlautstärke »Anton aus Tirol« zu spielen und die deutsche Nationalhymne herunterzu-nudeln pflegten, hockten vor ihrem Freiluftfernseher und erlebten die allerdemütigendste WM-Qualifikationsniederlage ihres Teams in Dublin. Sie erlebten das endgültige, definitive Aus für Japan und Südkorea, weil Overmars, Kluivert und van Nistelrooy die allerdeutlichsten Chancen versiebten, praktisch verkästen, also dauernd dämliche Luftlöcher schossen vor dem irischen Tor. Die Iren bedankten sich für diese kläglichen Aktionen und schossen ihrerseits in der 68. Minute ein Goal durch Jason McAteer, was dann, wie bekannt, die WM-Fahrkarte bedeutete. Für die Iren wohlgemerkt.
Wir, mein Bruder, einige Freunde und ich, hatten keinen Fernseher, aber wir hörten an diesem Nachmittag des 1. September vom Nachbarzelt jedes Ach! und Neeee! und Ump! unserer niederländischen Freunde herüberwehen, und so grüßten wir sie freundlich und belustigt, als wir am frühen Abend aufbrachen und ihre verwüstete Zeltstätte der Niederlage passierten, um hinunter ins Dorf, auf die Hauptstraße von Spa-Francorchamps zu gelangen, wo in einem Zelt zwischen den Wurst- und Verkaufsbuden ein Fernseher aufgestellt war, in dem das WM-Qualifikationsspiel Deutschland – England laufen sollte.
Wir waren im Grunde genommen nur noch zu dritt: mein Bruder, Herr Suppa und ich. Vor dem Fernsehzelt lungerten bereits diverse englische Formel-1-Zuschauer herum, die aber jetzt vor allem biertrinkende Formel-1-Zuschauer und darüber hinaus sehr stark biertrinkende Fußballzuschauer waren. Das weiße, das unschuldig weiße Zelt stach leuchtend gegen den marineblauen Himmel ab, und wir, Herr Suppa, mein Bruder und ich, stießen durch die dichten Reihen der am Tresen am Eingang des Zeltes Bier kaufenden und dort sofort trinkenden oder auch eher verschlingenden Engländer vor zu einer Bierbank mit Biertisch, wo wir uns setzten.
Wir setzten uns in dem Wissen und auch Gefühl, daß dieser Tag, der so gut begonnen hatte und der bis dahin weiter so trefflich, ja glänzend verlaufen war, einen guten Abschluß finden würde, auf die letzten freien Plätze, schräg links vor einem laut tönenden Fernsehgerät. Im Hintergrund schrien einige Engländer einige Schlachtparolen ins Zelt oder, sofern sie sich zur Zeltöffnung wendeten, in die laue Spätsommerluft hinaus. Ein besonders stimmkräftiger junger Engländer schien den Posten des Vorsängers oder Einpeitschers übernommen zu haben, doch Herrn Suppa, meinen Bruder und mich störte dies nicht, nicht im geringsten. Die Statistik sprach eine deutliche Sprache. Seit dem 3:2, das ja in Wirklichkeit dann sogar ein 4:2, ein 2:4 gewesen war, damals, 1966, war nichts mehr angebrannt. Die Weste England war makellos, rein, weiß. Rein gar nichts konnte uns passieren, uns, den drei am Biertisch vergnügt so manches Stella-Artois-Pils wegnippelnden Zuversichtsträgern und den sechs bis acht anderen Deutschen unter diesen hier versammelten und eigentlich zusammengerotteten englischen Formel-1- und Fußballbiertrinkern. Denn, so hatten wir gehört, die deutsche Mannschaft hatte nicht nur den Nimbus der vielen Siege über Albion im Rücken, sondern auch ein Spezialtrainingslager auf dem Schloßgut Oberambach am Starnberger See absolviert, das allen Deutschen, uns eingeschlossen, berechtigten Anlaß zu den erdenklichsten Hoffnungen für diese Partie gab, weil Deisler so stark sei, wie das Trainingslager gezeigt hatte.
Die Vorberichte begannen. Rechts von uns gruppierte sich ein Haufen sehr junger englischer Burschen um immer wieder frisch herangeschleppte Biertabletts. Sie johlten beim Anblick alter Bilder im Fernseher, kreischten, kaum älter als achtzehn oder allerhöchstens einundzwanzig, bei Hursts drittem Tor, brüllten jämmerlich klagend bei Terry Butchers verschossenem 1990er Halbfinalelfmeter. Sie hoben ihre Plastikbecher, in denen das belgische Bier schwappte, und schrien und zeterten bei jeder Einblendung aus diesen alten Tagen. Sie kriegten sich sozusagen gar nicht mehr ein. Sie waren schon, bevor das eigentliche Spiel begann, außer Rand und Band. Sie gossen randvolle Plastikbecher des belgischen Bieres, das dauernd auf neuen Tabletts herankam, in ihre Hälse, und wenn sie das Bier heruntergeschluckt hatten, schrien sie wieder, aus vollem Hals, nein, nun natürlich aus leerem Hals, aus einem geleerten Hals, der bei jedem von ihnen naturgemäß in dieser Situation allerdings ein nur für die allerkürzeste Zeit geleerter Hals war.
Im Fernsehstudio saßen um den Fernsehmann Delling, den Moderator, herum mehrere alte, moderate Herren. Zum einen war da Hurst, der sich sehr diplomatisch über sein Tor äußerte, das dritte Tor, das ja schon damals bereits das fünfte Tor gewesen war, aber wir sprechen noch heute wie selbstverständlich fälschlicherweise von einem dritten, von dem dritten Tor, und Beckenbauer nickte und sprach aus seiner Sicht über das in Gottes Namen dritte Tor. Das gleiche tat Seeler. Seeler sprach über das dritte Tor. Während er sprach, wurde die Szene wieder eingespielt. Die jungen Engländer schrien sogleich begeistert auf. Sie sprangen in die Höhe, jubelten und begannen zu singen. Aus dem Hintergrund des Zeltes drangen weitere Gesänge, rauher und härter und gewissermaßen schneidiger, feuriger, nach vorne an unseren Biertisch, der nun schon ein gesanglich und menschlich vollkommen englisch eingekreister Flecken, eine Oase war.
Herr Suppa hob einen frischen Plastikbecher Bier, als das Programm umgeschaltet wurde. Nun sah man das englische Fernsehstudio, ich glaube, es war der Sender BBC. Dort hatten sich um einen ausgesprochen häßlich geformten Tisch und vor einer abstoßenden Kulisse drei Herren versammelt, ein Moderator und zwei sogenannte Experten, aus denen vor allem Gary Lineker hervorstach, dieser Mann, der einmal in die Welt gesetzt hatte, Fußball sei ein Spiel für zweiundzwanzig Leute, und am Ende gewinne immer Deutschland.
Die BBC zeigte ebenfalls Spielszenen, die BBC zeigte aber nicht das Halbfinalelfmeterschießen von 1990. Man hatte sich seitens BBC offenkundig dafür entschieden, weder das 1990er Halbfinale noch das 1970er Viertelfinale der englischen Mannschaft gegen das deutsche Team zu zeigen. Noch offenkundiger war die Tatsache, daß man gleichfalls das 1:3 aus dem Jahr 1972 nicht vorführen wollte. Im deutschen Programm hatte man es eben noch gesehen, und Netzer hatte ein paar wohlgeformte Sätze über diesen historischen Sieg auf der Insel gesagt, den ersten Sieg einer Mannschaft auf der Insel überhaupt seit Jahrzehnten. Statt dessen zeigte BBC naturgemäß ausschließlich Niederlagen der deutschen Mannschaft oder solche Spiele, die gegen sogenannte Fußballzwerge während der Qualifikation fast verloren worden waren oder knapp, mit äußersten Mühen hatten gewonnen werden können. Nach diesen Spielausschnitten kommentierte und analysierte Lineker das Auftreten der deutschen Mannschaft, und nach jedem Satz jubelte das Fernsehzelt, in dem wir hier saßen, frenetisch, ja, frenetisch, so sagt man.
Erbarmungslos, trocken deckte Lineker die Schwächen auf. Er entblößte die Deutschen sozusagen. Er nahm kein Blatt vor den Mund, sondern spottete, verschmitzt lächelnd, richtiggehend gemein lächelnd und bisweilen scheppernd auflachend, und veralberte die tapsigen, ungelenken deutschen Abwehrspieler und die schwerfälligen Sturmtanks, vor allem Jancker. Jancker sei gar kein Fußballspieler, Jancker sei eine Art Panzer, hörte man ihn sagen, und an dieses Statement schloß sich augenblicklich ein Hoihoihoi! oder etwas ähnliches an.
Etwas belustigt schaute Herr Suppa zu den jungen Engländern hin, ja, er drehte sich sogar einmal um und betrachtete die mittlerweile zu hautengen Reihen zusammengeschlossene und -gepreßte Horde rotgesichtiger Briten in weißen, stellenweise feuchten, fast nassen T-Shirts. Manche trugen am Oberkörper auch einfach gar nichts. Es fehlte noch, sagte mein Bruder, daß sie die Hosen runterließen, und er nahm einen kräftigen Schluck Bier, ich folgte ihm darin.
Einen Tag zuvor, so meldete jetzt wieder das deutsche Programm, irgend jemand hatte umgeschaltet, einen Tag vor dem 1. September hatten in meiner Stadt, in Frankfurt am Main, etwa einhundertfünfzig oder sogar zweihundert sogenannte englische Fußballanhänger, sogenannte Fans, sogenannte Hooligans einen Angriff auf meine Stadt gestartet und die Innenstadt beinahe vollständig verwüstet. Wie als ob ich einen Zusammenhang erahnte oder beinahe bereits erkannte, erinnerte ich mich auch wieder an diese fürchterliche Katastrophe im Brüsseler Heysel-Stadion, diese damals, am 29. Mai 1985, für fast vierzig Menschen tödliche und verheerende Europapokalendspielveranstaltung in Brüssel, in einer Stadt, in der ich damals lebte und in der ich, zu Hause vor dem Fernseher sitzend, die besagte höhnische Beleidigung und Herabsetzung durch den Arbeitskollegen meines Vaters hatte erleiden und erdulden müssen. Damals, in Brüssel, hatten englische Fußballanhänger eine gewaltige Schlägerei angezettelt, die in eine entsetzliche Gewaltorgie ausgeartet war, und nachdem die Toten geborgen waren, sperrte die Europäische Fußball-Union die englischen Klubmannschaften auf Jahre hinaus aus, ja, sie sperrte die gesamte Insel, ganz England, aus Europa, dem Europa des Fußballs, aus.
Belgien, England, so dämmerte mir hier in diesem belgischen Fernsehzelt unter und zwischen englischen Fußballfans, Belgien und England, hier besteht eine Verbindung, ein Zusammenhang zumal. Herr Suppa ahnte von all diesen größeren und gefährlichen Zusammenhängen nichts, er konnte nichts ahnen, er war gewissermaßen ahnungslos, vollkommen ahnungslos wie ein Kind, naiv, froh und ohne Arg, er hegte keinerlei Verdacht gegen diese hier in der erdrückendsten Überzahl aufhältigen Engländer. In völliger Ahnungslosigkeit trank Herr Suppa sein Bier und schüttete kraftvoll weitere Biere in sich hinein, denn diese Vorberichte dauerten schon sehr lang, so Suppa. Mein Bruder und ich taten es ihm gleich. In absoluter Friedfertigkeit tranken wir eine Fuhre Bier nach der anderen. Um an diese Bierfuhren heranzukommen, mußte jedoch in immer kürzer werdenden Abständen einer von uns drei biertrinkenden Gästen in diesem Fernsehzelt zum Ausschank, zum Tresen gehen. Dies war kein Gehen, es war ein Drücken, Schlängeln, ein Schieben, Stoßen und Schubsen, es war ein erster Vorgeschmack auf den Spießrutenlauf.
Wieder zurück an unserem Biertisch, glücklich und heil wieder an diesen Biertisch gelangt, meldete der Fernseher eine weitere Eskalation. Sogenannte Ausschreitungen hätten München, den Austragungsort der WM-Qualifikationsbegegnung Deutschland – England, erschüttert, zu schlimmen Vorfällen sei es gekommen, weil sich ein Großaufgebot an englischen Fußballfans, wie es hieß, die Hucke hatte vollaufen lassen. Immer wieder Prügeleien habe es gegeben, und man hoffe doch sehr, lautete es jetzt aus dem Fernseher, daß solche fürchterlichen Vorfälle beim Spiel ausblieben, mit Fußball habe das nichts zu tun, das sei hier immer noch ein Fußballspiel. Es seien die Unverbesserlichen, die sogenannten Fans, die dem Fußball schadeten. Man bedauere das zutiefst.
Er bedauere, daß das Bier schon wieder zur Neige gegangen sei, sagte mein Bruder und machte sich auf, um Nachschub zu organisieren, wie er sagte. Das sei recht so, erwiderte Herr Suppa in den anschwellenden Lärm hinein, denn das Spiel beginne gleich, endlich.
Mein Bruder kehrte zurück, als der Anpfiff zu diesem Spiel, zu dieser heiß erwarteten Schlacht ertönte. Die Spannung war eine erhebliche. Zunächst schrien die Engländer noch einmal kurz auf, nach wenigen Sekunden jedoch verfielen sie in eine konzentrierte, ich möchte fast sagen: eine kindliche, eine kindische Konzentrationshaltung. Sie schwiegen.
Der Ball lief rund durch die deutschen Reihen, das deutsche Mittelfeld machte Druck und drängte die Engländer tief in deren Hälfte hinein. Deisler, Ballack und so weiter. Es war das Selbstverständlichste, daß Jancker, dieser Stürmer, der gar kein Fußballspieler sei, wie ich mich erinnerte, zum 1:0 einschob, die Kugel ins Netz des englischen Keepers drosch, dessen Name mir zu unbedeutend erscheint, um ihn nennen zu müssen.
Ich sprang auf, rannte um den Biertisch herum und sank vor dem Fernseher auf die Knie, die Fäuste nach oben gestreckt. Ich rief einige kurze Sätze der Begeisterung, warf den jungen und den alten Engländern einen Blick der Freude zu und begab mich zurück an den Biertisch.
Es war ein schönes Tor, und es war ein Tor gegen England. England schwieg noch mehr. Dieses England hier in Belgien war ein einziges vielgesichtiges, entsetztes Häuflein Elend. Nun, wie konnte ich wissen, wie konnte ich ahnen, daß dies unser, mein Waterloo werden sollte. Nein, das konnte ich nicht. Kein Mensch konnte auch nur ahnen, was bald im Münchner Olympiastadion, in der Arena des Weltmeisters und Weltpokalsiegers, geschehen sollte, daß die höchste Niederlage seit siebzig Jahren zu gewahren sein würde, seit dem 0:6 1931 gegen Österreich.
Nein, nicht irgendeine Niederlage. Die höchste Niederlage seit siebzig Jahren. Vor allem seit dem großen Sieg der deutschen Elf 1954 im WM-Endspiel hatte es ein solches Debakel nicht mehr gegeben, ein Debakel nicht gegen Brasilien, Frankreich, Holland, was weiß ich, ein Debakel gegen England! Gegen England und auf eigenem Platz, zu Hause, so unterzugehen, das konnte niemand voraussehen. Wenn wir hier weniger als fünf Stück kriegen, haben wir ein erstklassiges Resultat erzielt, hatte Netzer 1972 zu Beckenbauer gesagt, vor dem Spiel in der Kabine des Wembley-Stadions. Bei uns herrscht die bitterste Stimmung, die ich je erlebt habe, sagte der geduschte Wörns nach dem Spiel. Jetzt müssen wir auch mal die Schattenseiten durchleben, sagte Bierhoff. Owen sagte: 5:1. Ich meine: 5:1! Vor dem Spiel habe ich mich gar nicht getraut zu sagen, wir gewinnen hier. Und jetzt: 5:1.