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Es war eine ganz und gar unvorhersehbare Katastrophe. Die frohe Zeit endete für meinen Bruder, Herrn Suppa und mich fünf Minuten nach Jancker. Es wird einmal eine neue Zeitrechnung geben: fünf Minuten nach Jancker. Owen knallte zum Ausgleich ein. Owen exekutierte. Man spürte es. Man spürte augenblicklich die lähmende Ausweglosigkeit, die spätestens in der 23. Minute allzu deutlich, für alle Augen deutlich sichtbar, besonders für die englischen Augen deutlich und klar sichtbar, das deutsche Spiel, dieses Spiel voller unermeßlicher Unfähigkeit, ergriff, als Deisler schmählich versagte und völlig frei aus sieben Metern verzog. England raubte uns den Atem, England spielte Katz und Maus mit uns, warf Deutschland erst spielerisch hin und her, ließ es laufen, zeigte mal Krallen, tatzelte mal, und dann schlug England zu, biß zu, im brutalsten Sinne des Wortes, vor der Halbzeit durch Gerrard, kurz nach der Pause durch Owen, diesen Owen.
Die Pause war die fürchterlichste. Eine atemraubend lange Pause, in der die Engländer sich weiter eintranken und gewissermaßen aufrüsteten für den finalen Knockout. England, dachte ich, England aussperren, einfach ausschließen aus der WM-Qualifikation! Jetzt, ohne Federlesens, einfach so, Punkt, Ende.
Sie rollten wieder an, von links nach rechts nun, ein Angriffswirbel nach dem anderen prallte auf die deutsche Abwehr. Der Hochgeschwindigkeitsfußball der Briten war der erbarmungsloseste, und nach dem 1:3, wir sangen schon davon klagend bitterlich, brachen alle Dämme.
Ein trockener, ein sogenannter humorloser Schuß. Owen terrorisierte die deutsche Abwehr mit seinen Sprints. Owen rannte einfach los, drauf auf die Recken, schlug Haken, tunnelte, riß Löcher in die Deckung, erbarmungslos, riß die Flanken auf und flankte, schoß, zog ab, versenkte. Owen demontierte das deutsche Team, er machte Deutschland lächerlich. Und nicht nur Owen, der kleine, junge Owen. Beckham, Scholes, Heskey. Sven-Göran Eriksson, dieser eiskalte schwedische Coach der englischen Mannschaft, hatte sein Team, das Team Englands, auf die kälteste, die eisigste Weise eingestellt. Er hatte diese junge, unerfahrene, nicht ernst zu nehmende Truppe zu einer fehlerfrei aufspielenden, eiskalten Killertruppe gemacht, die ihren Gegner ohne Erbarmen abschoß.
England, o England, Eeeengland! sang das Zelt, das Zelt kochte, das Zelt brodelte, das Zelt schäumte. Chöre schwollen an und ab, in einem endlosen Getöse brüllten und bellten und grölten die Männer von der Insel. Gesangswogen brandeten heran, Brecher schlugen über unseren Köpfen zusammen, Becher flogen hinterdrein. Fuck you! Fuck you! spießte das Zelt jeden Spieler des Gegners auf, der sich zu wehren versuchte.
Herr Suppa zog seine Schirmmütze noch tiefer ins Gesicht, mein Bruder kauerte auf der Bank. Ich stand auf und wollte mich erleichtern, da prasselten Verwünschungen und Flüche auf mich ein, auf einen, der es gewagt hatte, sich in voller Größe zu zeigen, Asshole! Son of a bitch! Fuck you! Piss off! und diese Dinge. Ich fürchtete um mein Leben, ganz ernsthaft fürchtete ich um mein kleines Leben. Es war die Entfesselung des Allerfürchterlichsten. Wir waren umzingelt von dem entsetzlichsten Mob, von einem zu allem bereiten Pöbel, von einem gefräßigen Monstrum an Brutalität und Barbarei.
Ich setzte mich wieder, und ein Beifallssturm begleitete diese Bewegung, ein Zeichen der infamen Berauschung an der eigenen Macht, an der Stärke und am Bedrohungspotential, das der Engländer, dieser exzentrische Mensch par excellence, so auskostete. Nicht noch eins, nicht noch eins, wisperte mein Bruder, ich hörte gar nicht mehr richtig hin. Wir waren in die schlimmste Enge getrieben, real, körperlich, und wir waren in der beklemmendsten Bewußtseinsenge, nämlich Angst, gefangen.
Ich entschloß mich, wenn man hier noch von einem Entschluß reden kann, unter diesen Bedingungen, in dieser Hölle, in diesem dampfenden, bollernden, spritzenden, spuckenden, geifernden Glutofen des Wahns, ich entschloß mich zur Flucht. Es war die 66. Minute, das 1:4 durch Owen war gefallen, ich sammelte die letzten Kräfte, klaubte die letzten Krümel Mut zusammen, erhob mich und hechtete zur Seite, erreichte kriechend die Zeltplane, hob sie an, so gut es ging, Becher flogen und vielleicht Kieselsteine vom Boden, auf dem dieses Zelt der Zerberusse, der Höllenhunde, errichtet worden war, und quetschte mich wälzend und zitternd durch den engen Spalt, während, wie ich noch aus dem Augenwinkel erkennen konnte, die hinteren Spaliere in noch bedrohlichere Bewegung gerieten und begannen, sich nach vorne zu schieben.
Es war mein Heysel. Es war nicht nur mein Heysel, es war auch mein Córdoba. Es war mein Heysel-Córdoba, mein Córdoba-Heysel, könnte man sagen. Ich hörte, schnaufend und tief durchatmend, die englischen Fans schreien und jubeln. Durch die Zeltplane zeichneten sie sich schemenhaft ab, die Verbände und Berge der feiernden und zechenden und zum Äußersten neigenden Engländer.
Ich war entkommen, knapp entkommen. Ich mußte Herrn Suppa und meinen Bruder ihrem Schicksal überlassen und floh. Ich floh die Wiese hinauf, hetzte vorbei an verwüsteten holländischen Zeltburgen und erreichte mein eigenes Zelt, in das ich mich sofort hineinlegte, um augenblicklich einzuschlafen, alles zu vergessen und nicht entdeckt werden zu können.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, war es ungewöhnlich und zauberhaft still auf dieser Wiese in den Ardennen. Ich zog meine Schuhe an, streifte meine Jacke über und ging hinunter auf die Hauptstraße von Spa-Francorchamps. Die Planen des Fernsehzeltes waren zugezogen und fest verzurrt. Ich ließ das Fernsehzelt links liegen und lief weiter, bis zu einem Frühstückszelt, in dem ich ein gutes belgisches Frühstück zu mir nahm.
Neben dem Büfett lagen auf einem Tisch belgische, deutsche und englische Sonntagszeitungen aus. Ich hatte früher immer mal wieder davon gehört und darüber etwas gelesen, daß es eine Tatsache sei, daß viele, ja die meisten Engländer beim Anblick eines Deutschen zuerst an Krieg und Fußball denken müßten, daß die Engländer beim Anblick eines Deutschen zuerst an Adolf Hitler dächten und dann, beim Thema Fußball, sofort auch an Krieg dächten, denken müßten. Engländer könnten gar nicht anders, als Fußball und Krieg zusammenzudenken, sobald es um Fußball und einen Deutschen oder Deutschland gehe. Beim Fußball, so dachte ich kurz, mich dieser Einschätzungen entsinnend, versteht der Engländer keinen Spaß.
Das war nur so ein Gedanke, ein kurzer Gedanke. Ich nahm mir die Sonntagszeitungen. Ich rührte in meinem Kaffee, einem sehr guten belgischen Kaffee, herum und warf einen kurzen Blick auf die Mail on Sunday, wobei mir in den Sinn kam, daß für einen Engländer, für die allermeisten Engländer, eine Fußballpartie England gegen Deutschland schon 1966 eine bloße Metapher, eine rote, fleischige, zerfetzte, blutige Metapher gewesen sein mußte. Ich nahm einen Schluck von meinem belgischen Kaffee, es war Gott sei Dank kein englischer Kaffee!, und setzte diesen Gedanken, den ich sicherlich irgendwo einmal gelesen, aufgeschnappt haben mußte, fort. Deutschland – England, dachte ich, das war und ist die Fortsetzung des Krieges, dachte ich diesen Gedanken, diesen fremden und geläufigen Gedanken, zu Ende.
Ich legte die Mail on Sunday, diese englische Sonntagszeitung, zur Seite und zog aus dem Stapel englischer, belgischer und deutscher Sonntagszeitungen eine andere englische Sonntagszeitung heraus. Es war die Independent on Sunday. Die Independent on Sunday schrieb, dieser Abend, diese Nacht gestern, die Nacht des 1. September 2001, sei die größte Nacht seit dem WM-Sieg 1966 gewesen, diese Nacht sei das Gegenmittel für fünfunddreißig Jahre Schmerz.
Ich verzog ein wenig das Gesicht, in meinem vorzüglichen belgischen Kaffee war auch ein wenig nicht so vorzüglicher, bitterer Bodensatz, den ich gerade aus Unachtsamkeit verschluckt hatte. Ich mußte aber noch mehr schlucken, denn in diesem Moment schrien mich ganz unerwartet die Titellettern des sogenannten Sunday Express an. Owens Tore legen deutschen Stolz in Trümmer, schrien diese Lettern, und der Sunday Mirror, auch eine dieser neben meinem Kaffee achtlos abgelegten englischen Sonntagszeitungen, titelte rot, blutig, fetzig: Ausgeblitzt.
Ausgeblitzt. Ausgeblitzt habe es sich. Es habe sich ausgeblitzt mit der deutschen Fußballherrlichkeit, mit dem Kaiser habe es sich ausgeblitzt, und mit Glanz und Gloria habe es sich ausgeblitzt, Deutschland sei ausradiert, erledigt, Deutschland liege am Boden und sei fertig, fix und fertig. Englands Fußballöwen erschüttern Deutschland. Die Nacht, als wir den Deutschen das Maul stopften.
Das las ich. Und ich las in der letzten, in der allerletzten englischen Sonntagszeitung, im Sunday Telegraph, daß Fünf-Sterne-England nun das Kommando übernähme. Erikssons Männer, sagte diese Zeitung todernst, wenden das Blatt gegen den Erzfeind. Michael Owens drei Tore haben die Fußballkarte Europas neu gezeichnet. Englands Torrausch erschüttert die Weltordnung.
Ich schüttete ganz unabsichtlich den kümmerlichen Rest meines belgischen Kaffees über den Sunday Telegraph und griff zu einer deutschen Sonntagszeitung, und in der deutschen Sonntagszeitung stieß ich auf einen Bericht, in dem der Berichterstatter mitteilte: Am Ende dieses 1:5 sangen die englischen Fans höhnisch auf die Deutschen nieder: »Always look on the bright side of life«, das Lied der Komiker von Monty Python.
Das war lustig. Das war fair berichtet, dachte ich. Es war ein lustiger, fairer, ausgewogener Bericht, dachte ich und sann insgeheim auf bittere, schwarze Rache.
Vom Briten lernen
Von Dieter Steinmann
Als mein Freund Günter von Freital mir zirka 1969 die hier folgende Geschichte zum erstenmal erzählte, saßen wir anschließend lange beieinander, räsonierten über das Wesen des Briten, über sein Gebaren draußen in der weiten Welt, die Geschichte des Empire und Commonwealth, phantasierten über die Freude der Menschen Albions am Bier, über das bekanntermaßen vermehrte Aufkommen exzentrischer Personen in England und waren uns doch darüber im klaren, daß hinsichtlich dieser Thematik wohl auf ewig mehr Fragen als Antworten zu bedenken seien.
Günters Geschichte geht so: Er war aus schierer Freude am Nach-Dänemark-Fahren mit einer Freundin für ein paar Urlaubstage nach Kopenhagen gereist, und die beiden fanden dort auch gleich alles recht gemütlich und wohleingerichtet vor und machten sich schöne Tage. Günter zählte damals nicht zu jenen, die man lange nötigen muß, bis sie zu einem Gläschen Bier greifen. So lag es nicht fern, das in Kopenhagen ansässige Stammhaus der Carlsberg-Brauerei zu besichtigen, eine Bierfabrik von Weltrang, die überdies schon damals im Ruf stand, Stunde um Stunde anschauliche Besichtigungstouren durchs Haus anzubieten, als deren jeweils krönender Abschluß großzügig arrangierte Verkostungen galten.
Und so war es dann auch. Mit Bussen wurden die Besucher übers Gelände kutschiert. Station für Station der Bierherstellung war in allen Weltsprachen Wissenswertes zu erfahren, und zu guter Letzt versammelten sie die Biertouristen in einer Halle, in der auf langen Tischen artig arrangiert die Produkte des Hauses samt passenden Gläsern bereitstanden. Erst hier fiel Günter ein etwa dreißigjähriger Mann auf, der bisher eher matt die Tour absolviert hatte, der sich, von Schauplatz zu Schauplatz der Besichtigung, nur betont zögerlich von seinem Sitz im Bus erhoben hatte und selbst angesichts aufsehenerregender Aspekte der Braukunst und -technik nicht durch Zwischenfragen, Applauskundgebungen oder simuliertes Interesse aufgefallen war. Dieser bislang so zurückhaltende Mann entwickelte augenblicklich bei Betreten der Verkostungshalle eine enorme Beweglichkeit, indem er nun höchst konzentriert von Tisch zu Tisch eilte, um sehr zügig, aber ohne allzu verräterische Hast ein Fläschchen ums andere fix zu leeren.
Günter schilderte mir das Tun dieses engagierten Herrn in schönster Detailgenauigkeit: Stets im Takt aufgesetzter Gelassenheit, »so, als ob nichts sei«, spähte der Vielfachprobierer im Raum umher, machte wie mit Adleraugen sämtliche ungeleerten Probesortimente aus und stellte sie, um die Tischreihen mäandernd, ohne weitere Umstände sicher. Da Günter und seine Begleiterin sich sehr über dieses Schauspiel amüsierten, den Schluckspecht offen bewunderten, blieb diesem ihre Aufmerksamkeit nicht verborgen, und als er sich beim Abgrasen letzter nicht wahrgenommener Freibiere ihnen kurz näherte, flüsterte er ihnen kumpaneiselig zu: »Come on, next bus, next tour …«, winkte dabei so zierlich verschwörerisch, wie sein Zustand ihm übers eilige Bierschnappen hinaus noch koordinierte Gesten erlaubte, und zeigte auf die Reihe der draußen vor der Tür schon wieder neue Besichtigungsgäste aufnehmenden Carlsberg-Rundfahrtbusse.
Günter und seine Begleiterin verständigten sich kurz und folgten dem nun deutlich Wankenden, der wie selbstverständlich einen Bus erklomm, sich seufzend in einen Sitz fallen ließ und dann mit momentan letzter Kraft seiner Freude Ausdruck gab, Günter und die Seine bei sich zu wissen.
Genau so, wie man es ahnen möchte, kam es dann. Drei weitere komplette Touren lang begleiteten die beiden den, wie sie bald bruchstückhaft erfuhren, Engländer, der seinerseits als Tourist in Kopenhagen weilte und seit etlichen Tagen, vom Vormittag bis zur letzten Führung ab 16 Uhr, keine einzige Rundfahrt durch die Welt der Carlsberg-Biere verpaßt hatte. Mit nicht nachlassendem Tempo sauste er, Klimax des Unternehmens, jeweils zum Ausklang einer Fahrt in die Trinkhalle und dort von Tisch zu Tisch, nun nicht, ohne seine neuen Freunde und Begleiter herzlich zu ermuntern, sie mögen doch zugreifen, schnell, so billig wie hier würde das Bier nie wieder, und dafür sei er gut, der Däne, daß man ihm sein Bier wegtrinke, zu viel mehr tauge er eh nicht, das sei ja bekannt.
Den dringlichen Rat dieses durstigen Repetitionisten, morgen vormittag gleich wieder mit dabeizusein, schlug Günter höflich und mit dem Hinweis auf weitere Sehenswürdigkeiten Kopenhagens aus, was den Biertouristen vordergründig belustigte, in Wirklichkeit jedoch, so meint der Augenzeuge, mit der ganzen großen unauslotbaren Rätselhaftigkeit des Existentiellen an sich konfrontierte. Deutsche halt, Hunnen!
Seit jenen besonnten Stunden des immer wieder aufs neue Durch-die-Carlsberg-Hallen-Zirkulierens kommt Günter von Freital nicht ohne Grinsen an Carlsberg-Bierkästen oder Werbeschildern dieser Marke vorbei. Leute, die sehr entschieden mit dem Bier auf du und du stehen, kennt er etliche; nie allerdings war ihm die Gesellschaft eines hingerisseneren Schluckspechts vergönnt als damals unter dem Dach der dänischen Brauer.
Aufklärung à la Albion
Der Mann hat eine Mission, eine milde. Lucas Goebel hat in Weihenstephan Brauwesen studiert, einige Jahre bei verschiedenen Fachzeitschriften gearbeitet und dann die Nase voll gehabt – vom Verlautbarungsgeschnatter der Verbandsfabulanten, der Lobbyisten und der Lobredner in ureigener, das heißt in deutscher Sache.
Die meisten deutschen Brauer halten sich wenn nicht für die Erfinder des Biers, so aber mindestens für die Gralshüter in Sachen Bierqualität und -geschmack. Dafür spricht die Tradition im Lande der »Bierphilisterei« (Nietzsche) und der allgemeinen geistigen »Bierwirtsphysiognomie« (Schopenhauer). Wer erfand das Pilsner? Ein deutscher (bayerischer) Brauer! Wer erließ das Reinheitsgebot? Die deutschen (bayerischen) Herzöge Wilhelm IV. und Ludwig X. erließen es! Und die anderen? Jenseits der (deutschen) Reichsgrenzen? Pfuscher! Giftmischer! Ver- und Aufschneider! Bier? Nur von hier!
Kaum ein anderer (Selbst-)Betrug ist dreister und zählebiger verwurzelt in einer Nation, von der Schopenhauer sagte, sie sei »von allen die dümmste«, als derjenige des protektionistischen Reinheitsgebotshokuspokus, mit dem die Einzigartigkeit des deutschen Biers alleweil schwellbrustartig begründet und ausgeplörrt wird. Große deutsche Braumeistergenies werfen ungebrochen den Bierwanst in die Waagschale des Weltbiermarktes, schreien herum, deutsches Bier, das sei Pläsier, und machen im gleichen brackigen Atemzug alles schlecht, was schmeckt, weil es einen Geschmack hat, der sich vom zu Tode geschniegelten deutschen Supermarktschwedentrunk unterscheidet.
Lucas Goebel, ein freundlicher, zurückhaltender und doch begeisterungsfähiger Mann, hat von dem Getöse genug und veranstaltet auf eigene Kosten Bierproben, in deren zirka zweistündigem Verlauf er die Tester behutsam an die Grundlagen der organoleptischen und sensorischen Erkundung des unermeßlichen Kontinents Bier heranführt. Seine »Reise in eine unbekannte Welt« beginnt mit gutem Grund mit hiesigen, meist bekannten Produkten, um überhaupt erst einmal sorten- und markentypische Differenzen zu erschmecken, etwa zwischen barock-vollen, aromagehopften und flach-zackigen, bittergehopften Bieren, zwischen den Buketts obergäriger Bräus und den körperlichen Eigentümlichkeiten von in der Regel nicht allzu hochvergorenen Exportbieren. In aufsteigender Linie schreitet man auf der Tucholsky-Treppe Schlürfen–Schlucken–(Weg-)Schütten vom mit allem Recht der Welt an den Anfang gesetzten Alkoholfreien der beliebten hessischen Eisvogelbrauerei bis zum Weizen-Doppelbock fort. Umflort dann die Zunge ein lieblicher Reigen elysischer Himbeer- und Bananenaromen, so werden die Exerzitien zum Beschluß durch den Verzehr eines ausländischen Gebräus gekrönt, das die Pforten zu einem Reich unerhörter Schmackussensationen öffnet. »Aaaaah«, seufzt Goebel zufrieden, »richtig durchatmen und den Strauß schmecken!«
Je fuller, desto doller! Just an jenem Tag, als Goebel kürzlich das adorable Fuller’s Extra Special Bitter aus London kredenzte, war zuvor auf der A 7 ein Biersattelschlepper umgekippt. Abertausende Flaschen Warsteiner zerbarsten wie von höherer Hand verfügt. »Deutschland ist ein armes Land an Hefe«, beschied Goebel später, »man will keine Geschmacksvielfalt zulassen.«
Möglicherweise hat Lucas Goebel eine »Vision« (Willy Bierbrandt) – die vernünftige Vision, wenigstens einigen wenigen deutschen Biertrinkern ohne bierologisches Expertengehabe die Augen und Münder zu öffnen für Bräus, die jenseits des Eisernen Biervorhangs darauf warten, mit Neugier, Freude und dem mehr oder minder festen Willen zur mehr oder minder bravourösen Berauschung umgesäbelt zu werden. Schon Belgien wäre ja nicht allzuweit, jenes kluge Land und Hefeparadies der wilden Gärung, in dem laut FAZ-Korrespondent Christian Eichler der kategorische Imperativ die zumal im allseitigen Kant-Jahr allfällige tägliche Neuformulierung erfährt: »Handle stets so, daß dein Handeln auch als Grundlage einer möglichen Bierbestellung dienen könnte.«
Leberwurstbauch
Bier. Michael Jackson. Ein Buchtitel. Ein Mann. Viele Worte. Und die haben Gewicht.
Michael Jackson gilt nicht nur – einem seiner deutschen Verlage zufolge – als »Pionier des Bierjournalismus für den Verbraucher«. Er läßt auch von den nach eindrucksvollen Details geiernden Presseabteilungen verbreiten, einen »Bauchumfang von 112 cm« durch die Welt zu wuchten während seiner unzähligen Reisen in Sachen geistige Getränke rund um den bierbauchkugelrunden Globus.
Die Welt. Das Bier. Michael Jackson. Man kann an diesem Mann beobachten, wie ein Mythos wächst – etwa jener, daß der rund sechzigjährige »Knight of the Mash« (Ritter der Maische) »der erste war, der Biere nach ihrem Aroma und Geschmack beschrieb«. Das ist Unfug, aber auf dem hiesigen, überschaubaren Bierbüchermarkt hat sich Jackson den Ruf des unangefochtenen Schwenkers des pilsgoldenen Weihrauchfasses erworben, seit sein auf ungezählten Bierdeckeln zusammengehauener Pocketklassiker Bier – Über 1000 Marken aus aller Welt 1987 erstmals auf deutsch erschien.
Michael Jacksons eiserne Devise lautet: loben, loben, loben. Und deshalb bisweilen notgedrungen: lügen. Denn wer das Bier nach Maßgabe der Weingourmetliteratur in den Stand des distinguiert zu beurteilenden Nobelgetränks erhebt, dessen – in Anklang an einen Klassiker der Soziologie – sortentypisch »feine Unterschiede« (Verlag/Pierre Bourdieu) es in den Gefilden der »geschmacklichen und charakterlichen Vielfalt« (Verlag) zu erkunden gelte, der vergißt beim achten Schoppen auch mal, daß die von der Brauerei gratis zur Verfügung gestellte Probe aus korrupter Trunkenheit zum erlösungsgleich gelungenen Trank gerät, obschon sie von der Zunge unter Normalbedingungen der Unbestechlichkeit strikt zurückgewiesen werden müßte.
Michael Jacksons »symbolisches Kapital« (Bourdieu) ist sein zementierter Ruf. Und wer einen Ruf hat, kann rufen, ohne daß noch jemand darauf achtet, ob der Rufer bei Sinnen ist. Bier (Starnberg 2005), Jacksons jüngster, chic inszenierter Aufguß seiner auf keinem Bierfilz mehr unterzubringenden Bücher zum Thema, verzichtet deshalb auratisch-monolithisch auf einen Untertitel – das Wort dieses Mannes gilt.
Der ehemalige Leiter des Deutschen Filmmuseums, Walter Schobert, hat mir mal erzählt, daß Michael Jackson, dessen Whiskeybibeln Schobert ins Deutsche übersetzt, unterdessen eine Garde von Assistenten brauche, um sein Pensum hinterher zerebral noch »auseinanderklappermüsentieren« (Michael Schumacher) zu können. Im mit opulenter Food-Photographie protzenden Band Bier, der durch die Berücksichtigung zahlreicher zum Wohle des Biertrinkers vergossener neuamerikanischer Micro-Brewery-Erzeugnisse durchaus überzeugt, liest man dann etwa in der hochmodischen Rubrik »Bier als Digestif« zum Irseer Abt’s Bier inklusive Ostapostroph zustimmend: »Der Abt dürfte von diesem sehr starken Lagerbier ordentlich betrunken worden sein.« Doch in welcher Verfassung war Michael Jackson, als er den »Zweck des Bieres« bestritt, »im Berauschen zu liegen«?
Jackson, der »mit dem Trinken in der Schule begann« (The Times), ließ sich von Verlagsseite mal attestieren: »Es ist Donnerstagmorgen, halb zehn, und Michael Jackson trinkt wieder. ›Das erste Bier am Tag schmeckt immer phantastisch.‹« Andernorts versicherte er, »er habe auf einer einzigen fünfwöchigen Reise durch die USA 500 Biere probiert« (The Wall Street Journal). In Bier, das uns sprachliche Pretiosen einschenkt wie einen Abgang »mit sackleinener Trockenheit« und eine Geschmacksnote à la »geklumpte Sahne«, mahnt der Meister hinsichtlich einer ernsthaften Degustation: »Schon fünf oder sechs Biere können den Gaumen überfordern, und zehn, zwölf sind sicher mehr als genug.« Was sagt man dazu?
Was übrigens wirklich ein Mythos ist und deshalb endlich zügig ins Reich der Lüge verdammt gehört: daß Bier dick macht. Einen Bierbauch, das haben in derlei Fragen unbestechliche, abgeklärte finnische Wissenschaftler vor Jahren derart unwiderlegbar unter Beweis gestellt, daß es sogar die Bild-Zeitung meldete, einen Bierbauch gibt es nicht. Es gibt einen Pizza- oder Schweinshaxen- oder Leberwurstbauch, der mitunter aus der appetitanregenden Zufuhr von Bier erwächst.
Und genausowenig gibt es einen Grund dafür, ein Pils unverdrossen sieben Minuten lang zu zapfen. In eineinhalb Minuten ist es nämlich fertig, wohlgeraten in holdester Frische.
Wir hätten das gern in Bier gelesen. So wird es mit der Aufklärung aber wieder nichts.
Auf Hemdknopfhöhe
Wenn Michael Jackson der »Bierpapst« ist – welcher Titel aber presseoffiziell ebenfalls dem Kollegen Michael Rudolf sowie meiner Wenigkeit verliehen wurde –, dann darf man Conrad Seidl, den seit Jahren von Österreich aus etwa über Hopfen und Malz (Wien 1995) und Unser Bier (Wien 1996) skribierenden Standard-Journalisten, eventuell zum Bierkardinal küren, also zum erlauchten Assistenten des apostolischen Bierstuhlinhabers.
Allein, Seidl, dessen Nachname sich mitnichten der Anleihe bei einer bayerischen Bierglasgröße verdankt, strebt offenbar ein Schisma an. Er betreibt die Website www.bierpapst.cc, und in der überarbeiteten Neuausgabe seines dreihundert Seiten starken Bier-Katechismus (Wien 2005) legt er unumwunden fest: »›Bierpapst‹ ist auch eine geschützte Marke – es darf keine anderen Bierpäpste neben Conrad Seidl geben.« Doch völlig neben der Kappe ist auch Conrad Seidl, seines unheiligen Zeichens Experte für »personal branding« (www.bierpapst.cc) und Autor des »Buches« Die Marke ICH, nicht immer, weshalb er zwei »andere Bier-Gurus und Bier-Jäger« toleriert, u. a. Herrn Jackson.