Organisationskultur der katholischen Kirche

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Alles, was in Raum und Zeit geschah, geschieht und geschehen wird, erlebt das Volk Gottes nicht in kirchlicher Isolation, sondern es teilt alles und jedes dieser Welt „zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit“; zugleich aber erinnern die Konzilsväter an die Verpflichtung der pilgernden Kirche, in dem Geschehenen „die wahren Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes“, alles im Glauben mit einem neuen Licht zu erhellen und „auf humane Lösungen hin“ zu orientieren (GS 11). Es widerspräche wohl dem Geist des Konzils, gewisse innerhalb der Menschheit geteilte „Ereignisse, Bedürfnisse und Wünsche“ einfach im Fragenkatalog „der Zeichen der Zeit“ negieren zu wollen. Die Bischöfe des Zweiten Vatikanums sprechen ausdrücklich vom „gegenseitigen Dienst“ des Volkes Gottes und der Menschheit, „der es eingefügt ist“ (GS 11). Von einem Ausschluss eines bestimmten menschlichen Lebensbereichs können und wollen die Konzilsväter nicht sprechen, schon gar nicht vom Ausschluss einer gegenseitigen Beleuchtung artverwandter Kompetenzen25, die für die effiziente und effektive Leitung einer Organisation – ob gesellschaftlich, politisch, sozial oder religiös – vonnöten sind. Somit wird die Erhellung der Kultur einer Organisation, vor allem jener der Kirche, ein „wahre[s] Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes“ (GS 11).
„Was denkt die Kirche vom Menschen? Welche Empfehlungen erscheinen zum Aufbau der heutigen Gesellschaft angebracht? Was ist die letzte Bedeutung der menschlichen Tätigkeit in der gesamten Welt?“ (LG 11) Diese Fragen der Synodenväter schließen kirchliche Tätigkeiten nicht aus, sondern beantworten die Fragen kurz für die gesamte Welt, in der die Kirche ihre Sendung erfüllt: Beide stehen in einem unteilbaren und gegenseitigen Dienst (LG 11). In diesem Kontext gilt der Mensch, der Bild Gottes ist, als Mittel- und Höhepunkt in dieser Welt, in der er jedoch seine Aufgaben nur als soziales Wesen erfüllen kann.26
Die Verwundbarkeit des von Gott nach seinem Bild geschaffenen Menschen zeugt davon, dass dieser auf der ihm vom Schöpfergott zur Verfügung gestellten Welt „vom Anfang der Geschichte an“ (GS 13) immer wieder versucht war, seine eigenen Wege zu gehen. Dazu heißt es: „Der Mensch erfährt sich, wenn er in sein Herz schaut, auch zum Bösen geneigt und verstrickt in vielfältige Übel, die nicht von einem guten Schöpfer herkommen können“ (GS 13). Die Konzilsväter weisen auf die Zwiespältigkeit des Menschen hin, die ihn in einem ständigen und dramatischen Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Dunkelheit fesselt, aus dem er sich selbst nicht als Sieger hervorzugehen weiß. Der Herr ist der, der aus diesem menschlichen Desaster herausführt, das „den Menschen selbst [mindert], weil sie [d.h. die Sünde] ihn hindert, seine Erfüllung zu erlangen“. Diese Worte umfassen „das gesamte Leben der Menschen, das einzelne wie das kollektive“ (GS 13), wie die Bischöfe in diesem grundlegenden Text der Pastoralkonstitution betonen.
Weil die irdische Kirche aber als eine „mit hierarchischen Organen der Gesellschaft“ klar konstituierte „sichtbare Versammlung“ (LG 8) nicht außerhalb der Welt von gestern, heute und morgen existiert, sondern als pilgerndes Volk Gottes immer im Raum dieser Welt, aber nur in den ihr gewährten Äonen unterwegs ist, darf und kann sie sich diesem Kampf zwischen Gut und Böse nicht entzogen glauben. Bleiben die Synodalen des Konzils in diesen Aussagen auch ihrer kirchlichen Sprache treu, wird kaum geleugnet werden können, dass es sich in der Diktion der Organisationswissenschaft bei dieser „sichtbaren Versammlung“ um eine (auch) von Menschen getragene Organisation und bei den „hierarchischen Organen der Gesellschaft“ um deren Führungskräfte handelte.
Nach den Artikeln über den Menschen als Bild Gottes und der Verwundbarkeit dieses Bildes durch die Sünde erinnern die Konzilsväter in diesem einleitenden Kapitel der Pastoralkonstitution nicht nur an die bloße Leiblichkeit des Menschen, sondern an seine Einmaligkeit und in ihr an seine Einheit von Leib und Seele. Die vereinfachende Eingrenzung der Leiblichkeit auf den eigenen Körper und noch zugespitzter auf die körperliche Sexualität des Menschen würden dem Artikel 14 des Konzilstextes nicht gerecht werden. Es geht letztendlich um die gesamte „stoffliche Welt“, die Teil des menschlichen Lebens als solches ist, „wo Gott ihn [den Menschen] erwartet“. Die Herleitung des Lebens von „bloß physischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen“ verwehrt dem Menschen ein In-die-Tiefe-Gehen (GS 14). In diesen Spiegel der Erkenntnis des „Wesensstandes des Menschen“, wie dieser Artikel 14 der Pastoralkonstitution (wohl in Klammern gesetzt) überschrieben ist, kann und muss sich auch die irdische Kirche schauen: Die „stoffliche“ Seite des Lebens der Kirche „darf also der Mensch nicht geringachten“. Als getauftes Glied der Kirche verlangt seine Würde als Mensch das Gegenteil – um den Gedanken des Konzils der Bischöfe nicht nur auf die Welt, sondern synonym eben auf „die Kirche in der Welt von heute“ zu richten –, „nicht den bösen Neigungen seines Herzens“ zu dienen, sondern Gott in der „sichtbaren Versammlung“ zu verherrlichen (GS 14).
Der geheimnisvolle Leib Christi der irdischen Kirche darf und kann als geistliche Gemeinschaft aus seinem Wesen heraus nicht auf einen gesunden Leib und auf gesunde hierarchische Organe verzichten; diese machen die stets auf ihrem missionarischen Weg pilgernde Kirche sowohl nach innen als auch nach außen hin erkenntlich und sichtbar. Wenn immer und wo immer die gottgewollte „komplexe Wirklichkeit“ der Kirche aus dem Gleichgewicht zu geraten droht, ist sie entweder mit der Illusion einer welt- und somit menschenfremden Esoterik oder aber mit der oft knallharten Versuchung eines wirtschaftlichen Utilitarismus, der ohne Gott auszukommen scheint, konfrontiert.
Es wundert nicht, dass die Konzilsväter diesem Artikel – verkürzt gesagt – über Leib und Seele Worte über die Vernunft des Menschen und „deren Vollendung in der Weisheit“ (GS 15) folgen lassen, geht es doch um einen Gedanken, der dem US-amerikanischen protestantischen Pastor Reinhold Niebuhr zugesprochen wird: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden“.27 Im letzten geht es in diesem „Gelassenheitsgebet“ mit dem Blick auf die Kirche und ihre göttlichmenschliche Bedingtheit darum, das Göttliche in ihr in Demut hinzunehmen, das Menschliche immer wieder mit Mut und ohne Angst auf seine zeitliche und räumliche Gültigkeit hin zu überprüfen, „und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Das Konzil würdigt die Vernunft des Menschen, in der er „in Teilnahme am Licht des göttlichen Geistes […] die Dingwelt überragt“ und schätzt die menschliche Entwicklung in den empirischen Wissenschaften, der Technik und der geistigen und künstlerischen Bildung (LG 15). Es mag verwundern, dass die Kirche diesen Konzilsgeist bis heute eher selektiv rezipiert hat. So akzeptiert sie ohne weiteres die Erkenntnis der modernen Medizin- und Kommunikationstechnik, solange sie ihren eigenen ethischen Normen nicht entgegenlaufen, verweigert sich jedoch offensichtlich den Fortschritten mancher anderer Wissensgebiete wie etwa des operativen oder strategischen Finanz-Controllings und der Wirtschafts- oder Organisationswissenschaften. Die Würde der menschlichen Vernunft kann auch eine vertiefte Wahrheit ergründen, auch dann, wenn sie aus menschlichem Fehlverhalten teilweise verdunkelt und geschwächt ist (LG 15).
Ihre Vollendung findet die Vernunftnatur der menschlichen Person in der Weisheit. Der Menschenglaube bezeugt schon im Alten Testament, dass alle Weisheit vom Herrn stammt und auch ewig bei ihm ist; auch lehrt Erfahrung, dass Gott seine Weisheit über all seine Werke ausgegossen hat, sie den Menschen jedoch unterschiedlich zugeteilt ist: „Er [der Herr] spendet sie denen, die ihn fürchten“ (Sir 1,10). Auch in Gaudium et spes stellt das Konzil klar, dass die Verteilung der Weisheit in dieser Welt nicht mit der wirtschaftlichen Situation korrelieren muss; oft seien verhältnismäßig arme Nationen reicher an Weisheit als vermögende (GS 15). Die Erfahrung des Lebens bestätigt, dass diese Aussage der Synodalen ohne Abkürzung auf die menschliche Person wie auch auf eine soziale oder wirtschaftliche Institution übertragen werden kann. So mag die Weisheit und somit das Überlebenspotential eines kurzfristig finanziell prosperierenden Konzerns bisweilen dürftiger sein als die Weisheit einer kleinen Organisation, die langfristig und damit nachhaltig denkt und handelt.
Bevor die Konzilsväter in der Pastoralkonstitution auf den Atheismus im Allgemeinen und im Besonderen zu sprechen kommen, fokussieren sie noch die Würde des sittlichen Gewissens (GS 16) und die hohe Bedeutung der menschlichen Freiheit (GS 17). In Bezug auf die organisationskulturellen Fragestellungen dieser Arbeit spielen sowohl sittliches Gewissen als auch menschliche Freiheit im Zusammenleben und gemeinsamen zielgerichteten Handeln einer Organisation eine essentielle Rolle. Gewissen muss sich (weiter)bilden, will es nicht irregehen oder abstumpfen. Und mit einem solchen gebildeten Gewissen vermag der Christ eine Brücke bauen zum Gewissen anderer Menschen, die zwar Christus nicht (an)erkennen, aber ihrer inneren Stimme gehorchen, die ihnen mitteilt, das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen. Eine solche Prämisse genügt oft in einer menschlichen Organisation als erster bewusster Schritt, divergierende Meinungen ins Lot zu bringen. So wie die menschliche Person kann auch eine Organisation mit einem abgestumpften Gewissen ihre Würde verlieren, was nicht selten in blinder Willkür endet (GS 16). Die Vorausbedingung des Hinwendens des Menschen zum Guten ist seine von Gott gewollte Freiheit, die damit zur unabdingbaren Würde seiner selbst wird. Blinden inneren Drang oder bloßen äußeren Drang zu einem gewissen Handeln bezeichnen die Konzilsväter als einer Person unwürdig, gleichgültig ob sie Mitglied der Kirche ist oder nicht. So stellt sich auch in diesem wesentlichen Attribut menschlichen Lebens heute die Frage, wie viele Organisationen ihren Mitarbeitern oder Mitgliedern in einer bis in die kleinsten Details regulierten Arbeitsumwelt ihre persönliche Freiheit nicht nehmen. Diese Frage müssen sich auch die Kirche und die von ihr abhängigen Organisationen gefallen lassen.
Die von Gott initiierte und gewollte Würde des Menschen braucht ständiges Ringen (LG 48), nicht nur in der Welt, auch in der Kirche, die nicht mit ihr identisch ist, aber die Gestalt dieser Welt trägt, mahnte der steirische Caritasdirektor Franz Küberl im März 2015 in seinem Festvortrag bei der Verleihung des Menschenrechtspreises des Landes Steiermark ein. Er spricht von einer „‘Verwertung„ des Menschen auf allen Ebenen“ des heutigen Lebens im Gegensatz zu „seinen geistigen Werten, von der Freude an der Entwicklung des eigenen kreativen Potentials – vom Gesamtkunstwerk Mensch, dem vor allen Nutzungs- und Verwertungsstrategien Würde und Einzigartigkeit zukommt.“28 Schaffung und Wahrung von Gerechtigkeit, Menschenwürde und -rechten seien die Aufgaben der Staaten, für deren Gestaltung jeder einzelne Mensch mit verantwortlich ist.
Menschenwerte wie Glaubwürdigkeit, Toleranz, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Dienst am Nächsten, Würde und Rechte aller Menschen sind jedoch nicht auf die systemisch-gesellschaftliche Ebene begrenzt, sondern erheben auf- und absteigenden kaskadenförmigen Anspruch genauso auf politische, soziale und kirchliche Organisationen und somit auf den einzelnen Menschen als Person. Konflikte entstehen dort, wo menschliche Werte auf einer dieser Ebenen mit Füßen getreten werden, das mag die persönliche Wertedimension tangieren, aber auch die institutionell-organisatorische und die gesamte gesellschaftliche Kultur.
Erst im letzten Artikel des ersten Kapitels der Pastoralkonstitution kommen die Konzilsväter auf Christus, den neuen Menschen zu sprechen, „in dem allein ‚sich das Geheimnis des Menschen wahrhaft aufklärt„ (GS 22), freilich in das Geheimnis Gottes hinein.“29 Das verlangt von jedem einzelnen Christen und jedem menschlichen Kollektiv, das sich christlich nennt, die unbedingte Nachfolge Christi.
1.5.3 Pastoral-biblische Arbeitsinitiativen
Wie und auf welche Weise die Kirche Jesu Christi als Communio auf ihrem Pilgerweg ans Ziel gelangt, d.h. auf welchen Glaubenswerten und Wertvorstellungen sie dahinschreitet und welche Denk-, Verhaltens- und Handlungsweisen sie daraus adaptiert, kann nicht ohne Konsultation des Lebens Jesu geschehen, das von authentischen Zeugen im Neuen Testament tradiert wird.
„Jesus verkündete das Reich Gottes und gekommen ist die Kirche.“30 Die Hermeneutik dieser von zeitkritischen Kreisen der katholischen Kirche heute gerne argumentativ verwendeten Worte des französischen Priesters und Theologen Alfred Loisy (1857–1940) kann in zwei kontroverse Richtungen deuten. So wird diese Aussage einerseits dahin interpretiert, dass die Wirklichkeit des von Jesus verkündeten Reiches Gottes von sozial-kirchlichen und somit menschlichen, bewussten und unbewussten Struktur- und Kulturelementen im Laufe der zweitausendjährigen Kirchengeschichte überlagert wurde. Andrerseits – und das war wohl die ursprüngliche Intention31 des gewiss hierarchie-kritischen Modernisten-Theologen Loisy – sah dieser „in der Umwandlung der Reichshoffnung zur Kirche einen legitimen geschichtlichen Vorgang“.32 Diese Worte antizipieren gleichsam die vom Zweiten Vatikanischen Konzil in der Kirchenkonstitution formulierte Ekklesiologie: „Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft und der geheimnisvolle Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft, die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst“ (LG 8). Was der Theologe offen kritisierte, war das Nachahmen oder sogar das Kopieren weltlicher Macht- und Regierungsstrukturen durch die Kirche Jesu Christi.33
Der Fokus dieser Arbeit wird die Kirche, beziehungsweise werden Teilorganisationen dieser Kirche, als „die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft“, also „die sichtbare Versammlung“ (LG 8) sein, deren Betrachtung und Analyse jedoch „die geistliche Gemeinschaft“, nämlich „die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche“ (LG 8) mit ihrem jesuanischen Sendungsauftrag miteinschließen und mitdenken muss. Da die Kirche jedoch nicht diese Welt bedeutet, sondern „sie [die Gläubigen] in dieser Welt auch den Tempel Gottes errichten können“ (GS 21), bedarf es einer authentischen Übersetzung des in der menschlichen Welt Werte-vollen für die Kirche und in diese Kirche hinein, denn „… diese Gemeinschaft [der Kirche erfährt] sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden“ (GS 1).
Die Erkenntnis der Bischöfe und Theologen des Zweiten Vatikanischen Konzils, dass die Welt mit ihren wahren Werten Lehrmeisterin der Kirche Jesu Christi sein kann, macht der kirchenzentrierten Sicht des 19. und 20. Jahrhunderts ein Ende:
Mit großer Achtung blickt das Konzil auf alles Wahre, Gute und Gerechte, das sich die Menschheit in den verschiedenen Institutionen geschaffen hat und immer neu schafft. Es erklärt auch, dass die Kirche alle diese Einrichtungen unterstützen und fördern will, soweit es von ihr abhängt und sich mit ihrer Sendung vereinbaren lässt (GS 42).
Wenn Hugo Rahner seine Rede „am hohen Festtag der deutschen Katholiken“ im Jahr 1956, also sechs Jahre vor dem Beginn des Zweiten Vatikanums, mit dem markanten Satz beginnt „Die katholische Kirche ist ein Haus voll Glorie, weit über alle Lande dieser Erdenwelt“34, schimmert in diesen Worten noch die über alles erhabene und petrifizierte Kirche der Vergangenheit durch, die von der Welt nur Negatives, aber nichts Positives lernen kann.35 Aber schon im Titel dieser später publizierten Ansprache klingt die Realität an: „Die Kirche, Gottes Kraft in menschlicher Schwäche“36, ein Gedanke, den Hugo Rahner dann mit den Worten konkretisiert: „Die heilige Kirche Gottes ist in Kraft ihrer Nachbildung des Herrenleibes hienieden immer beides: Kraft und Schwäche, Glorie und Verächtlichkeit, sie ist Herrin und Magd, thronende Königin und arme Pilgerin.“37
Es ist einerseits die göttliche Communio, die geistliche Gemeinschaft, die die Kirche mit himmlischen Gaben der Kraft und Glorie beschenkt, und es sind andrerseits das sichtbare hierarchische Gefüge und das organisatorische Gesamtbild hier auf Erden, welche sie, nämlich die aufgrund dieser göttlichen Geschenke geliebte Kirche, in ihrem Denken, Handeln und Zusammenleben bisweilen schwach und verächtlich erscheinen lassen (LG 8). Als Arbeitsinitiativen mit vorläufigem Charakter und ohne Anspruch auf letztgültige Vollständigkeit sollen sechs Bilder aus dem Neuen Testament und somit aus den pastoralen Worten Jesu selbst auf das authentische Leben, also auf den getreuen Kern des Lebens, und wohlgemerkt nicht auf die Struktur der Kirche verweisen. Menschliche Zusammenarbeit in der Kirche und somit pastorale Ausrichtung des Sendungsauftrags Jesu (Mt 28,19) haben ihr Fundament in seinen Worten und Taten, was strikte bedeutet, dass Taten und Worte der Kirche heute, wenn sie glaubwürdig gelebt werden wollen, die Taten und Worte Jesu widerspiegeln müssen.
Fragen nach der „richtigen“ Organisationskultur und Antworten darauf müssen in allen Facetten „auf dem Niveau des Evangeliums“38 gestellt und formuliert werden. Es ist Überzeugung der christlichen Kirchen, dass sich Gott der ganzen Menschheit räumlich und zeitlich in der Geburt, dem Leben, dem Leiden, dem Tod und dem neuen Leben der Person Jesus geoffenbart hat. Seine Jüngerinnen und Jünger schrieben das Leben ihres Rabbi und ihr Zusammenleben mit ihm nieder, um ihren apostolischen Nachfolgern in ihrer missionarischen Sendung das Erbe Jesu authentisch weiterzureichen. Allerdings ist die Heilige Schrift keine Enzyklopädie für Argumente, wie viele evangelikale oder fundamentalistische kirchliche Gemeinschaften es gerne sehen wollen.39 Die Bibel ist eine Art Roadmap für eine Nachfolge Jesu, die nicht nur Aufgabe des einzelnen „Heiligen“ ist (Röm 16,2; 1 Kor 1,2; Eph 4,3;5,3; Hebr 13,24), wie die ersten Christen genannt wurden, sondern des ganzen Volkes Gottes, das durch Raum und Zeit zum Vater im neuen Jerusalem unterwegs ist (Offb 3,12; 21,10).
Im Folgenden sollen sechs neutestamentliche Meilensteine organisationskultureller Werte und Verhaltensweisen exemplarisch erläutert werden, die Jesus denen beispielhaft mit auf den Weg geben will, die seine Nachfolge ernst nehmen. Diese biblischen Highlights nehmen Bezug auf die im 5. Kapitel dargelegten Dimensionen einer Organisationskultur: Steuerung, Kommunikation, Leistung, Vertrauen, Wachstum und Identität.
Steuerung – die Verwandlung der geschockten Jünger
Nach der Verurteilung durch den Hohen Rat der Juden und der Kreuzigung Jesu durch die römische Besatzungsmacht vor den Toren Jerusalems schien für seine Freunde der Traum eines gemeinsamen Wegs zu Ende gegangen zu sein. Jesus hatte die Frohe Botschaft von der Barmherzigkeit seines Vaters nicht auf die Frommen und die im sozialen Scheinwerferlicht angesiedelten Juden eingeschränkt, sondern auch die am Rand der Gesellschaft Stehenden angesprochen: Aussätzige und Sünder, Dirnen und Zöllner. Dieses Szenario war für die Jünger Jesu unerträglich und sie alle ergriffen die Flucht (Mk 14,15). Sie waren schockiert, ratlos und am Boden zerstört: „Wir aber hatten gehofft, dass er der sei, der Israel erlösen werde“ (Lk 24,21). Dann aber stand er wieder inmitten seiner Jünger, die ihm einen Fisch zu essen gaben (Lk 24,42). Und er begann mit ihnen über das zu sprechen, was mit ihm in Jerusalem geschehen war. Ihre geöffneten Augen (Lk 24,45) waren Voraussetzung dafür, sie zu Zeugen seines neuen Lebens zu machen und sie auf den Weg zu schicken, allen Völkern die Umkehr zu predigen (Lk 24,45-47).
Nach der Dramatik der Tage in Jerusalem war die Eigeninitiative der Jünger auf null gesunken. Sie verschanzten sich hinter verschlossenen Türen (Joh 20,24-29), bis ihr wieder lebender Freund die Initiative übernahm. Die letzten Worte Jesu, die Johannes in seinem Evangelium berichtete, sind an Petrus gerichtet: „Du aber folge mir nach!“ (Joh 20,22). Damit war es klar, welche Aufgabe Jesus ihm und allen seinen Jüngern übertrug. Sie sollten seine Initiative weitertragen. Der neutestamentliche Exeget Thomas Söding spricht von einem „österlichen Motivationsschub“, der die Geburt der ersten christlichen Gemeinden erst ermöglichte.40
Die Erzählung der beiden Jünger, die von Jerusalem nach Emmaus unterwegs sind und denen sich auf ihrem Weg ein offensichtlich Fremder anschließt, gipfelt im gemeinsamen Brotbrechen, bei dem ihnen schlagartig die Augen aufgehen und sie in diesem Fremden ihren Freund Jesus erkennen (Lk 24,13-35). Mut- und Ratlosigkeit hatten die beiden in den letzten Stunden in eine Passivität abdriften lassen, die erst im gemeinsamen Essen durchbrochen wurde. Und der Evangelist fügt die Unmittelbarkeit ihrer Initiative an: „Noch in derselben Stunde brachen sie auf und kehrten nach Jerusalem zurück …“ (v.33). Kleopas und sein im Evangelium namenloser Freund setzen das spontan in die Tat um, was Jesus ihnen auf dem Weg dargelegt hatte (v.27).
Der notwendige Wandel von einer passiven Fremd- zu einer aktiven Selbststeuerung41 scheint den Jüngern von Jesus auch im Gleichnis vom anvertrauten Geld vermittelt worden zu sein (Mt 25,14-30). Ein Mann bricht zu einer Reise auf und hinterlässt seinen Dienern einen Teil seines Verdienstes. Der, dem er fünf Silbertalente anvertraut, erwirtschaftet weiter fünf Talente. Jener, der zwei Talente von seinem Herrn erhalten hat, verdoppelt das ihm Anvertraute auch. Nur der, der ein Talent überantwortet bekommt, gräbt dieses ein und gibt es seinem Herrn bei dessen Rückkehr von der Reise unangetastet zurück. Aus Angst, er hätte etwas falsch machen können. Es genügt nicht, Verantwortung übertragen zu bekommen ohne Bereitschaft, darauf auch eine Antwort zu suchen.
Die Übertragung eines kirchlichen Amtes durch Handauflegung oder Beauftragung bedeutet die Übernahme von administrativer und/oder pastoraler Verantwortung in der Diakonie, der Verkündigung, der Liturgie und im Leben der Gemeinde, für die am Ende des Tages auch Rechenschaft abzulegen ist. Kirchliche Sendung, die a priori persönliche Anstrengung und Erfolg ausschließt, bremst das Volk Gottes auf seinem heilsgeschichtlichen Weg.
Kommunikation als Grundwert der Communio
Um „Menschen fischen“ zu können, müssen die apostolischen Fischer ihren Mund auftun, ihre Füße und Hände aktivieren und ihre Herzen auf Empfangsmodus stellen, d.h. sie müssen die „Kunst“ des Kommunizierens besitzen, diese zumindest anstreben. Diese für die Kultur der Kirche notwendige Fähigkeit beschränkt sich nicht nur auf die Mitarbeiter der römischen Kurie, sondern auf alle Teilbereiche kirchlicher Sendungsarbeit bis hin zu den kleinsten im Namen Jesu versammelten Gemeinschaften.
Einige der Jünger Jesu waren Fischer. So erzählt Matthäus über die Berufung der beiden Brüder aus Betsaida am See von Galiläa, über Simon und seinen Bruder Andreas. Und ein wenig später näherte sich Jesus mit ähnlichen Worten dann auch Jakobus, dem Sohn des Zebedäus, und seinem Bruder Johannes; in Mt 4,21 heißt es schlicht: „Er rief sie …“. Auch sie waren Fischer. Die einen waren gerade dabei, ihre Netze in den See auszuwerfen, die anderen hatten offensichtlich ihren Fang schon eingeholt und saßen am Strand in ihrem Boot und besserten ihre Netze aus. Beide Brüderpaare waren sozusagen mit ihrer Arbeitsvorbereitung beschäftigt. Jesus aber schlug ihnen einen Rollenwechsel vor: Wenn ihr mit mir kommt, dann „werde [ich] euch zu Menschenfischern machen“ (Mt 4,18). Und sie willigten ein, „verließen […] das Boot und ihren Vater und folgten Jesus“ (Mt 4,22), ohne noch im Entferntesten zu ahnen, was die Worte Jesu für sie und ihre Nachfolger bedeuten würden.