Organisationskultur der katholischen Kirche

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Für den ersten Arbeitsanstoß verwenden wir dieses Bild der Fischer vom See von Galiläa, die auf Jesu Wort hin alles stehen und liegen haben lassen, um ihrem Freund zu folgen. Die richtigen Netze, die auch immer wieder ausgebessert werden müssen, können zwar am richtigen Ort und zur richtigen Zeit die Wahrscheinlichkeit auf einen guten Fang erhöhen, aber eine Garantie, dass die Fischer dann ihre Netze, gefüllt mit Fischen, ans Land ziehen können, gibt es dabei nicht. Gute Kommunikation und Zusammenarbeit werden die Netze voller machen können, aber Sicherheit für den Erfolg bieten sie nicht. Dazu gehört mehr. Dazu gehört das Vertrauen auf den, der den neuen Jobs als Menschenfischer in der Welt Sinn verleiht. Fehlen allerdings die richtigen Instrumentarien oder werden sie am falschen Ort und zur falschen Zeit eingesetzt, werden auch gute Kommunikation und Zusammenarbeit nicht zum Erfolg verhelfen; die Wahrscheinlichkeit des Nicht-Erreichens des erwünschten oder angestrebten Ziels würde in diesem Fall steigen. Die Schlussfolgerung, die die Kirche von den „apostolischen Fischern“ am See von Galiläa lernend ableiten kann: Die richtige Organisationskultur des Volkes Gottes auf seinem irdischen Weg zum Ziel wird das menschliche Pilgern erleichtern, es humaner und authentischer gestalten; aber eine solche Kultur, mit allen menschlichen Mitteln anstrebbar, ist allerdings auch kein Garant dafür, dass auf dem Pilgerweg zum Ziel hin keine Steine liegen. Eine Unternehmenskultur, die „strategisch“ nicht auf die gemeinsame Vision hin ausgerichtet ist und das Ziel nicht im Auge hat, also als für die Organisation nicht adäquate Kultur bezeichnet werden muss, lässt die Herde kleiner werden und die Hirten vereinsamen.
Leistung – das „Mit-einander“ als Maßstab
Spricht man heute im politischen, wissenschaftlichen und vor allem wirtschaftlichen Alltag von Leistung, so stellt sich stets sogleich die Frage, wie denn in diesen gesellschaftlich-sozialen Zusammenhängen Leistung gesehen, definiert und auch gemessen werden könne. Und weil es schwieriger ist, qualitative Schritte zu einem erwarteten Ziel hin greifbar und dingfest zu machen als quantitative Bewegungen, wird selbst die Reflexion über Leistung einfach verworfen42.
Das pastorale Bemühen Jesu, soziale Barrieren und religiöse Schranken zwischen den Menschen Israels abzubauen, wurde von den nachösterlichen Gemeinden als ein klarer Auftrag für ihre Arbeit der Verbreitung des Reiches Gottes gesehen und vor allem von Paulus wortmächtig weitergegeben. Für die Praxis des „Miteinanders“ listet Gerhard Lohfink in seinem Werk über die Frage, wie denn „Jesus Gemeinde gewollt“ hat, einige exemplarische „Stichproben der Briefliteratur des Neuen Testamentes“ auf43:
Einmütigkeit untereinander suchen (Röm 12,16)
auf den anderen bedacht sein (Röm 12,16)
einander annehmen (Röm 15,7)
einander zurechtweisen (Röm 15,14)
einander mit heiligem Kuss grüßen (Röm 16,16)
aufeinander warten (1Kor 11,33)
einträchtig füreinander sorgen (1Kor 12,25)
einander in Liebe Sklavendienste leisten (Gal 5,13)
einander die Lasten tragen (Gal 6,2)
einander in Liebe ertragen (Eph 4,2)
gütig und barmherzig zueinander sein (Eph 4,32)
sich einander unterordnen (Eph 5,21)
einander verzeihen (Kol 3,13)
einander trösten (1 Thess 5,12)
einander aufbauen (1Thess 5,12)
untereinander Frieden halten (1Thess 5,13)
einander Gutes tun (1Thess 5,15)
einander die Sünden bekennen (Jak 5,16)
füreinander beten (Jak 5,16)
einander von Herzen lieben (1Petr 1,22)
gastfreundlich zueinander sein (1Petr 4,9)
einander in Demut begegnen (1Petr 5,5)
miteinander Gemeinschaft haben (1Joh 1,7).
Diese neutestamentlichen Leistungskriterien können noch fortgesetzt werden, kennen allerdings keine quantitative Skaleneinteilung von „ausgezeichnet“ bis „ungenügend“. Denn der eigentliche Maßstab, der diesen Ermahnungen zugrunde gelegt ist, ist die Liebe Gottes, die sich im Leben und Zusammensein Jesu mit seinen Jüngern und dem Volk Israel geoffenbart hat. Heißt das aber, dass missionarische Arbeit in den Gemeinden, Diözesen und in der Weltkirche überhaupt nicht messbar ist? Vielleicht gar nicht der Versuch gemacht werden soll oder darf sie zu messen? Wenn Papst Franziskus reflektiert, dass das Maß der Liebe Gottes darin besteht einfach maßlos zu lieben44, kann das jedoch keinesfalls bedeuten, dass sich die getauften Christen, die dazu berufen sind das Reich Gottes in ihrem Raum und in ihrer Zeit greif- und erfahrbar zu machen, in den leerer werdenden Kirchenbänken und den spärlich besetzten Priesterbänken zurücklehnen und alles dieser maßlosen Liebe Gottes überlassen. Die Ermahnungen (Paraklese) spiegeln eine Dynamik des evangelisierenden Aufbruchs wider: suchen, annehmen, sorgen, leisten, tragen, ertragen, verzeihen … Auch Papst Franziskus erinnert in Evangelii gaudium an dieses Aufbrechen im Glauben und Vertrauen in Gottes Wort (EG 20), das im Alten Testament in den Gestalten Abraham, Mose und Jeremias auch für die nachösterlichen Gemeinden immer wieder zeichenhaft dafür steht, dass die Gottsuche kein Spaziergang ist, sondern ganz wesentlich auch etwas mit menschlicher Leistung zu tun hat.
In Mt 7,15-23 spricht Jesus die Warnung vor den falschen Propheten aus, „die einen leichten politischen Ertrag schnell und kurzlebig erbringen, aber nicht die menschliche Fülle aufbauen“. Heute ist es Papst Franziskus, der sich die Frage stellt, „wer diese sind, die sich in der heutigen Welt wirklich dafür einsetzen, Prozesse in Gang zu bringen, die ein Volk aufbauen“ (EG 224). Er hinterfragt also im Kontext der sozialen Dimension der Evangelisierung45 die pastorale Leistung und nimmt bei der Beantwortung dieser Frage Gedanken von Romano Guardini zu Hilfe; und hier geht es um eine Leistungsbeurteilung (EG 224):
Die Geschichte wird die letzteren [jene, die nicht die menschliche Fülle aufbauen] vielleicht nach jenem Kriterium beurteilen, das Romano Guardini dargelegt hat: ‚Der Maßstab, an welchem eine Zeit allein gerecht gemessen werden kann, ist die Frage, wie weit in ihr, nach ihrer Eigenart und Möglichkeit, die Fülle der menschlichen Existenz sich entfaltet und zu echter Sinngebung gelangt‘.46
Das Leistungsspektrum pastoralen Handelns in der Kirche kann niemals mit einer betriebswirtschaftlichen Brille beurteilt werden. Es geht um die Entwicklung und die Entfaltung menschlicher Existenz hin zur Sinnfülle des Lebens (Joh 10,10). Das Modell menschlicher Entfaltung und glaubhafter Sinngebung ist nicht das Modell eines Theologen, es ist das göttliche Modell für den Menschen schlechthin. Bei seiner ersten Begegnung mit dem Menschen geht es Jesus zuallererst nicht darum, sein Leben zu verändern, sondern ihm in seiner ganz individuellen Situation mit all ihren Stärken und Schwächen die Tiefe der Liebe Gottes spüren zu lassen. Gott ergreift die Initiative lang bevor der Mensch sich zu ihm aufmacht.
Um dem Leben eines an Leib oder Seele verwundeten Menschen, dem Jesus begegnet, wieder Sinn zu geben, setzt er sich nicht hin und belehrt diesen über die Wahrheit oder die Fülle des christlichen Lebens, sondern er umarmt ihn mit seinen mitfühlenden Worten oder berührt ihn in Liebe, die die Liebe Gottes ist. Danach heilt Jesus das, was der Fülle des Lebens hinderlich ist, den Frieden und die Zufriedenheit stört und es oft auch unmöglich gestaltet, nach dem Evangelium zu leben. Erst dann mahnt Jesus vom Verwundeten eine Leistung ein. Er fordert den seit 38 Jahren Verkrüppelten am Rand des Teiches Betesda auf umzukehren: „Jetzt bist du gesund; sündige nicht mehr, damit dir nicht noch Schlimmeres zustößt“ (Joh 5,15). Zur ertappten Ehebrecherin sagt er: „Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ (Joh 8,11).
Vertrauen – Gott vertrauen und dem Menschen trauen
Der Autor des Hebräerbriefes wendet sich an die zweite oder dritte Generation der frühen Christengemeinde (Hebr 2,3), „denen der Elan der Anfangszeit abhandengekommen ist“.47 Diese Worte gelten nicht nur einer bestimmten Gemeinde, sondern sind einer ganzen Generation der Heilsgeschichte in ihrer pastoraltheologischen Wanderschaft zugesprochen (Hebr 10,32-35):
Erinnert euch an die früheren Tage, als ihr nach eurer Erleuchtung manchen harten Leidenskampf bestanden habt: Ihr seid vor aller Welt beschimpft und gequält worden, oder ihr seid mitbetroffen gewesen vom Geschick derer, denen es so erging; denn ihr habt mit den Gefangenen gelitten und auch den Raub eures Vermögens freudig hingenommen, da ihr wusstet, dass ihr einen besseren Besitz habt, der euch bleibt. Werft also eure Zuversicht nicht weg, die großen Lohn mit sich bringt.
Den Weg des gemeinsam wandernden Gottesvolkes hatten auch die Konzilsväter im Sinn, als sie in der Kirchenkonstitution darauf hinweisen, dass Gott beschlossen hat, diejenigen, die Christus vertrauen, in der Gemeinschaft der Kirche zusammenzurufen (LG2). Der oft lange Weg verlangt von den Anhängern des „neuen Weges“ vor allem Ausdauer (Hebr 10,36; 12,1-2) und den beharrlichen Willen zur Neuorientierung (Hebr 2,1; 3,10). Die Schwierigkeiten in der Gemeinde kommen nicht von außen, sondern sind in der Organisation selbst zu orten, „es sind schlicht und einfach die Mühen der Ebene, die Probleme bereiten“.48 Thomas Söding spricht davon, dass der christliche Glaube alltäglich wird und es der Gemeinde zunehmend schwer fällt, „sich auf das Hören des Evangeliums zu konzentrieren und das Überzeugende, Aufbauende, Wegweisende, Ermunternde, Tröstende, Anspornende der christlichen Botschaft zu erkennen“49 (Hebr 5,11-14).
Die Erkundung des Beginns eines neuen Weges der Gemeinde sieht Söding im „Hinschauen zu Jesus – Hinhören auf Gottes Wort“, in der „Wahrnehmung der Wirklichkeit“ und dem Sehen des Unsichtbaren – Hören des Unerhörten“50, drei Vorausbedingungen für das Vertrauen auf Gott, die eine notwendige Neuorientierung initiieren können. Wenn der Gemeinde das Vertrauen auf die Nähe Gottes abhandenkommt, dann mündet dies in einer aufkeimenden Inflexibilität, die sie früher oder später lähmt.
Der vertrauende Gottesglaube, der seine Standfestigkeit aus der Hoffnung empfängt, umschließt und nährt auch das Vertrauen in den Menschen, der Weggefährte des pilgernden Gottesvolkes ist. Schließlich und endlich ist es nicht der Taufspender, der den Täufling mit dem heiligen Chrisam zum Priester, König und Propheten oder zur Priesterin, Königin und Prophetin salbt, sondern der Herr selbst. Die Glaubwürdigkeit dieser Handlung wird zum Prüfstein des Zusammenlebens und des gemeinsamen Handelns in der Kirche. Es ist Jesus selbst, der mit dem Getauften auf seinem Lebensweg unterwegs ist. Die einzige gültige Antwort auf das Vertrauen Gottes in sein Geschöpf Mensch, den er ja nur ein wenig geringer gemacht hat, als er selbst ist, und den er ja mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt hat (Ps 8), kann nur ein bejahendes Vertrauen sein.
Dem Autor des Hebräerbriefes geht es nicht um einen ekklesiologischen Traktat, aber sehr wohl um eine alltägliche praktisch-theologische Reflexion einer Spiritualität der Communio im Großen und im Kleinen, d.h. er ruft die verlorengegangene Spiritualität der Gemeinden, der Pfarren, der Ortskirchen und damit der universalen Kirche ins Gedächtnis des pilgernden Volkes Gottes.
Die Liturgiereform des Zweiten Vatikanums hat mit dem Friedensgruß in der Eucharistiefeier wieder eine symbolische Geste der urchristlichen Gemeinden in Erinnerung gerufen, die uns mehrfach aus den Paulusbriefen (Röm 16,16; 1Kor 16,20; 2Kor 13,12) überliefert ist: „Grüßt einander mit dem heiligen Kuss“ oder auch mit dem „Kuss der Liebe“ (1 Petr 5,14). Wie können Leiter oder Mitglieder einer Gemeinde bei dem Friedensgruß dem Gegenüber in die Augen blicken, wenn sie einander in ihrer tagtäglichen Arbeit in und für die Kirche nicht über den Weg trauen?
Wachstum – Das Reich Gottes schlägt Wurzeln
Eine missionarische, kooperative und konstruktive Kirche51, wie sie Thomas Söding in der Tätigkeit des Apostels Paulus vor Augen hat, verkündet primär das Reich Gottes vor allem dadurch, dass sie mehr Salz der Erde und Licht der Welt (Mt 5, 13-16) ist und in ihrer Sendung nicht unbedingt vieler Worte bedarf. Zweitens treibt die Kirche als Communio stets die ihr von Jesus aufgetragene Sammlung des Gottesvolks voran – auch wenn diese Worte selbst nicht aus Jesu Mund kommen, so sind sie in seinem Reden und Tun impliziert, denn ein Reich kann im damaligen Sprachgebrauch nicht ohne Volk existieren.52 Das dritte Merkmal der Kirche Christi demonstriert uns Paulus als Gemeindegründer und Gemeindeleiter: In diesem Kontext geht es ihm nicht nur um das innovative und kreative Handanlegen am Bau des Hauses Gottes, sondern er hat den ganzen Menschen als den Tempel des Heiligen Geistes (1Kor 3,16) im Sinn.
Damit umfasst das Reich Gottes alle Dimensionen des menschlichen Lebens, von der Existenz der einzelnen Person über die Geburt einer kleinen christlichen Gemeinschaft und den Aufbau einer Gemeinde über das Erblühen einer Ortskirche hin bis zur wirklich universalen Kirche. Bei der Begegnung des Hauptmanns von Kafarnaum ist Jesus über dessen tiefen Glauben erstaunt und spricht über eine große Völkerwallfahrt: „Viele werden von Osten und Westen kommen und mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen“ (Mt 8,11). Was Jesus im kleinen Kreis begonnen hat, setzen seine Jüngerinnen und Jünger nach seinem Tod und seiner Auferstehung fort. Am Pfingsttag (Apg 2,1-13) und mit den Gemeindegründungen von Paulus und seinen Gefährten wird diese „Völkerwanderung“ zur Realität.
Für die Entwicklung und das Wachsen des Reiches Gottes hat Jesus seinen Aposteln keine dezidierten oder fixen Strukturen vorgeschrieben, er hat ihnen allerdings mit seinem eigenen Leben das „Wie“ vorgegeben. Die institutionellen Formen des Reiches Gottes sind bisweilen im offenen Disput, beispielsweise beim Apostelkonzil (Apg 15,1-35), oder aber auch in aller Stille in den Gemeinden des Römischen Reiches gewachsen.
Paulus verliert in seiner Missionsarbeit das eschatologische Ziel – in der Organisationswissenschaft würde heute von der strategischen Zielsetzung gesprochen werden – niemals aus dem Blick. In seinem ersten Brief an die Gemeinde in Thessaloniki, dem ersten, den er jemals an eine Gemeinde adressiert hatte, ermahnt er sie (1Tess 5,12-13):
Euch aber lasse der Herr wachsen und reich werden in der Liebe zueinander und zu allen, wie auch wir euch lieben, damit euer Herz gefestigt wird und ihr ohne Tadel seid, geheiligt vor Gott, unserem Vater, wenn Jesus, unser Herr, mit allen seinen Heiligen kommt.
Mit diesem Maßstab des persönlichen Wachsens in Liebe zu Gott und zu einander, das ihm zum Fundament jeder Gemeindeentwicklung wird, geht Paulus an seine pastorale Arbeit heran. Er bringt das Samenkorn in seinem Reisegepäck und pflanzt es in die Erde der jungen Gemeinde, überlässt jedoch das Wachstum – wohlgemerkt unter seinem wachsamen Auge – jenen, denen er das Wort vom Reich Gottes anvertraut hat.
In der Wirtschaft durchläuft jedes Unternehmen verschiedene Phasen, vom Wachstum über die Blüte bis hin zum Scheitern oder zur Übernahme durch ein anderes Unternehmen, das näher am Kunden geblieben ist als es selbst. Im Gegensatz zur Welt kann jedoch die Kirche Jesu Christi von den Mächten dieser Welt – heute könnte man auch sagen: von den Mächten ihrer materiellen und immateriellen Märkte – nicht überwältigt werden (Mt 16,18). Dieses Versprechen Jesu ist einerseits eine vom Vertrauen getragene Sicherheitsklausel, kann das Schiff der Kirche aber auch nahe an gefährliche Klippen herantragen, wenn ihre Mann- oder „Frauschaft“ gegen den Geist Gottes segelt. Dann hilft nur mehr sein Steuermann, der einzig und alleine Jesus ist.
Identität – ein Grundanliegen der frühen Christengemeinden
Der konstruktive Wille der frühen Christengemeinden, Communio mit Christus und Communio mit den Menschen in ihrem Leben zu begründen, ist in der Spiritualität des letzten Beisammenseins Jesu mit seinen Jüngern begründet (vgl. Joh 13, 1-20). Während die Synoptiker ausführlich über das Mahl berichten (Mt 26,20-29; Mk 14,17-25; Lk 22,14-23), erwähnt das Johannes-Evangelium dieses nur sozusagen vorübergehend mit den Worten: „Es fand ein Mahl statt [… und er] stand vom Mahl auf …“ (Joh 13,2.4), fügt aber das Sondergut der Fußwaschung ein (Joh 13,1-20). Glaubhaft können die Hinwendung zu Gott und die Vereinigung mit ihm in der Liturgie nicht ohne Hinwendung zum Mitmenschen und ohne Verneigung vor ihm erfolgen. Die Spiritualität der Kirchen des Ostens spricht von einer „Liturgie nach der Liturgie“53 mit der Hoffnung, aus dem irdischen Szenario mit Hilfe der fürbittenden Heiligen, die im byzantinischen Ritus auf der Ikonostase dargestellt sind, einmal zum Festmahl im himmlischen Jerusalem gelangen zu können.
Die Urkirche lebt diese Spiritualität des Gottes- und Menschendienstes aufgrund des authentischen Zeugnisses der Aposteln, vor allem des Paulus, von dessen Denken und Tun für die Kirche heute dank seiner Briefe und der Apostelgeschichte mehr tradiert ist als von allen anderen Aposteln, die zum engsten Freundeskreis Jesu gehörten. Nach seiner Jesus-Begegnung vor den Toren von Damaskus (Apg 9,3-8) und seiner „Aus-Zeit“ in der Wüste (Gal 1,17) war Paulus ständig „ohne abgehobene Kirchentheorie“ und „ausgeklügelten Pastoralplan“54 unterwegs, um neue Gemeinden zu gründen. Um diese Aufgabe des erfolgreichen Gemeindeaufbaus von Paulus verstehen zu können, sind Grundwerte und Verhaltens- und Handlungsmuster, also seine „missionarische oder evangelisierende Kultur“ zu hinterfragen. Im 1. Korintherbrief fasst der Apostel seine Erkenntnis für eine gedeihliche Zusammenarbeit in der Gemeinde zusammen: „Denn wir sind Gottes Mitarbeiter; ihr seid Gottes Ackerfeld, Gottes Bau“ (1Kor 3,9). Er schließt niemanden von der Mitarbeit am Aufbau des Reiches Gottes aus und vergleicht die christliche Gemeinschaft (1) mit einem Acker, auf dem nicht nur Korn wächst, sondern auch andere Pflanzen, und (2) mit einem aus Steinen zusammengefügten Bau. Ein paar Zeilen später erinnert Paulus seine Gemeinde daran, dass diesem Bau etwas Heiliges anhaftet, denn er sei Tempel Gottes, in dem der Geist Gottes wohnt (1Kor 3,16).
Anders als die mythologische Begrifflichkeit der griechischen und römischen Götterstätten baut der neutestamentliche, im letzten christologische Tempelbegriff auf den geschichtstheologischen Ereignissen des Alten Testaments auf: Im Haus Gottes wird seiner Heilstaten, d.h. der Rettung Israels gedacht und das vollzogen, was Jesus den Jüngern bei seinem Abschied im Obergemach aufgetragen hat. Jedoch bleibt das nicht nur bloße Erinnerung, sondern wird von der Gemeinde immer neu als Communio erfahren55, an der alle zum Mitbauen nicht nur eingeladen, sondern eben verpflichtet sind. Paulus erinnert die Gemeindemitglieder in Korinth daran, dass sie eine Leistung erbringen müssen. Gott hat in Christus das Fundament der Kirche gelegt und auf diesem einen Fundament sind alle Mitglieder des Volkes Gottes gleichsam als „ARGE Kirche“ zur Mitgestaltung eingeschworen. Der Tempel der Kirche ist eine ewige Baustelle und wird es für alle Zeiten bis zur ihrer Ankunft beim Vater bleiben. Söding erinnert daran, dass das Fundament unverrückbar ist:56
Es ist von Gott selbst gelegt. Dazu bedient er sich des Apostels [in diesem Kontext des Apostels Paulus]. Deshalb ist es sein „Amt“, das Fundament zu legen; das ‚Amt‘ aller Christen aber ist es, am Haus des Glaubens weiterzubauen – auf dem Fundament Jesu Christi und mit möglichst guten Materialien. Nicht nur einige wenige Experten sind die berufenen Bauleute, sondern alle Christen – mit ihren je spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten.
Vielleicht greift Söding mit seiner Aufforderung nach der Qualität der Materialien für den Tempel des Geistes Gottes hier sogar etwas zu kurz.
Erstens: Das Haus Gottes mit „möglichst guten Materialien“ zu bauen kann nicht genügen, es müssen die besten Materialien sein, die wir uns als Menschen für diesen Bau leisten können. Ohne jene Menschen, welche am Rand der Gesellschaft stehen, zu vergessen, müssen sich auch die Mitglieder der Kirche immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass sie sich nur das leisten können, was sie selbst leisten. In anderen Worten: Wenn nur Ausschuss-, Abbruchs- und Secondhand-Material in die Kirche investiert wird, darf es nicht verwundern, dass ihre Mauern zu bröckeln beginnen. Es gibt wohl keine säkulare Organisation, die nicht nach den bestgeeigneten Mitarbeitern sucht. Und sollte diese Qualitätslatte da und dort nicht gelegt werden können, werden wahrscheinlich zu Recht ethische Argumente zugrunde liegen. Und dennoch die Frage: Warum sollte sich die Kirche, die ja Tempel des Geistes Gottes ist, „im Normalfall“ nicht nach den besten „Materialien“ umsehen?
Zweitens: Fertigkeiten und Fähigkeiten sind in der kirchlichen Mitgestaltung, die ja allen Getauften obliegt, wohl nicht ausreichend genug, um Jesu Sendungsauftrag weiterzutragen. Dazu gehören neben den richtigen christlichen Glaubensüberzeugungen und Wertvorstellungen auch integrierendes Wissen, wesentlich jedoch auch Verhaltensformen und Denk- und Verhaltensweisen, die das Leben Jesu authentisch widerspiegeln.
Die (im 5. Kapitel näher erläuterten) sechs Dimensionen einer Organisationskultur – Steuerung oder Führung, Kommunikation, Leistung, Vertrauen, Wachstum und Identität – sind keineswegs Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Ohne im Zusammenhang mit der Thematik dieser Arbeit in exegetische Tiefen vordringen zu können, ist der Versuch gewagt worden, an Hand einiger exemplarisch ausgewählter biblischen Stichproben den pastoralen Hintergrund einer Organisationskultur des pilgernden Volkes Gottes anzudeuten; pastoral deshalb, weil jedwedes menschliche Tun oder Unterlassen in der Kirche direkte oder indirekte Auswirkungen auf den Weg des Gottesvolkes durch Raum und Zeit hat.
1.5.4 Pastoral-ekklesiologischer Ansatz
In der sogenannten Pfingstikone verbildlichen die Ostkirchen, besonders die orthodoxen Kirchen des byzantinischen Ritus, die Geburtsstunde der Kirche Jesu Christi. Dabei geht es nicht um eine historische Berichterstattung, sondern um eine fundamentale Aussage über die Kirche.57 Ursprung und Ausgangspunkt des pfingstlichen Szenarios ist der auf alle und alles herabschwebende Heilige Geist Gottes, der seit dem Frühchristentum bis herauf in unsere Zeit nach dem Bericht der Taufe Jesu im Jordan in allen vier Evangelien (Mt 3,13-17; Mk 1,911; Lk 3,21-22; Joh 1,29-34) in Gestalt einer Taube dargestellt ist.58 Unter dem Bildnis des Geistsymbols scharen sich um einen zentralen leeren Thronsessel zwölf Männer, die von Gottes liebendem Geist die Botschaft erhalten, dass sie und mit ihnen alle Menschen durch Jesus Christus erlöst und zum Leben in Gott berufen sind. Anders als die tradierte Darstellung des Heiligen Geistes als Taube wird sein göttlicher Atem nicht in Form von brennenden Zungen (Apg 2,3-4) abgebildet. Das Geist-Feuer tragen die zwölf Männer in ihren Herzen.
Petrus, der gemeinsam mit Paulus dem leeren Thron, der alleine für den Herrn reserviert ist, am nächsten sitzt, wird diese Frohbotschaft den Besuchern Jerusalems aus dem gesamten damals bekannten Erdkreis und dem allumfassenden Kosmos mitteilen: „Mit Gewissheit erkenne also das ganze Haus Israel: Gott hat ihn zum Herrn und Messias gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt“ (Apg 2,36). Dieser Kόσµoς wird ikonographisch als gekrönter Herrscher im Zentrum des offenen Halbkreises der zwölf Männer dargestellt; somit wird er von den Zeugen des Geistes Gottes als Ziel ihres gemeinsamen Handelns angesprochen.
Ein Blick auf die Runde der anwesenden Gestalten zeigt deutlich, dass es sich bei der Pfingstikone der Ostkirchen nicht um eine bildliche Darstellung eines historischen Ereignisses handelt, sondern um eine Wesensaussage über unsere Kirche.59 Paulus sitzt Petrus gegenüber und nimmt somit einen wichtigen Platz in dieser „ersten Kirche“ der Zwölf ein, die in ihrer Einheit und Geschlossenheit auf das ganze Volk Israel, repräsentiert durch die zwölf Stämme Israels, hinweisen und somit die Ganzheit der Kirche abbilden. Lukas erwähnt am Beginn seiner Apostelgeschichte die Anwesenheit von Maria, der Mutter Jesu, mit den Frauen und seinen Brüdern, die alle „dort einmütig im Gebet“ verharrten (Apg 1,14). Auffallend ist, dass die Ikonenmaler die Frauen der Jerusalemer Gemeinde in den allermeisten Fällen aus dem Geburtsbild der Kirche ausschließen.