Organisationskultur der katholischen Kirche

- -
- 100%
- +
Für die Thematik der Verhaltens- und Handlungsweisen der Mitglieder der „ersten Kirche“ am jüdischen Fest Schawuot, dem nun christlichen Pfingstfest, scheint neben der „demokratischen“ Sitzordnung60 der Jünger auch deren Körpersprache betrachtenswert: Einige von ihnen blicken den Betrachter oder die Bildbetrachterin an, andere suchen im offenen Halbkreis sitzend mit ihren Augen ihr Gegenüber und wieder andere richten ihren Blick nach außen, d.h. auf die Welt, die ihren offenen Halbkreis umschließt.
Die ostkirchliche Pfingstikone der „ersten Kirche“ kann uns somit in vielfacher Hinsicht Wegweiser in die pastoral-orientierte Kirche von heute sein:
(1) Letztverantwortlicher des pastoralen Zielstrebens der Kirche ist und bleibt auf ihrem Weg durch Raum und Zeit Jesus Christus.
(2) Die synodale Struktur der Kirche verweist auf Christus und verherrlicht nicht den Jünger oder die Jüngerin. Gottes guter Geist ist Garant für das Wirken der Kirche nach innen und außen hin.
(3) Die Gemeinschaft der Kirche unter Führung der Apostel und ihrer Nachfolger muss ihren Alltag durch den Blick auf ihr Zentrum reinigen, um nach außen hin, der Welt und dem ganzen Kosmos gegenüber, immer wieder glaubwürdig werden zu können. Das ist eine reifende Entwicklung, nicht aber ein schon zu Pfingsten abgeschlossener Prozess.
(4) Die Fähigkeit des ganzen Volkes Gottes aufeinander zu hören, miteinander in einen Dialog zu treten, einander zu verstehen und andere für das Evangelium zu gewinnen, ist wesentlich von der Erkenntnis Gottes als Geber alles Guten und dem einmütigen Lob und Dank der ganzen Gemeinde abhängig.61
(5) Kirche vollzieht sich immer in einer zweifach ausgerichteten Verhaltensweise des von ihr angesprochenen Menschen: in der Beziehung zu Gott und in der Beziehung zum Menschen, gleichgültig ob sich dieser im innersten Kreis geborgen weiß oder außerhalb der vertrauten Gemeinschaft lebt.
(6) Das Bild der beiden Apostel Petrus und Paulus, die einander gegenübersitzen, versinnbildlicht die felsenfeste Gegründetheit der petrinischen Kirche auf der einen Seite in der Tradition Christi und auf der anderen Seite im Bestreben des Paulus, sie als Gemeinschaft aller Völker in die Freiheit vom Gesetz zu führen.62 Der authentischen Verkündigung des Lebens und der Worte Jesu Christi, dass wir alle Kinder des Vater sind, muss stets ein „Exodus“ aus unserer eigenen Enge vorausgehen, d.h. „wir müssen aus unseren Maßstäben und unseren begrenzten Vorstellungen herauskommen, um in uns Platz zu machen für die Gegenwart Gottes.“63
Die Theologie der ostkirchlichen Pfingstikone weist gewissermaßen auf das Zusammenspiel von Strategie, Struktur und Kultur einer menschlichen Gemeinschaft hin,64 die von Gottes Willen getragen ist: Die Strategie der Kirche ist auf Gott, den Herrn, hin ausgerichtet; die Struktur der Kirche ist hierarchisch und synodal zugleich auf die Welt fokussiert; und zuletzt ist ihre Kultur in ihrer Offenheit von konkreten Menschen geprägt, zugleich aber fest verankert im auferstandenen Herrn. Mit dem Blick auf das Bischofsamt weist die Ikone in aller Deutlichkeit darauf hin, dass die Bischöfe nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil keine Präfekten mehr sind, „die die Weisungen eines päpstlichen Monarchen umsetzen, sondern Apostel, die gemeinsam mit dem Papst für die ganze Kirche verantwortlich sind.“65
1.5.5 Theologen mit dem Geruch nach „Volk und Straße“
Die Überschrift dieses Absatzes lässt leicht vermuten, dass es sich um einen Gedanken von Papst Franziskus handelt, der ja schon öfters von den Seelsorgern, besonders von den Bischöfen gesprochen hat, die den „Geruch der Schafe“ an sich haben sollten (EG 24). Am 3. März 2015 schrieb er anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Argentiniens in einem Vorort von Buenos Aires einen Brief an Kardinal Mario Aurelio Poli, seinen Nachfolger als Erzbischof der Hauptstadt und als Großkanzler der Universität. In diesem Schreiben entwirft Franziskus ein Leitbild der Theologie, das von Radio Vatikan mit seinen eigenen Worten „Nicht nur am Reißbrett“ betitelt wurde.66 Es verwundert viele und beeindruckte manche, dass er selbst im Gegensatz zu seinem Vorgänger Benedikt XVI. kein abgeschlossenes Doktorat, sondern „nur“ ein Lizentiat hat, aber theologisches Studium und Forschung mit didaktischer Vision auf die Ganzheit des Menschen bezieht: „‚Man lernt fürs Leben‘, schreibt der Papst, denn: ‚Theologie und Heiligkeit sind ein unauflösliches Binom‘.“67 Pastorale Kompetenzen mögen an einer Universität erlernbar sein, glaubhaft zu leben sind sie nur auf den Straßen des menschlichen Alltags.
Theologie als Beschäftigung mit Offenbarung und Tradition hat auch die Verpflichtung, die unterschiedlichsten Entwicklungen der Welt zu begleiten und sich vor allem der Konflikte anzunehmen, die sowohl innerhalb der Kirche als auch in der Welt schwelen. Das kritische Wort des Papstes vom „Theologen am Reißbrett“ wird wohl nicht bei allen Professoren Anklang finden, aber er spricht es dennoch aus und fügt die ermahnenden Worte hinzu:68
Euer Ort des Nachdenkens sollen die Grenzen sein. Und tappt nicht in die Versuchung, sie zu lackieren, zu parfümieren, sie ein wenig aufzuhübschen und zu zähmen. Auch die guten Theologen riechen, so wie die guten Hirten, nach Volk und nach Straße und salben Wunden der Menschen mit Öl und Wein.
In seinem Brief an Kardinal Poli kommt Papst Franziskus dann noch mit markig poetischen Worten auf das Profil des zukünftigen professionellen Theologen zu sprechen: „Sicher kein Museumsdirektor, […] Intellektueller ohne Talent, kein Ethiker ohne Güte oder ein Bürokrat des Heiligen.“ Es geht letztlich um den Aufbau der Menschlichkeit und die Vermittlung „göttlich christliche[r] Wahrheit in einer wahrhaft menschlichen Dimension“.69 In den Branchen der Wirtschaftswissenschaft und Betriebswirtschaft hießen diese Worte nichts anderes als die Gestaltung eines menschennahen und menschenfreundlichen Betriebsklimas oder – mit anderen Worten – einer Unternehmenskultur, die positiven Einfluss auf alle internen und externen Stakeholder70 ausübt.
Während sich Wirtschaftsunternehmen vielfach wohl bewusst sind, dass es keine richtige oder falsche Organisationsstruktur gibt, sondern für jede Lebensphase des Unternehmens nur eine einzige Struktur die richtige sein kann, und zwar die, welche das Unternehmen unter Berücksichtigung des vielfach zitierten Wertes des „Mitarbeiters als Mittelpunkt“ im speziellen Umfeld zum nachhaltigen Erfolg führt, hat die Kirche vielfach durch Jahrhunderte hindurch im guten Glauben, sich stets auf dem richtigen Weg zu befinden, auf gewachsenen Traditionen gebaut, ohne in manchen Fällen auf das ihr Zielstreben begleitende kulturelle Umfeld zu achten, und ist damit Gefahr gelaufen, Strukturen unbewusst, aber oft auch bewusst zu versteinern. Es war das erste tatsächlich pastorale Konzil, nämlich das Zweite Vatikanum, kaum zwei Jahrzehnte nach Ende einer weltweiten Schreckensnacht der Menschheitsgeschichte, das mit der „Pastoralen Konstitution Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute“ neue Wege eines gegenseitig befruchtenden Zusammenlebens von Kirche und Welt beschritten hat. Dass dieser pastoral-ekklesiologische Paradigmenwechsel in der Arbeitswelt gleichsam parallel zum sicher nicht konsequenten Abschied vom Taylorismus, der das System und nicht den Menschen in den Mittelpunkt der Organisation stellt, und zum Entstehen der Human-Relations-Bewegung vor sich ging, mag für den Historiker in Wirtschaft und Kirche kaum überraschend sein.71
Visionsdefizit und damit verbundene Ziellosigkeit oder Zieldesorientierung von Institutionen bedeuten organisationalen Stillstand. Institutionen, die ihre Organisationskultur nicht auf ihr Ziel zu fokussieren imstande sind, werden auch mit Schwierigkeiten konfrontiert werden, ihre vielfältigen Strukturen auf das Ziel auszurichten, sei es die Organisationsstruktur, die Entscheidungsstruktur, die finanzielle Struktur oder die Personalstruktur. Andrerseits laufen Institutionen, die ihre alleinige Aufmerksamkeit auf ihre Strukturen richten, Gefahr, in ihren Arbeitsprozessen den Menschen zu verlieren.
Damit ist es nach den vorbereitenden Gedanken auch gebührende Zeit, begriffliche Klarheit über die Grundkomponenten dieser Überlegungen zu formulieren: über das, was heute allgemein unter Organisationskultur verstanden wird und wie der Begriff auch auf die Arbeit der Kirche übertragen werden kann; zunächst jedoch muss die Frage geklärt werden, von welcher Kirche hier wohl die Rede sein soll.
2 Vgl. Gubman, The Talent Solution, 58-60; „high-performing cultures“, d.h. leistungsstarke Organisationen haben nach dem Organisationsstrategen Gubman immer vier Schlüsselwerte zu Eigen: die Verbundenheit mit dem Kunden, das Streben nach Exzellenz, den Gruppenspirit und die Würde des Individuums; siehe Kap. 3.1.2 Organisationskultur als Leistungs-Katalysator.
3 Vgl. Svelby, Wissenskapital – das unentdeckte Vermögen, insbesondere Kap. 1, Einfluss des immateriellen Vermögens auf den Unternehmenswert, 20-40.
4 Vgl. z.B. Jacobs, Christoph, Wege der Pastoral in Seelsorgeräumen, unveröffentlichte Präsentation, Pastoraltag der Diözese Eisenstadt, September 2013.
5 Vgl. Christian Hennecke [im Gespräch mit] Birgit Stollhoff, Seht, ich schaffe Neues – schon sprosst es auf: lokale Kirchenentwicklung gestalten, Würzburg 2014.
6 Siehe Kapitel 7, Culture Change der Kirche.
7 Vgl. Kapitel 4, Organisationstheoretische Interdependenzen.
8 Vgl., Röttig, Paul F., Gnade und Kompetenz. Kirchliche Arbeit im Spannungsfeld zwischen Leitung und Leistung, Wien 22.
9 Vgl. Mette, Sehen – Urteilen – Handeln, in: LThK, Bd. 9, 402.
10 Vgl. Boschki, Der phänomenologische Blick, in: Boschki/Gronover (Hg), Junge Wissenschaftstheorie, 25-47.
11 Camara, The Desert is Fertile, 59: „Let us gather the information on the situations we wish to change” [Übersetzung des Verfassers].
12 Vgl. ebd., Umschlag.
13 Vgl. McElwee, Francis to Armenian bishops: ‚Read reality with new eyes‘, in: http://ncronline.org/blogs/francis-chronicles/francis-armenian-bishops-read-reality-new-eyes, abgerufen am 10.04.2015.
14 Vgl. Ansprache von Benedikt XVI. an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der römischen Kurie beim Weihnachtsempfang am 22. Dezember 2005, in: http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2005/december/documents/hf_ben_xvi_spe_20051222_roman-curia_ge.html, abgerufen am 23.01.2015.
15 Ebd.
16 Vgl. Schwabe, Prämien vom Pontifex, in: http://www.spiegel.de/politik/ausland/neuesgehaltssystem-im-vatikan-praemiert-vom-pontifex-a-519282-druck.html, abgerufen am 11.03.2015.
17 Vgl. ebd.
18 Vgl. Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini von Papst Benedikt XVI. über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche (30. September 2010), Libreria Editrice Vaticana, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Bonn 2010.
19 Ebd., 110.
20 Ebd., 109.
21 Ebd., mit vergleichenden Bezug auf Johannes Paul II., Enzyklika Fides et ratio (14. September 1998), 80: AAS 91 (1999), 67-68.
22 Ebd., 111.
23 Vgl. Rahner/Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 427.
24 Vgl. ebd.
25 Im Organisationskontext werden menschliche Kompetenzen als Fähigkeiten, Talente, Skills, Know-how, Verhaltensweisen etc. definiert, die eine Organisation oder eine organisatorische Einheit morgen braucht, um ihre Mission in Zukunft erfolgreich durchführen zu können; vgl. dazu Röttig, Gnade und Kompetenz, 89.
26 Vgl. Rahner/Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 427.
27 https://de.wikipedia.org/wiki/Gelassenheitsgebet, abgerufen am 24.06.2015.
28 Küberl, Würde des Menschen braucht ständiges Ringen, in: http://www.kathpress.at/site/nachrichten/database/68394.html, abgerufen am 11-03.2015.
29 Rahner/Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, 429.
30 Loisy, L’évangile et I’église, 153: „Jésus annonçait le royaume, et c’est I’Église qui est venue”.
31 Vgl. Loisy, The Gospel, 166: „We have seen that the Gospel of Jesus already contained a rudiment of social organization, and that the kingdom also was announced as a society. Jesus foretold the kingdom, and it was the Church that came.“
32 Lehmann, Neuer Mut zum Kirchesein, 14.
33 Vgl. Loisy, L’évangile et l’église, 152: „comme celle d’un gouvernement établi”.
34 Rahner, H., Die Kirche, Gottes Kraft, 5.
35 Siehe auch Kap. 2.1.6, Kirche, Gottes Kraft in menschlicher Schwäche, wo näher auf die Gedanken von Hugo Rahner „zum hohen Festtag der deutschen Katholiken“ eingegangen wird.
36 Rahner, H., Die Kirche, Gottes Kraft, Titel des Werkes.
37 Ebd., 7.
38 Vgl. Bischof Kapellari gibt baldigen Rücktritt bekannt, in: http://www.kathpress.at/site/nachrichten/database/67486.html, abgerufen am 24.01.2015.
39 Vgl. Lenars, Der Traum des Königs Nebukadnezar, 53.
40 Vgl. Söding, Umkehr der Kirche, 21-23.
41 Siehe Kap. 5.1, Die Steuerung der Kirche.
42 Während eines in einer österreichischen Diözese angedachten Prozesses über Leistungsmanagement (den der Autor selbst begleitete) kam es zwar sehr bald zur Annahme von Zielvereinbarungen für die administrativ tätige Belegschaft, gleichzeitig jedoch zur völligen Ablehnung eines Leistungsmanagements für alle Mitarbeiter in pastoralen Bereichen aller hierarchischen Ebenen.
43 Lohfink, Wie hat Jesus Gemeinde gewollt, 143-144.
44 In vielen Kirchen Argentiniens hängen heute Banner und Fahnen mit Bildern und Aussprüchen von Papst Franziskus. In der Franziskanerkirche von Salta im nördlichen Teil des Landes hängt neben der Bildfahne mit dem Antlitz des hl. Franz von Assisi das Spruchbanner mit den Worten des Papstes: La medida del Amor de Dios es amar sin medida (Das Maß der Liebe Gottes ist ohne Maß zu lieben).
45 So der Titel des vierten Teiles von Evangelii gaudium.
46 Guardini, Das Ende der Neuzeit, 30-31; zitiert in EG 224.
47 Söding, Umkehr der Kirche, 28.
48 Ebd., 30.
49 Ebd.
50 Ebd., 31-35.
51 Vgl. ebd., 56-107.
52 Vgl. Schnackenburg, Gottes Herrschaft und Reich, 150: „Wer Jesus die Absicht, eine Gemeinde zu sammeln, aberkennt, ‚verkennt das messianisch-eschatologische Denken Israels, in dem das eschatologische Heil nicht vom Gottesvolk abgehoben werden kann und die Gottesgemeinde notwendig zum Gottesreich gehört‘“; zitiert in Lohfink, Wie hat Jesus Gemeinde gewollt?, 49.
53 Vgl. Oeldemann, Die Kirchen des christlichen Ostens, 183.
54 Söding, Umkehr der Kirche, 81.
55 Vgl. ebd., 83-86.
56 Ebd., 94.
57 Vgl. Fendrich, Kein Peter ohne Paul, 16.
58 Vgl. Nitz, Heiliger Geist, VII. Ikonographisch, in LThK, Bd. 4, 1315.
59 Vgl. Fendrich, Kein Peter ohne Paul, 16.
60 Vgl. ebd.
61 Vgl. Duffner, Pfingstikone – was ist eigentlich geschehen?, in: http://www.kath-kirchevorarlberg.at/organisation/spiritualitaet-liturgie-bildung/artikel/pfingstikone-was-ist-eigentlichgeschehen, abgerufen 24.06.2014.
62 Vgl. Fendrich, Kein Peter ohne Paul, 16.
63 Nachsynodales Apostolisches Schreiben Verbum Domini von Papst Benedikt XVI. über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche, 116.
64 Siehe besonders 4. Kapitel, Organisationstheoretische Interdependenzen.
65 Politi, Franziskus unter Wölfen, 31.
66 Vgl. Papst entwirft Leitbild der Theologie: „Nicht nur am Reißbrett“, in: http://de.radiovaticana.va/news/2015/03/10/papst_an_theologen_grenzen_seien_euer_ort_des_nachdenken/1128361#, abgerufen am 11.03.2015.
67 Ebd.
68 Ebd.
69 Ebd.
70 Im Unterschied zum Begriff des Shareholders (Teilhaber an einem Unternehmen im finanziellen Sinn) versteht man in der Betriebswirtschaftslehre unter Stakeholder alle an einem Unternehmen im umfassendsten Sinn des Wortes Anteil-Habende, d.s. die Gesellschaft als solche, Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, aber auch beispielsweise Investoren und Banken.
71 Siehe dazu Kap. 5.3, Leistungsorientierung in der Kirche, 5.3.1, Tayloristische Ansätze in der Kirche? und 5.3.2, Eine Vision kirchlichen Handelns für morgen.
2 Begriffliche Interpretation und Fokussierung
Um eine wissenschaftlich wertende Aussage über das Thema der Organisationskultur der Kirche zu machen, bedarf es einer Analyse beider Begriffe, jedoch keiner detaillierten pastoral-theologischen oder kulturanthropologischen Ekklesiologie und auch keiner unternehmens-theoretischen oder organisationsmethodischen Aufarbeitung des Kulturbegriffs. Um das Thema „Organisationskultur der Kirche“ glaubhaft ansprechen und organisationswissenschaftlich und theologisch aufbereiten zu können, ist eine Annäherung an beide Begriffe allerdings nicht ohne professionelle Betrachtung des Themas möglich, speziell in einer Zeit, in der beide Begriffe bisweilen verwaschen, heterogen oder etwa mit Vorurteilen belastet verwendet werden. Dies schließt eine notwendige Klarstellung mit ein, die Begriffe „Kultur und Organisationskultur“ im praktischtheologischen Kontext – auch mit Hilfe von Bildern aus der kirchlichen Praxis – verständlich zu artikulieren. Zunächst jedoch stellt sich die Frage, welcher „Kirche“ und damit welcher Organisationskultur hier nachgegangen werden soll: Welches Kirchenbild liegt den Gedanken über die Organisationskultur zugrunde und welcher organisatorische Kirchenbegriff bildet den Hintergrund der Überlegungen: die Weltkirche, Rom, der Vatikan, die Ortskirche(n), die Diözese, Pfarre oder Gemeinde …?
2.1 Von welcher Kirche ist die Rede?
In der Hinführung zum Thema „Organisationskultur der Kirche“ ist schon zum Ausdruck gekommen, dass die Ortskirche im Kleinen theologisch und speziell ekklesiologisch nicht von der katholischen, also universalen Kirche – und umgekehrt – getrennt gedacht werden kann und darf. Folglich wäre es auch nicht angebracht, von einer Subkultur beispielsweise einer Diözese zu sprechen, ohne einen Blick auf die Organisationskultur der globalen Kirche zu werfen oder die in der Heiligen Schrift begründeten Denk-, Verhaltens- und Handlungsmuster einer missionarischen Weltkirche im praktisch-theologischen Leerraum stehen zu lassen, ohne Beispiele und Ereignisse aus dem täglichen Leben christlicher Gemeinden als Zeichen der Zeit zu Wort kommen zu lassen und im Licht des Evangeliums (GS 4) zu interpretieren.
Die Kirchengeschichte sieht stets mit einem Auge auf das sich ständig ändernde gesellschaftlich-kulturelle Umfeld der Gemeinde, das ja ihre Organisation ohne Zweifel sowohl strukturell als auch kulturell beeinflusst und mit formt. Solche unterschiedlichen Einflüsse werden beispielsweise schon in der Apostelgeschichte in den Gemeinden von Jerusalem, Judäa, Samarien oder Antiochia sichtbar.
Es leuchtet ein, dass eine konkret-praktische Analyse der Organisationskultur der Kirche in dieser Forschungsarbeit natürlich nicht auf globaler Ebene und über alle Zeithorizonte hinweg machbar ist; und so werden nach der systematisch- und praktisch-theologischen Erarbeitung des heutigen Kirchenbildes vor allem die Kulturen zweier diözesaner Ortskirchen72 analysiert, freilich ohne sie miteinander in einem quasi Wettbewerb zu vergleichen und aufzuwägen, sie jedoch an den Erwartungen und Forderungen Jesu zu messen, die vor allem in den Schriften des Neuen Testaments sichtbar werden.
2.1.1 Kirche als Missionsauftrag Jesu
Weil die Frage nach der Organisationskultur auf allen hierarchischen Ebenen der Kirche nur auf einem pastoralen Verständnis vom verantwortlichen Hirten und der Nahrung suchenden Herde aufgebaut sein kann, ist sie im Kern auch eine Frage ihres Hinausgehens auf die Straßen dieser Welt (EG 49), d.h. eine Frage nach dem Verständnis ihrer missionarischen Tätigkeit.
Der indische Theologe und Jesuit George M. Soares-Prabhu SJ (1929–1995) beschäftigte sich in seinem Werk „Biblical Themes for a Contextual Theology Today“ vor allem mit der missionarischen Sendung des Christentums in seinem Land und fordert in verständlicher Weise heraus, nicht nur einen Satz aus der Heiligen Schrift herauszulösen und sein Leben danach auszurichten, sondern den biblischen Kontext zu erfassen und daraus authentische Fundamentsteine für das Leben als Christen in dieser Welt zu formen.
Der „Große Sendungsauftrag“ am Ende des Matthäusevangeliums „… geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie …“ (Mt 28,16-20) ist seit zweitausend Jahren Christentum der grundlegende und richtungsweisende Text für die missionarische Kirche. Nicht wenige evangelikale Bewegungen – und bis in die heutige Zeit herauf auch die eine oder andere Hauptkirche – haben diese von Jesus überlieferten und von Matthäus zusammengefügten Bibelworte in eine aggressive Missionstätigkeit übersetzt. Um diesen „großen“ Sendungsauftrag richtig auslegen zu können, muss er kontextuell mit einem anderen Sendungsauftrag gelesen und verstanden werden, und zwar mit den Worten in Mt 5,13-16 vom Licht der Welt und vom Salz der Erde. Während beispielsweise die englische Jerusalem-Bibel mit einem „must“ – ihr müsst – den Auftrag Jesu klarer zur Sprache bringt, verwenden sowohl die Luther-Bibel als auch die Einheitsübersetzung in diesem Kontext das weichere ‚soll‘: „So soll euer Licht vor den Menschen leuchten …“ (Mt 5,16). Dieser „kleineren Version“ des Sendungsauftrags Jesu, den Matthäus an einem wichtigen Punkt in die Bergpredigt einfügt, wird in der missionarischen Arbeit kaum Bedeutung beigemessen: Es geht meistens um den „Großen Sendungsauftrag“ (Mt 28,16-20), dessen Sinn allerdings durch ein Eintauchen in den Text von Mt 5,13-16 ein ganz anderes, ja sogar neues Verständnis wachrufen kann.73
Mt 28,16-20 wird von Exegeten oft Jesus direkt in den Mund gelegt, ist aber nach den neuesten Erkenntnissen eine redaktionelle Meisterleistung des Evangelisten, der darin die christologischen (v.18), ekklesiologischen (v.19-20a) und eschatologischen Fäden (v.20b) zu einem missionarischen Leitfaden zusammenknüpft74:
1. Christus ist der, dem „alle Macht gegeben [ist] im Himmel und auf der Erde“ (v.18).
2. Die Taufe aller Menschen aller Völker im Namen des dreieinigen Gottes beinhaltet auch eine klare Ansage an die Nachfolge Jesu (v.19-20a) in der kirchlichen Gemeinschaft.
3. Und zuletzt verspricht Jesus denen, die ihm folgen, dass er „alle Tag bis zum Ende der Welt“ bei ihnen ist; nicht sein oder bleiben wird, sondern ist (v.20b).
Dieser „Große Sendungsauftrag“ liegt der missionarischen Tätigkeit vieler Jahrhunderte zugrunde. Und er kann und soll es auch bleiben, solange die Jünger des Herrn nicht meinen, jene zu ihrem Glück zwingen zu müssen, die vom Geist Jesu noch nicht ergriffen sind. Unter diesen Vorzeichen wird Mission nicht zur Frohen Botschaft, sondern zum Gesetz.
Eine triumphale Kirche, die mit einem oft aggressiven oder neokolonialen Gehabe in die Welt hinausgeht und Zivilisation, Demokratie und Wohlstand verspricht, wurde in den letzten Jahrhunderten zu Recht mit Eroberern gleichgesetzt und als solche abgelehnt.75 Ein Blick auf eine andere Stelle des Matthäus-Evangeliums, nämlich Mt 5,13-16, kann das Verständnis von Mission und Evangelisation korrigieren, ohne den „Großen Sendungsauftrag“ zu entthronen. Diese Stelle wird oft sehr stiefmütterlich behandelt: Sie setzt den Sendungsauftrag Jesu „… geht … macht … tauft … lehrt“ nicht außer Kraft, sondern ergänzt ihn. Die Worte in Mt 5,1316 beschreiben die missionarische Sendung weniger im Sinn verbaler Verkündigung als im Sinn des Zeugnisgebens. Papst Franziskus nimmt diesen Gedanken auf, wenn er in Evangelii gaudium auf das pastorale Anforderungsprofil des Missionars hinweist: „Jesus sucht Verkünder des Evangeliums, welche die Frohe Botschaft nicht nur mit Worten verkünden, sondern vor allem mit einem Leben, das in der Gegenwart Gottes verwandelt wurde.“ (EG 249) Zweifellos ist diese Aufforderung zum missionarischen Zeugnis für das Reich Gottes nicht auf einen bestimmten Kontinent oder ein bestimmtes Land beschränkt. Die Verse in Mt 5,13-16 sind Teil der Bergpredigt und zielen auf ein Verständnis einer integralen Mission, in der die Verkündigung der Worte Jesu erst durch das Zeugnis glaubwürdig wird: