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Jochen Ruderer
Zwei Sommer
Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis
Titel
St. Peter-Ording, Sonntag 1. August 2010
Materialermüdung
St. Peter-Ording, Montag, 2. August 2010.
Universum
Abkürzungen
Wendung
Schwimmen
Freunde
Wachsen
Der Regen bleibt
St. Peter-Ording, Dienstag, 3. August 2010
Neues Land
Kapitulation
Ein Brief
St. Peter-Ording, Donnerstag, 5. August 2010
Ellis Island
Liv
Pläne
Sommer
Der Schwur
St. Peter-Ording, Montag, 9. August 2010
Verpasste Gelegenheiten
Spielen
Achsbruch
Neue Pläne
Erbe
Schluss
Neustart
Tennissocken
Vorwärts
St. Peter-Ording, Freitag, 13. August 2010
Hamburg
Richard Gere
Köln
Erstverwertung
Maja
Trotz
3 Buchstaben
Wiedersehen
Wahnsinn
Jeykab
Watte
St. Peter-Ording, Donnerstag 19. August 2010
Nachtrag: Livingston, Donnerstag 9. September 2010
Impressum neobooks
Was ich an meiner Situation mag, ist die Aussicht. Und das meine ich nicht metaphorisch. Dieser Raum, in den Sie mich einquartiert haben, bemüht sich wenig, durch übermäßige Gemütlichkeit zu gefallen - ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle und ein kleines Sofa. An den Wänden hängen Zeichnungen von Booten in irgendeinem kleinen Nordseehafen. Alles zweckmäßig und nüchtern – wäre da nicht dieses Fenster. Der ganze Raum wird dominiert von der riesigen Scheibe und dem, was jenseits des Rahmens liegt. Ich kann das Fenster zwar nicht öffnen, aber die Vergitterung bedeckt nur das untere Drittel. Dafür bin ich sehr dankbar. Über dem Gitter, hinter der tadellos geputzten Scheibe liegt das Meer. Wie ein riesiges Seidentuch, in einem endlosen Raum liegt es da; weit und glatt und grau.
In dieser sonderbaren Situation, in der ich mich befinde, wirkt dieser Schatz zu meinen Füßen umso kostbarer. Jetzt gerade, da ich die Sonne noch nicht sehen kann, ihr Licht aber umso stärker von schräg oben herabstrahlt, glänzt das Meer, als bestünde es aus nichts als flüssigem Gold. Der Fensterrahmen in meinem Zimmer beginnt zu glühen, als wäre er ein Flammenportal, durch das ich nur hindurch schreiten müsste, um in das Goldmeer einzutauchen. Aber keine Angst – ich habe keinerlei Absichten dieser Art. Bitte kommen Sie nicht auf die Idee, das Fenster ganz zu verrammeln. Das wäre wirklich schade – und unnötig.
Was ich Ihnen als allererstes mitteilen möchte ist: ich bin nicht verrückt. Oder schizophren oder verwirrt oder wie Sie es nennen möchten. Mir ist natürlich klar, dass ich nicht der erste Ihrer Insassen bin, der in diesem Punkt anderer Auffassung ist als Sie oder Ihre Kollegen. Wahrscheinlich hören Sie das sogar jeden Tag. Aber bei mir stimmt es. So etwas gibt es.
Ich habe zum Beispiel einen Nachbarn, also nicht den hier – zu Hause, über den alle, die ihn kennen, sagen, er habe den Verstand verloren. Er selbst sieht das völlig anders. Aber auch ich hatte zunächst keinerlei Zweifel daran, dass er vollkommen verrückt sei.
Jeder, der meinen Nachbarn kennt, nennt ihn den Hasen. Ich glaube, er selbst hat mittlerweile Gefallen an diesem Namen gefunden. Eigentlich heißt er Sinanovic, Mensur Sinanovic. Sie können das nachprüfen. Er ist ein paar Jahre jünger als ich und stammt aus Bosnien. Der Grund, warum ihn alle den Hasen nennen, liegt in seiner Fortbewegungsweise. Beim Laufen schlägt er ständig Haken. Wenn er stehen bleibt, zuckt er unvermittelt und springt plötzlich zur Seite, geht unerwartet in die Hocke und rollt sich ab. Das macht er auch beim Einkaufen oder mitten in einem Gespräch und wie dieser Mensch die Geranien auf seinem Balkon gießt, ohne dabei das gesamte Haus zu wässern, ist mir ein Rätsel. Er steht niemals wirklich still. Wie gesagt, er wirkt völlig verrückt. Und eine Unterhaltung mit ihm treibt einen fast selbst in den Wahnsinn.
Ich lernte ihn vor etwa fünf Jahren kennen, als ich mit meiner Freundin in eine Dachwohnung im Belgischen Viertel zog. Der Hase wohnte direkt unter uns und alles, was durch den Dielenboden an Rumpeln, Stoßen und Springen zu uns heraufdrang, ließ darauf schließen, dass seine Springerei selbst in der Wohnung nicht aufhörte. Aus dem Haus oder der Nachbarschaft wusste niemand irgendetwas über die Ursache der Zuckungen zu sagen. Er sei halt irre, war die einhellige Meinung, aber ansonsten harmlos. Nachdem ich ihn ein paar Wochen lang mit einer Mischung aus Faszination und Befremden beobachtet hatte, beschloss ich, ihn direkt auf seine Macke anzusprechen. „Herr Sinanovic“, sagte ich, denn ich wusste damals noch nicht, wie er zu seinem Spitznamen stand. Ich traf ihn im Hausflur, wo er sich etwas ruhiger bewegte, den Kopf jedoch ständig schräg nach oben gerichtet hielt, als erwarte er die Ankunft von irgendwas oder irgendwem direkt aus dem Himmel. Als ich die Treppe herunter kam, lief ich ihm also genau ins Blickfeld. „Herr Sinanovic“, sagte ich, „verzeihen Sie meine Neugier, aber ich habe mich gefragt, ob ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen kann. Wie ist das mit ihrem Zucken? Ist das irgendeine Art Muskelerkrankung?“ Zu meiner Überraschung erstarrte er fast vollständig und musterte mich mit einem Blick, von dem ich nicht sicher war, ob er Verwirrung oder vielleicht sogar Belustigung ausdrückte. Gut drei, vier Sekunden lang stand er vollkommen still und sprach kein Wort. Dann sagte mit ruhiger und fester Stimme: „Nein. Keine Krankheit. Ich kann auch aufhören mit Hüpfen.“ Wie zum Beweis lehnte er sich scheinbar entspannt an das Treppengeländer. Er hielt das noch mal gut drei Sekunden durch, dann sprang er auf mich zu und legte verschwörerisch einen Arm um mich. „Ich mache das wegen Sicherheit. Wegen Kugeln.“ Ich muss ihn wohl ziemlich fragend angesehen haben. Jedenfalls zog unvermittelt ein breites Grinsen über sein Gesicht und er sprach zum ersten Mal jene typischen Worte: „Keine Angst, ich nicht verrückt.“ Damit klopfte er mir freundschaftlich auf die Schultern, ließ sich urplötzlich zu Boden gleiten und sprang mit einem Satz an seine Wohnungstür. Die Sekunden, bis er die Tür geöffnet hatte, bereiteten ihm zusehends Unbehagen, aber schließlich verschwand er mit einer Schraube um den Rahmen und ließ die Tür elegant zuklappen.
In diesem Moment im Treppenhaus war ich mir absolut sicher, dass dieser Mann vollkommen verrückt war. Aber später erzählte er mir seine Geschichte.
Als Kind lebte der Hase in der Nähe von Srebrenica. Sie wissen schon, das Massaker. 1995 war er zwölf Jahre alt und musste mit ansehen, wie sein Vater und seine beiden älteren Brüder erschossen wurden. Er stand neben seinem 17-jährigen Bruder Mesud, als diesen die Kugeln in den Oberkörper trafen und er rückwärts in eine Grube sackte. Der Befehlshaber des Exekutionskommandos wandte sich nach der Erschießung Mensur zu. Er zeigte in Richtung eines nahe gelegenen Waldes und rief „Du. Hau ab. Lauf.“ Mensur erzählte mir, dass er sich zunächst überhaupt nicht rühren konnte, bis der Offizier ihn anbrüllte, er solle machen, dass er wegkomme. „Und da habe ich gesehen in seine Augen“, erklärte er mir. „Wenn ich laufe, er wird mich schießen in Rücken.“ Erst, als der Offizier unmittelbar vor seinen Füßen in den Boden feuerte, lief Mensur los. Er blickte noch kurz über seine Schulter, aber der Offizier schrie ihn an. „Dreh dich nicht um. Hau endlich ab!“ Aus den Augenwinkeln glaubte Mensur zu sehen, dass sich zwei Soldaten mit ihren Gewehren in seine Richtung drehten und dann begann es. „Es ist passiert – einfach von selbst“ sagte er zu mir. Nach den ersten fünf Schritten machte er einen überraschenden Sprung nach links. Im gleichen Moment meinte er zu fühlen, wie eine Kugel direkt rechts neben ihm vorbei pfiff. Sie schienen also tatsächlich auf ihn zu schießen. Allerdings hütete sich der Hase, noch einmal zurückzublicken. Er lief weiter, so schnell er irgendwie konnte. Und während er das Wäldchen vor sich fest ins Visier nahm, hüpfte er von links nach rechts, duckte sich urplötzlich, rollte sich ab, schlug Haken und rannte, rannte, rannte. Immer wieder glaubte er, Schüsse zu hören. Jedes Mal rechnete er fest damit, dass ihm ein Projektil den Rücken aufreißen und ihn in den Matsch schleudern würde. Die Angst machte ihn fast wahnsinnig. Und dann, so erzählte er es mir, hörte er von einem Moment auf den anderen auf, überhaupt zu denken. Er dachte nicht mehr darüber nach, wo er war und was er hier tat. Er vergaß, was vor einigen Minuten geschehen war und was mit ihm jeden Moment geschehen könnte. Sein Gehirn gab das letzte bisschen Kontrolle ab und seine Beine übernahmen: er sprang, krabbelte, änderte die Richtung und kam immer weiter fort. Das einzige, was er noch wahrnahm war, das Keuchen seiner Atemzüge und das schmerzhafte Pochen seines Herzens. Es raste in seiner Brust, wie eine Nähmaschine, wild entschlossen, sich nicht von einem Stück Metall auseinanderreißen zu lassen. „Herz war laut - aber Herz war ruhig“, so formulierte es der Hase mir gegenüber. „Und da, ich wusste, ich werde schaffen.“
Mensur erreichte den schützenden Wald ohne einen Kratzer. „Weil ich gelaufen bin wie Hase“, erzählte er mir voller Stolz. Seit diesem Tag hatte er nicht mehr damit aufgehört. Aber nicht, weil er nicht konnte, wie er mir versicherte – er wollte nicht. Das Hakenschlagen hatte ihm das Leben gerettet und vielleicht würde es das wieder tun. Vielleicht würde ihn sonst ein herabstürzender Blumentopf treffen oder ein Auto, das außer Kontrolle geraten war, sagte er. Ein Stein, den irgendjemand in Wut geschleudert hatte oder eben doch eine Patrone seiner Verfolger, die ihn nach all den Jahren aufgespürt hatten. „Herz schlägt immer noch“, beschloss er seine Geschichte mit einem Lächeln und der Hand auf der Brust. „Immer noch so, wie diese Tag“. Ich erwiderte sein Lächeln, um ihm zu zeigen, dass ich ihn verstand. Aber ich schien ihn nicht zu überzeugen. Wie um mich zu beruhigen, legte er die Hand auf meinen Unterarm und sagte in beschwichtigendem Ton erneut: „Ich nicht verrückt.“
Und ich eben auch nicht. Ich weiß sehr gut, dass Ihnen mein Verhalten sonderbar erscheint. So sonderbar, dass Sie mir geraten haben, erstmal hier zu bleiben. So sonderbar, wie mir das Gehüpfe des Hasen erschien, bevor er mir seine Geschichte erzählte. Also möchte ich Ihnen meine Geschichte erzählen, auch wenn ich dafür ein wenig mehr Zeit benötigen werde als der Hase. Aber lassen Sie mich diese beiden Dinge vorausschicken: Erstens, ich bin nicht verrückt. Zweitens, ich verstehe und akzeptiere, dass Sie Gründe haben, das anders zu sehen. Aber Sie irren sich.
Materialermüdung
Am Morgen des 3. November 1978 erwachte mein Vater, Herbert Josef Boltenhagen, bei bester Gesundheit und Laune. Er trank seine übliche Tasse Ostfriesentee, aß zwei Scheiben Graubrot mit Käse, küsste seine Frau und seinen neun Monate alten Sohn zärtlich auf die Stirn, verließ pünktlich um 8:30 Uhr die frisch eingerichtete Vierzimmerwohnung und kam nie wieder nach Hause. Arbeitsunfall. Dabei hatte er einen geradezu lächerlich ungefährlichen Beruf. Er war Pianist des örtlichen Konzerthauses – in Festanstellung, wie meine Mutter niemals hinzuzufügen vergaß. „Er war das jüngste Mitglied des gesamten Ensembles und das bei einem so seltenen Posten“.
Das Schlimmste, was einem Pianisten bei der Arbeit gewöhnlicherweise zustoßen kann, ist, dass ein vermeintlicher Kunstkenner, von einem schiefen Ton bis aufs Blut gereizt, sich zum Äußersten genötigt sieht und die halb aufgekaute Pausenbrezel in den Orchestergraben pfeffert. Aber mein Vater begnügte sich nicht mit dem Gewöhnlichen.
Meine Mutter erzählte immer, es geschah pünktlich zum Ende der nachmittäglichen Probe – auch dieses Detail scheint ihr wichtig. Als ob mein Vater noch im Tod ein besonderes Pflichtbewusstsein an den Tag gelegt hätte, indem er erst nach der Probe das Zeitliche segnete. Jedenfalls vernahmen die übrigen Orchestermitglieder unvermittelt einen lauten Knall. Und dort, wo Momente zuvor mein Vater seine ganze Hingabe und all das überbordende Talent seiner achtundzwanzig Lebensjahre in die Tasten eines Bösendorfer-Konzertflügels gehauen hatte, lag nun ein etwa fünfzehn Kilo schwerer Bühnenscheinwerfer. Niemand konnte wirklich verstehen, woher und wieso und warum gerade jetzt. Eine eilig angesetzte Überprüfung am Nachmittag bescheinigte dem Betreiber des Hauses, dass die Anlage ordnungsgemäß gewartet wurde und ermittelte als Ursache Materialermüdung. Bis auf die Bruchstelle, so steht es in dem Bericht, habe sich die Anlage in einwandfreiem Zustand befunden. Alles bestens also. Niemand war schuld. Ich weiß nicht, ob diese Aussage den angeblich großen Ordnungssinn meines Vaters befriedigt hätte – für seinen Schädel war sie wenig tröstlich. Er verlor den Kampf gegen die unnachgiebigen Gesetzmäßigkeiten der Physik eine knappe halbe Stunde nach dem Aufprall, als man ihn gerade auf den OP-Tisch des örtlichen Krankenhauses heben wollte.
Meine Mutter erzählte mir die Geschichte vom Tod meines Vaters schon, als ich noch sehr klein war. Wahrscheinlich ist es sogar die erste Geschichte, die ich bewusst hörte. In meinem Kopf steht sie in einer Reihe mit den anderen Erzählungen meiner Kindheit. Märchen von Kindern, die von ihren Eltern im Wald ausgesetzt werden. Geschichten von Königinnen, die nach der Geburt ihrer Tochter sterben, um schon im nächsten Satz von einer jüngeren, schöneren Frau ersetzt zu werden. Und dazu eben der Bericht von dem talentierten jungen Musiker, der so unglücklich und sinnlos zu Tode kommt. Erst mit dreizehn oder vierzehn begriff ich wirklich, dass diese Geschichte von dem Mann handelte, der mich gezeugt, monatelang freudig auf mich gewartet und mir als Baby stundenlang Lieder vorgesungen hatte. Und erst als ich mit Mitte zwanzig zum ersten Mal von der Materialermüdung las, empfand ich so etwas wie Wut und Verzweiflung über mein eigenes Unglück. Meine gesamte Kindheit hindurch jedoch blieb der Tod meines Vaters nicht mehr als eine Geschichte.
Verstehen Sie mich nicht falsch - natürlich konnte ich die Tragik eines so frühen Todes mit meinem Verstand erfassen. Die Geschichte an sich fand ich sehr traurig und es tat mir leid für die Frau und das Kind. Und natürlich wusste ich, dass ich dieses Kind war - aber es gelang mir nicht, diese Geschichte als persönlichen Schicksalsschlag zu empfinden. Es war einfach meine Geschichte. „Mein Vater wurde von einem herabstürzenden Scheinwerfer erschlagen, als ich noch ein Baby war“. Das ging mir vergleichsweise leicht über die Lippen. Oder einfacher: „Mein Vater ist schon lange tot.“ Die traurigen und mitleidigen Blicke, die ich daraufhin erntete, waren mir meist unangenehm. Ich wurde dann still und blickte zu Boden und irgendwie waren alle mit dieser Reaktion einverstanden. Ich selbst fühlte mich dabei wie ein schlechter Schauspieler, wie ein Betrüger. Den traurigen Jungen, den alle mitleidig anblickten, spielte ich nur vor, weil man es von mir erwartete. Aber es gelang mir nie, diese Trauer auch zu empfinden. Andere Väter waren Säufer oder Schläger. Mein Vater war tot. Es gab Schlimmeres.
St. Peter-Ording, Montag, 2. August 2010.
Wenn ich aus meinem Fenster blicke, in die gewaltige Weite aus Wolken und Meer, in der der Horizont heute nur als schmale hellgraue Linie auszumachen ist, dann gefällt es mir zu sagen: „Am Beginn dieser Geschichte stand der Regen.“ Diese unzähmbare, immer wiederkehrende Kraftmeierei der Natur.
Hatte es nicht auch geregnet, als Sie mich - wie soll ich sagen? - gefunden haben oder …aufgegriffen? Oder haben Sie mich sogar gerettet? Ich erinnere mich daran, dass ihr Gesicht ganz feucht war, als sie es so nah vor meins geschoben haben. Als wären Sie, wie ich, über Nacht draußen gewesen und Tau hätte sich auf Ihre Wangen gelegt. Oder wie beim ersten Gang in die Sauna - überall diese kleinen Tröpfchen. Und dazu diese überdeutliche Stimme - als sei ich vielleicht schwerhörig oder weggetreten. Oder bescheuert. „KÖN-NEN SIE MICH HÖ-REN?“ Ich habe zwar nicht reagiert, ich weiß, aber hätten Sie mir nur etwas genauer in die Augen gesehen, dann wäre Ihnen vermutlich aufgefallen, dass ich Sie sehr wohl wahrgenommen habe.
Dass ich auch dann noch keinen Ton von mir gegeben oder mich bewegt habe, als die Sanitäter mich auf diese Trage gehoben haben, liegt einzig daran, dass ich das nicht wollte. Ich war beschäftigt. Ich habe nachgedacht. Ich musste Ordnung schaffen in meinem Kopf. Und als Sie kamen, war ich noch nicht fertig.
Wenn ich Ihre Fragen so lese, könnte dieser Bericht auch sehr kurz werden. „Schildern Sie die Vorkommnisse aus Ihrer Sicht“ steht hier. „Was haben Sie gefühlt? Woran haben Sie gedacht?“ Die Vorkommnisse sahen so aus: Ich saß auf dieser Bank auf dem Deich und habe rausgeschaut aufs Meer. Ob ich tatsächlich drei Tage da gehockt habe, halte ich für unwichtig. Und wenn schon? Ist das nicht meine Sache? Was ich gefühlt habe, waren die Kälte in den frühen Morgenstunden, die Sonne am Mittag, der Wind am Abend und einen stetig wachsenden Druck in der Blasengegend. Gedacht habe ich an ziemlich viel gleichzeitig. Aber vor allem: „Liv“.
Verstehen sie mich nicht falsch. Wie ich schon gesagt habe - mir ist klar, dass es auf Außenstehende merkwürdig wirkt, wenn ein Typ mehrere Tage hintereinander auf einer Bank sitzt und nichts tut. Wenn ich ein Buch gelesen hätte - das wäre etwas anderes gewesen. Oder hätte ich die Möwen gefüttert. Wahrscheinlich hätte es schon gereicht, wenn ich eine alte Angelrute ein paar Meter vor mir in den Deich gerammt hätte. Auch wenn gar keine Schnur dran gewesen wäre und das Wasser unerreichbar weit weg - ich wette, ich wäre Ihnen dann nicht aufgefallen. Aber so ohne alles dasitzen und starren. Das ist natürlich nicht normal.
Und auch wenn ich sicher bin, trotz meines Schweigens geistig gesund zu sein, ich denke, ich brauche Ihren Rat. Eine unabhängige Meinung zu all dem. Von einem Experten. Und wenn ich jetzt versuche zu rekonstruieren, womit alles anfing, dann fällt mir die Sache mit dem Regen ein. Das liegt sechzehn Jahre zurück, aber es war wahrscheinlich das erste Mal, dass ich den Regen wirklich beachtet habe. Und mir gefällt die Vorstellung, dass es eine tiefe, ursprüngliche Kraft war, die meinem Leben einen Schubs gab und in Gang setzte, was passieren würde.
Ohne den Regen hätte ich nicht an diesem Wettbewerb teilgenommen, wäre nicht nach St.Peter gefahren, hätte niemals Liv getroffen und den Schwur und seine Folgen hätte es nie gegeben. Aber es hatte nun mal geregnet.
Universum
Im Frühjahr 1994 war ich sechzehn Jahre alt, besuchte die zehnte Klasse des altsprachlichen Gymnasiums meiner Heimatstadt, war mindestens einen Kopf kleiner als jeder meiner Klassenkameraden und gelangte mehr und mehr zu der Überzeugung, meine Existenz müsse eine Art Irrtum des Universums sein. Ich liebte Englisch und Sport - die Schwerpunktfächer meiner Schule waren Latein und Mathematik. Ich liebte Musik und hörte in jeder freien Minute Radio - meine Mutter hatte alles, was mit Musik zu tun hatte, aus unserem Leben verbannt. Vor allem aber liebte ich sämtliche Mädchen meiner Klassenstufe sowie die meisten der neunten und achten, vereinzelt auch ein paar der älteren, ohne dass mir das bisher einen einzigen Kuss, ein Händchenhalten oder auch nur eine Verabredung zum Eis essen eingebracht hatte. Ich war völlig verzweifelt über mein unspektakuläres Leben und ohne jede Idee, wie ich daran etwas ändern könnte.
Das Spektakulärste, was im Frühling 1994 in meinem Leben passieren sollte, war die Anmeldung zu einem Wettberwerb für junge Forscher. Nie im Leben wäre ich selbst auf die Idee gekommen, bei so etwas mitzumachen und wenn doch, hätte ich die Idee sofort auf einen großen Zettel geschrieben, den Zettel zusammengeknüllt und in den Papierkorb geworfen und den Papierkorb danach mit einer Flasche Spiritus feierlich abgefackelt. Es war mein bester und einziger Freund Basti, der diese Idee hatte. Oder eigentlich war ihm die Idee von unserem Physiklehrer eingeflüstert worden und Basti war sofort uneingeschränkt begeistert. Er meinte, wir könnten damit einen wichtigen Grundstein legen. Ein erster Schritt auf einem langen, schnurgeraden Weg in die Welt von Wissenschaft und Forschung. Und als ich diese Worte unvorsichtigerweise vor meiner Mutter wiederholte, waren die beiden wichtigsten Bezugspersonen in meinem Leben wild entschlossen, aus mir einen Forscher zu machen.
Ich selbst war von dem Plan alles andere als begeistert. Erstens gab es nicht ein einziges naturwissenschaftliches Thema, das mich auch nur annähernd interessiert hätte und zweitens war ich nicht bereit, meine ohnehin schon geringen Chancen auf Annäherung an das andere Geschlecht durch die Teilnahme an der größtmöglichen Streberaktion diesseits des Mississippi zu ruinieren.
„Diesseits des Mississippi“, äffte Basti mich nach. „Was ist das denn für ein bekloppter Spruch? Und was ist das überhaupt für ein Argument?“
Wir standen im Wartehäuschen an der Bushaltestelle, um zum Schwimmtraining zu fahren und der Regen trommelte so laut auf das Plexiglas, dass wir kaum ein normales Gespräch führen konnten. Aber wir waren allein und so brüllten wir munter gegen das Prasseln an. „Ist überhaupt kein bekloppter Spruch. Ist von meinem Vater“, rief ich und warf Basti einen Blick an den Kopf, der gleichzeitig Wut und Verletzung ausdrücken sollte. Aber Basti grinste nur. „Daran erinnerst du dich? Na, du hast ja’n phänomenales Gedächtnis, Junge!“ Für einen kurzen Moment dachte ich darüber nach, dass ich jetzt eigentlich richtig verletzt und noch wütender sein müsste. Stattdessen musste ich grinsen. „Weißte doch. Elefanten vergessen nix.“
Basti legte freundschaftlich den Arm um meine Schulter und im Spiegelbild des Wartehäuschens sah ich unsere verschwommene Silhouette. Basti war riesig. Er sah aus wie ein Erwachsener. Mit Haaren über der Lippe und breiten Schwimmerschultern. Darunter ich. Wie ein Kind mit viel zu großem Kopf. Die meisten Leute hielten Basti für meinen älteren Bruder, weil wir im gleichen Haus wohnten, in die selbe Klasse gingen, den selben Schwimmverein besuchten und ständig zusammen hingen. Dabei war ich fast drei Monate älter.
„Das wäre übrigens auch ein gutes Thema“, stieg Basti wieder ein.
„Was? Elefanten?“
„Na ihr Gedächtnis. Ob sie wirklich so ein gutes Gedächtnis haben.“
„Ja. Haben sie.“
„Ja. Aber warum… das wäre eine interessante Fragestellung.“
„Weil sie so alt werden.“
„Wie bitte?“
„Na die werden fast neunzig. Da müssen sie sich doch bitteschön auch an früher erinnern können. Also haben sie ein gutes Gedächtnis, weil es blöd ist, wenn die Kumpels von vor siebzig Jahren vorbeikommen und sie bieten ihnen nicht mal einen Tee an, weil sie sie gar nicht erkennen.“
„Elefanten trinken keinen Tee.“
„Du weißt was ich meine, Basti. Das kann man doch alles irgendwo nachlesen. In der Schulbibliothek stehen mindestens zehn Bücher zu dem Thema. Hunderte Forscher in der ganzen Welt arbeiten seit fünfzig Jahren an nichts anderem. Da müssen wir doch nicht auch noch ganz niedliche Fragen dazu stellen, damit alle Lehrer sich freuen und wir in Biologie ne bessere Note kriegen.“