- -
- 100%
- +
„Ich kann in Bio gar keine bessere Note kriegen.“
Es war zwecklos. Auf alles, was ich sagte, hatte Basti eine Antwort. Und umgekehrt. Und wir kamen kein Stückchen weiter.
„Was findest du denn interessant?“, fragte Basti plötzlich.
„Nichts. Ich finde nichts von dem Forscher-Zwerge-Kram interessant.“
„Ja. Aber davon abgesehen. Wenn es jetzt was mit Schwimmen zu tun hätte?
„Hat es aber nicht. Und ich will auch gar nicht zum Schwimmen forschen. Ich will einfach schwimmen. Dabei muss ich wenigstens dein Gequatsche nicht ertragen.“
In dem Moment kam der Bus und wir stiegen ein. Auf der letzten Bank lümmelten ein paar sehr erwachsen aussehende Jungs, also zog ich Basti in einen Vierer ganz vorne. Wir mussten rückwärts fahren und saßen gegenüber einer alten Dame mit Pudel auf dem Schoß. Aber das nahm ich in Kauf, denn unsere Streberpläne wären im hinteren Teil des Busses sicher kein günstiges Thema. Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander, dann nahm Basti einen neuen Anlauf.
„Katrin Morgentaler macht auch bei dem Wettbewerb mit.“
Ich starrte Basti mit aufgerissenen Augen an. Er lächelte. Die Alte lächelte. Der Pudel lächelte. Ich blickte wütend aus dem Fenster.
„Na und?“
„Sie untersucht das Flugverhalten von Eulen. Wie sie es schaffen, so lautlos zu fliegen.“
„Weiche Federn“, erwiderte ich.
„Meine Güte. Jetzt fang nicht wieder so an. Gut. Meinetwegen steht das alles schon in irgendwelchen Büchern. Aber es geht ja nicht nur um das Ergebnis, sondern um die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem Thema. Um Forschung.“
Basti war lauter geworden und ich blickte beunruhigt auf die letzte Bank. Die beiden Jungs dort schenkten uns jedoch keinerlei Beachtung. Sie versuchten gerade, gemeinsam einen Song aus einem einzelnen Kopfhörer zu hören. Es schepperte bis nach vorne.
„Hör zu, Pete“, versuchte Basti es nochmal. „Es muss ja nix mit Tieren sein, wenn das nicht so dein Ding ist. Gibt es denn gar nichts, was dich interessiert?“
Ich erkannte das Scheppern, das aus dem Walkman nach vorne klang. Ben, unser Schwimmtrainer, hörte das immer in seinem Auto. Manchmal nahm er mich mit. Manchmal gab er mir auch seinen Walkman für ein paar Minuten.
„New Model Army“, sagte ich.
Mit einem Seufzer der Verzweiflung sackte Basti in seinem Sitz zusammen.
„Ausgeschlossen. Wir können keine Forschungsarbeit über New Model Army machen. Das lässt der Böttcher niemals zu und das lässt auch deine Mutter niemals zu. OK. Vergiss es.“
Dann war es wieder still. Ich blickte durch die beschlagene Scheibe nach draußen und lauschte der Musik, die von hinten kam. Man konnte den Text nicht hören, aber ich kannte ihn auswendig und sprach leise mit. …on the bus ride … that meanders… up these valleys of green and grey… Das war erstaunlich passend für eine Busfahrt durch den Regen. Vor meinen Augen schoben sich die Tropfen die Scheibe hinab, verschmolzen miteinander und rasten in mäandrierenden Rinnsalen nach unten. Ich versuchte vorauszusagen, welchen Weg der nächste Tropfen nehmen würde, aber es war unmöglich. Das Wasser schien völlig chaotische Bahnen zu nehmen. Wobei sich im unteren Teil richtige kleine Flüsse ausbildeten, die nebeneinander im Nichts verschwanden. Es faszinierte mich. Warum ging das Wasser keinen geraden Weg? Warum all die Schleifen und Bögen? Warum ließ sich die Reise des Tropfens nicht vorausberechnen? Das waren Fragen, die mich wirklich interessierten - nicht Elefanten oder Eulen. Ich drehte mich zu Basti. Er hatte die Augen geschlossen. Die Alte hatte die Augen geschlossen. Der Pudel hatte die Augen geschlossen.
„Regen“, sagte ich.
Basti seufzte ohne Aufzublicken. Ich grinste. Und damit hatten wir doch noch unser Forschungsthema gefunden.
Abkürzungen
Später behauptete Basti, er hätte schon vorher in meinen Augen gesehen, dass ich mitmachen würde. „Und zwar in dem Moment, als ich Katrin Morgentaler erwähnt habe.“ Aber das ist Unsinn. Auch meine Mutter wollte mir mein plötzliches Interesse an Wissenschaft nicht so recht abnehmen, beschloss aber, sich einfach über den Sinneswandel zu freuen und erklärte ihn sich selbst und mir als Zeichen meiner wachsenden Reife. Allerdings bedauerte sie, dass wir uns nicht für ihr Fach, Mathematik, oder wenigstens Biologie oder Chemie als Forschungsgebiet entschieden hatten. Aber als Basti ihr erklärte, dass unser Fachgebiet Geo- und Raumwissenschaft quasi zur Physik gehöre und das Ganze eine astreine naturwissenschaftliche Untersuchung werde, sah sie sehr glücklich aus. Sofort bot sie Unterstützung an. Wir könnten die Uni-Bibliothek nutzen. Sie wolle mit ihrer Chefin sprechen, damit wir Forscher interviewen könnten und so weiter. Basti musste sie bremsen. „Das ist leider verboten, Frau Boltenhagen. Wir müssen wirklich alles ganz alleine erarbeiten. Nur Herr Böttcher darf uns beraten. Er ist da offiziell als Betreuer angemeldet, wissen Sie.“ Das wirkte. Vor Regeln hatte meine Mutter Respekt. Wenn es verboten war, war es verboten.
Bastis Begeisterung und der Stolz meiner Mutter verdrängten meine eigenen Zweifel für etwa zwei Wochen. Dann traten wir bei Herrn Böttcher an, um unseren Arbeitsplan für die nächsten Monate zu erfahren und aus meinen Zweifeln wurde die Gewissheit, einen Fehler begangen zu haben.
Zunächst hatte Herr Böttcher unser Thema so weit verändert, dass es kaum mehr etwas mit Regen zu tun hatte. „Regelmäßigkeiten bei der Ausbildung von Mäandern“ lautete das Thema unserer JuFo-Arbeit, wie unser Projekt ab jetzt genannt werden sollte. Böttcher schaffte es gleich zu Beginn seines Monologs, die Abkürzung dreimal in einem Satz unterzubringen. „Die JuFo-Arbeit und die Teilnahme am JuFo-Wettbewerb eröffnen euch ein ganzes Universum an Möglichkeiten und Kontakten in der JuFo-Welt.“ Ich hasste dämliche Abkürzungen und diese brachte es direkt auf Platz eins meiner Liste, noch vor O-Saft und HDGDL. Meinen Einwand, dass wir doch eigentlich über die Wege der Regentropfen forschen wollten, hatte er offenbar erwartet. Mit einem künstlichen Showmaster-Grinsen tänzelte er zur Tafel und klappte sie mit großer Geste auf. Wir starrten auf ein gezeichnetes Rechteck mit Schlangenlinie und ich rechnete fest damit, dass jeden Moment diese Musik ertönte, die im Fernsehen immer dann kommt, wenn ein Kandidat gerade seinen ganzen Einsatz verzockt hat.
„Genau das machen wir natürlich auch, mein lieber Peter“, pries Böttcher seinen vermeintlichen Hauptgewinn an. „Ein Tropfen auf einer Scheibe ist ja nichts anderes als Wasser auf einer schiefen Ebene. Zugegeben: im Fall der Fensterscheibe ist diese Ebene mehr als nur schief. Wir bauen also eine solche Ebene auf einen verstellbaren Winkel und montieren am oberen Ende einen Wasserzufluss mit Druckregulierung. So erhalten wir zwei Variablen, den Wasserdruck und den Neigungswinkel der Ebene und können in drei Monaten ausreichend Experimente durchführen, um belastbare empirische Daten über das Fließverhalten des Wassers zu erhalten.“
„Fantastisch“, platzte es aus Basti heraus.
Ich bemerkte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Nicht genug, dass ich noch nicht so genau verstanden hatte, was wir da empirisch und mit zwei Variablen eigentlich veranstalten würden, das mit den drei Monaten meinte Herr Böttcher erschreckend wörtlich. „Wenn wir in zwölf Wochen jeden Tag zwei Durchläufe von je vier Stunden machen, kommen wir auf 120 Testreihen. Mit dem einen oder anderen Durchlauf am Wochenende oder abends sollten wir genügend Daten zusammenkriegen, um Mitte Juli fertig zu sein. Bis Ende August könnt ihr dann die Arbeit schreiben. Abgabe ist am 15. September. Was sagt ihr - ist das ein Plan?“
Nach diesem Gespräch hatten Basti und ich die schlimmste Krise unserer 15-jährigen Freundschaft. Drei Monate lang irgendwelche Variablen variieren? In den Sommermonaten am Schreibtisch sitzen und eine Arbeit schreiben? Ich erklärte Basti, ich würde aussteigen. Ich meinte es ernst, aber er nahm mir das nicht mal eine Sekunde lang ab.
„Mal ernsthaft, Pete - was würde deine Mutter wohl davon halten?“ Dieser Satz machte mich so wütend, dass ich fast geschrien hätte. Blöderweise standen wir mitten auf dem Schulhof. Noch mehr als dämliche Abkürzungen hasste ich dramatische Szenen in aller Öffentlichkeit. Also würgte ich ein erbärmliches „mirdochscheißegal“ hervor, schubste Basti so fest gegen die Brust, wie ich nur konnte und rannte wortlos nach drinnen.
Der Papierkorb im Jungs-Klo bekam dann meine ganze Wut zu spüren. Idiotischerweise war es mir nämlich gar nicht scheißegal, was meine Mutter davon halten würde. Scheiß Papierkorb. Kein winziges bisschen scheißegal, denn es war verdammt nochmal meine einzige sinnvolle Aufgabe auf diesem Planeten, ihr keinen Kummer zu bereiten. Verdammter Scheiß Papierkorb. Und Basti wusste das genau. Er hatte von Anfang an geplant, meine Mutter als Druckmittel einzusetzen. Verblödeter, dämlicher Blech-Papierkorb-Arsch.
„Sag mal, geht’s noch?“ Die Tür ging auf und Katrin Morgentaler stand vor mir. Ich starrte sie an, als spräche sie Suaheli. Sie starrte mich an, als sei ich bescheuert. Für eine solche Situation hatte ich eigentlich, gemeinsam mit Basti, eine ganze Liste cooler Sprüche vorbereitet - von Immer locker bleiben, Schätzchen bis Es ist nicht das, wonach es aussieht. Stattdessen nuschelte ich: „Das ist das Jungs-Klo“ und stürmte an ihr vorbei.
Wendung
Das Problem mit mir war: ich war verdammt schlecht im Streiten. Wirklich schlecht. Meist kam es überhaupt nicht dazu, dass ich mit irgendjemandem in Konflikt geriet. Aber wenn doch, war ich drüber so erschrocken, dass ich alles dafür tat, die Wogen so schnell wie möglich zu glätten. Der Anlass war mir egal. Der Schuldige war mir egal. Ich wollte Frieden. Wenn meine Mutter mich als fernsehsüchtig beschimpfte, wenn Sie nach 19 Uhr nach Hause kam und bemerkte, dass der Fernseher noch warm war, schrie ich ihr nicht etwa entgegen, ich hätte nur MTV Europe im Hintergrund laufen lassen, weil es in diesem Irrenhaus nicht mal ein Radio gäbe. Und dabei hatte ich immerhin eine Stunde lang Wäsche zusammen gelegt. Stattdessen sagte ich einfach tut mir leid und verschwand in meinem Zimmer. Wenn sie mich einmal in drei Monaten von einem Schwimmwettkampf abholen sollte, eine ganze Stunde zu spät kam und sich kaum war die Autotür geöffnet, wortreich entschuldigte, war ich schon nicht mehr sauer, bevor ich auf dem Sitz saß. Natürlich, ich hatte sie mehrfach daran erinnert. Aber dann hatte es beim Friseur eben länger gedauert, sie hatte sich ein wenig verquatscht und dann waren da tatsächlich auch noch andere Autos auf den Straßen.
Im Grunde war mir meistens alles nicht so wichtig. Ich konnte die Beweggründe von anderen besser verstehen, als meine eigenen. Basti wollte mich unbedingt dabei haben. Er wusste, worauf ich anspringen würde. Also hat er das ausgenutzt und es hat funktioniert. Das war zwar berechnend, aber er hatte sich entschuldigt. Und ganz ehrlich - ich hatte eh nix besseres vor.
Eine Woche nach unserem Streit begannen wir mit dem ersten Experiment.
Unser Labor war ein nicht genutzter Klassenraum, dessen hintere Hälfte bis unter die Decke mit alten Holzstühlen vollgestellt war. Der Raum lag im Keller des Altbaus, unterhalb der Straßenebene, so dass kaum Licht durch die Fenster hineindrang. In der Luft hing eine undefinierbare Mischung aus schimmelndem Holz, Rattengift und toter Ratte.
Unsere Experimentierfläche war eine drei Meter lange Pressspanplatte, die Basti mit Bootslack eingepinselt und auf das Holzgerüst eines Liegestuhls geschraubt hatte. Mit Hilfe eines Schlauches am oberen Ende der Platte konnte man Wasser die Ebene runterlaufen lassen, wobei sich Mäander ausbildeten, diese typischen Schleifen.
Unsere Hypothese war: verändern wir Wasserdruck oder Neigungswinkel der Platte, verändern sich auch die Mäander.
Unser Forschungsziel war: Regeln und Gesetze für die Herausbildung der Wasserbögen zu finden.
Unsere Motivation war: in die tieferen Sphären der Wissenschaft vorzudringen und den Rätseln des Kosmos ein weiteres wertvolles Geheimnis abzutrotzen. Zumindest konnte ich genau das in Bastis Gesicht lesen, als er zum ersten Mal den Wasserhahn öffnete und zusah, wie sich ein winziges Rinnsal Wasser über unsere Platte wand, um leise strullernd in die Auffangwanne zu laufen.
Meine ganz eigene Motivation war es, Basti zu unterstützen, meine Mutter zufriedenzustellen und auf irgendeine überraschende Wendung dieser Forschungsgeschichte zu hoffen. Bisher erschien mir nämlich alles genau so, wie ich es erwartet hatte: aufgeblasen, mühselig und unendlich langweilig.
Unsere gesamte Arbeit bestand darin, Neigungswinkel und Druck einzustellen, die ganze Apparatur vier Stunden lang laufen zu lassen und in Intervallen von dreißig Minuten zu zählen, wie viele Schleifen sich ausgebildet hatten, zu messen wie breit ihre Ausdehnung war und alles sorgfältig zu notieren und zu fotografieren. Jede Messung dauerte weniger als eine Minute, so dass uns am Vormittag im Namen der Forschung erlaubt wurde kurz den Unterricht zu verlassen, um im Keller Notizen zu machen.
An den Tagen, an denen ich dafür eingeteilt war, hielt ich mich streng an den Plan, vergaß nie auch nur eine Messung und dokumentierte gewissenhaft jede kleinste Veränderung. Allein - ich verstand immer noch nicht, warum wir das alles taten. Zugegeben, den Unterricht einfach so verlassen zu dürfen, fand ich gut. Die Kehrseite davon war: die ganze Klasse wusste, warum einer von uns immer mal wieder kommentarlos den Saal verließ. Und nicht nur die Klasse. Die ganze Schule wusste es. Basti und Peter aus der 10b, der Große und der Kleine, dieses ohnehin schon merkwürdige Pärchen, waren freiwillig und anscheinend mit Begeisterung in die JuFo-Welt übergetreten. Und während Basti von unserer wachsenden Berühmtheit wenig bis nichts mitzukriegen schien, hörte ich auf den Gängen immer öfter Getuschel oder spürte spöttische Blicke in der Pause.
Trotz all dieser negativen Vorzeichen klopfte dann aber tatsächlich die überraschende Wendung an unsere Tür. Es war Montag in unserer zweiten Forschungswoche. Ich war gerade dabei, das Schachbrett aufzubauen, mit dem Basti und ich uns am Nachmittag die Wartezeit vertrieben, als die Tür aufging und Herr Böttcher mit der Wendung mitten in unser Laboratorium gelaufen kam. „Jungs, ich bringe euch heute eine Kollegin. Wir brauchen einen Raum, in dem wir einen kleinen Windkanal aufbauen können. Und ich denke, hier ist genug Platz für zwei Forschungsprojekte. Wir müssen nur schnell die Stühle auf den Hof räumen. Herr Schneider lässt sie morgen abholen.“ Er hielt kurz inne, als er unsere ungläubigen Gesichter sah. Dann wandte er sich um. „Ihr kennt doch Katrin aus der 10a, oder?“
„Klar“, antworte Basti für uns beide. Dabei grinste er mich dermaßen auffällig an, dass ich verzweifelt wünschte, statt einer nutzlosen Liste mit coolen Sprüchen, lieber eine Tarnkappe zu besitzen.
Die Begrüßung hatte ich verpatzt und danach wollte mir kein einziger brauchbarer Satz einfallen. Also schnappte ich mir wortlos die ersten beiden Stühle und fing an, sie auf den Hof zu schleppen. So konnte ich in Ruhe darüber nachdenken, was hier gerade geschah. Katrin Morgentaler sollte sich mit uns ein Labor teilen. Katrin Morgentaler war tatsächlich auch Teil der JuFo-Welt. Aber wieso? Oder besser: womit hatte ich das verdient? Katrin war das beliebteste Mädchen der ganzen Klassenstufe. Sie stand in allen Fächern auf Eins, war Klassensprecherin, Mittelstufensprecherin und Kapitänin der Volleyball-Schulmannschaft. Dazu sah sie aus wie ein Fotomodel. Lange braune Haare, riesige Rehaugen und über ihren Po oder ihre Brüste nachzudenken, geschweige denn sie in halbwegs verständlichen Worten zu beschreiben, wäre mir nur nach monatelanger Meditation in einem tibetanischen Mönchskloster möglich gewesen. Katrin Morgentaler war fester Bestandteil meiner erotischen Tag- und Nachtträume. Aber bis auf unsere Begegnung auf der Toilette hatte ich nie auch nur ein direktes Wort mit ihr gesprochen. Ich lächelte beim Stühle schleppen vor mich hin. Das würde sich jetzt ändern.
Durch Katrins Ankunft bekam der Mikrokosmos unseres Labors eine Ordnung. Bisher hatten wir zwar pflichtbewusst unsere Messungen gemacht, aber unser ganzes Dasein war mir vollkommen sinnlos erschienen. Wir waren ziellos im Raum umhergewabert - jetzt hatten wir unsere eigene kleine Sonne, um die wir kreisen konnten. Vielleicht kreiste Basti etwas aktiver und ich war eine Art Trabant, ein Mond, der an Basti dranhing. Aber auch ich bekam meine Portion Sonnenlicht ab und alles war gut. Bisher hatte ich an diesem JuFo-Projekt teilgenommen, weil meine Mutter und Basti es wollten. Jetzt wollte ich es selbst. Nicht wegen der Wassertropfen auf dieser schiefen Ebene, die wenig mit meiner Busscheibe zu tun hatte. Wegen Katrin. Die echte Welt machte endlich den ersten Schritt auf mein Fantasie-Universum zu und ich war mehr als gespannt, wie weit die beiden sich annähern würden.
Wir räumten für Katrin die hintere Saalhälfte frei, bewiesen unsere Tapferkeit an einem halb skelettierten Nagetier und schleppten für sie ein riesiges Windrad aus der Physiksammlung in den Keller. Als Lohn dafür durften wir von nun an regelmäßig ein paar Stunden mit Katrin verbringen.
Am zweiten Tag schaffte dann auch ich es, eine Art Konversation mit ihr zu führen. Basti ließ sich gerade den Windkanal erklären, als sie darüber klagte, die Lichtverhältnisse im Keller seien wirklich schlecht.
„Sind doch Nachtvögel“, sprach ich in den leeren Raum vor meinem Mund. Ich rechnete nicht mit einer Reaktion, aber die beiden drehten sich abrupt zu mir um. Basti hatte direkt wieder sein Grinsen angeknipst.
„Was?“
Katrin bedachte mich mit einem ausdruckslosen Blick, so als gälte es ein weiteres Versuchsobjekt zu beobachten.
„Na, Eulen. Eulen sind Nachtvögel. Für die ist es gut, dass es hier dunkel ist.“
„Aber ich will doch keine echten Eulen hier runter bringen.“
Ich versuchte ein Lächeln, das mir allerdings hoffnungslos über die Unterlippe entglitt.
„Ich weiß“, stammelte ich.
„Das war ein Scherz!“, sprang Basti mir bei. „Pete macht ständig solche Sprüche. Er ist wirklich witzig.“
Ich rückte meine Unterlippe zurecht und dachte sehnsüchtig an die Tarnkappe. Katrin betrachtete mich einen Moment lang still, ohne dass irgendetwas ihre Gedanken verriet. Zu meiner Verblüffung öffnete sie dann ihren Mund und schenkte mir ein großes, weißes Lächeln.
Schwimmen
Die kommenden Wochen gehörten eindeutig zu den besten meiner gesamten Schulzeit. In Mathe kam ich immer noch nicht mit, in Latein musste ich seit neustem sogar die Förderstunden besuchen und einer der Schul-Rambos hatte Spaß daran gefunden, mir ständig ein Bein zu stellen - aber das spielte alles keine Rolle. Wichtiger war: ich verbrachte regelmäßig Zeit mit Katrin Morgentaler. Sie stieg zwar nur an zwei oder drei Tagen pro Woche in unseren Keller herab, aber das genügte mir. Anfangs sprachen wir nur wenig und ausschließlich über Eulen, aber nach und nach gewöhnten wir uns aneinander. Ich hatte zwar immer noch Mühe nicht ständig auf die Wölbung ihrer Brust zu starren, aber immer öfter hielt ich ihrem Blick beim Sprechen stand. Irgendwann stellte sie mir dann tatsächlich eine Frage, die gar nichts mit Forschung oder Schule zu tun hatte.
„Basti hat erzählt, du schwimmst auch beim KSK?“
Ich nickte.
„Welche Lage?“
„Delphin.“
„Er ist sogar Jahrgangsbester“, warf Basti ein.
Katrin zog skeptisch die linke Augenbraue hoch.
„Tatsächlich? Aber Basti ist doch bestimmt nen Kopf größer als Du?“
„Du solltest ihn mal im Wasser sehen“, machte Basti weiter. „Pete hat eine unglaubliche Technik. Unser Trainer nennt ihn den Wasserfloh.“
Katrin lachte laut auf und mein stolzes Lächeln rutschte leicht erdwärts. Aber dennoch schien sie ein wenig beeindruckt.
„OK, Wasserfloh. Vielleicht musst Du mir diese Technik mal zeigen.“
Und dabei hob sie die Augenbraue gleich noch mal. Ich war völlig gebannt von der Leichtigkeit dieser Bewegung. Wie in Trance antwortete ich: „Klar. Komm gerne mal mit zum Training.“
„Ist das nicht nur für Jungs?“
An dieser Stelle wusste selbst Basti nichts mehr zu meiner Verteidigung hervorzubringen.
„Doch. Nur für Jungs. Die Mädchen trainieren eine Stunde früher.“
„Na das mein’ ich doch“, versuchte ich die Situation zu retten. „Zum Mädels-Training. Du bleibst einfach nen Moment länger und ich zeige Dir, wie es geht.“
Katrin lächelte entschuldigend. „Das würde ich wirklich gerne sehen. Aber ich kann nicht auch noch in den Schwimmverein. Ich geh schon viermal die Woche zum Volleyball - dazu jetzt noch das hier.“
Das verstand ich natürlich. Außerdem spielte Katrin ja noch Geige im Schulorchester. Und sie hatte sicher auch sonst noch einige Termine. Doch anstatt es gut sein zu lassen, hörte ich mich zu meiner eigenen Überraschung sagen: „Dann gehen wir am Samstag. Da ist zwar Spaßbaden, aber wir finden schon ne Bahn.“ Und zu meiner noch größeren Überraschung war Katrin einverstanden.
Meiner Mutter war irritiert, dass ich Samstags trainieren wollte, denn eigentlich begleitete ich sie an diesem Tag immer auf den Markt. „Ich dachte wir gehen ins Café Schwonke?“, versuchte sie es. „Vera kommt auch mit den Zwillingen.“ Aber ich war unnachgiebig. Und da im Juli die Vereinsmeisterschaften anstanden und selbst meine Mutter ahnte, dass es spannenderes für einen Sechzehnjährigen gab als zwei Muttis und zwei Achtjährige, war es ausnahmsweise sie, die nachgab.
Basti kam um Punkt dreizehn Uhr. Wir waren erst um zwei verabredet und der Bus brauchte keine zehn Minuten zum Bad. Dennoch hatte er auf den frühen Treffpunkt bestanden. Dass die Verabredung für uns beide galt, hatte für keinen von uns auch nur einen Moment in Zweifel gestanden. Zu meiner Verwunderung trug er Sporthosen, T-Shirt und Laufschuhe. Verschwörerisch blinzelte er mich an.
„Bereit Katrin Morgentaler im Bikini zu sehen?“
Ich versuchte mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen.
„Vielleicht trägt sie ja auch nen Badeanzug.“
Basti schloss für einen Moment theatralisch die Augen. „Was auch immer sie trägt - heute bekommt mein Leben endlich einen Sinn.“
„Was ist mit Sandra?“, fragte ich.
„Was soll sein?“ fragte er betont gut gelaunt. „Wir gehen miteinander. Aber Katrin Morgentaler im Bikini, ist Katrin Morgentaler im Bikini. Und außerdem steht sie ja wohl eher auf Dich, Wasserfloh.“
Ich wurde rot. „Badeanzug - nicht Bikini“, stammelte ich, „ich denke, es wird Katrin Morgentaler im Badeanzug. Schließlich wollen wir schwimmen.“
Bastis gute Laune steigerte sich noch.
„Ja. Das sagtest Du bereits. Egal was sie trägt - ich hoffe, du bist vorbereitet?“ Er zwinkerte mir zu.
Ich verstand nicht.
Basti rollte theatralisch die Augen.
„Na vorbereitet. Du hast hoffentlich dafür gesorgt, dass in deiner Badehose niemand einen spontanen Zeltausflug unternimmt.“
Ich sagte gar nichts und Basti wurde noch theatralischer.
„Pete, also wirklich. Ich fass` es nicht. Das ist unprofessionell. Na los, ab mit Dir ins Bad.“
Dazu öffnete er die Badezimmertür und macht eine tiefe Verbeugung. Ich begriff zwar mittlerweile, bewegte mich aber kein Stück.
„Oh. Nein Danke. Ich kann doch nicht… während Du hier hockst“
„Ich kann so lange fernsehen. Aber beeil dich.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Vergiss es. Ich hab das schon im Griff“
Basti pfiff mit gespielter Anerkennung durch die Zähne. „OK, OK. Aber versteck dich nicht hinter meinem breiten Rücken, wenn Du nachher die Kontrolle verlierst.“ Dann zeigte er auf mein Zimmer. „Los - Sportsachen an. Schwimmsachen in den Rucksack. Wir laufen zum Bad.“
„Wir laufen zum Bad? Warum das denn?“
„Du kapierst aber auch gar nichts. Das ist auch Vorbereitung, Mann. Wir wollen doch jeden einzelnen unserer mühsam herangezüchteten Muskeln in Bestform bringen.“