- -
- 100%
- +
Ich wollte widersprechen, denn eigentlich ging es wohl vor allem um Bastis Muskeln. Aber er hatte recht. Neben ihm sah ich zwar aus wie ein Kind, aber immerhin war ich ein Schwimmer. Und in letzter Zeit hatte ich im Spiegel immer mal wieder neue Muskeln entdeckt. Es konnte sicher nicht schaden, diese ein wenig in Form zu bringen.
In der Umkleidekabine vom Schwimmbad verordnete Basti mir dann noch eine Trainingseinheit von fünf mal zwanzig Liegestütze. Zwei Rentner lachten herzlich, als sie uns auf dem Kabinenboden japsen sahen. Als wir das Bad betraten war ich überall am Körper rot und immer noch kurzatmig, aber tatsächlich wirkte ich etwas größer als sonst. Basti lief wie Adonis vor mir her. Katrin zeigte sich jedoch in keiner Weise beeindruckt. Oder vielleicht habe ich auch nur nichts davon mitbekommen, denn ich habe kaum auf ihr Gesicht geachtet. Sie trug tatsächlich einen Bikini. Er war weiß mit schwarzen Nähten, betonte die gesunde Bräune ihrer Haut und verriet deutlich, dass ihre körperliche Entwicklung zur erwachsenen Frau mehr als abgeschlossen war. Ich konnte nicht anders, als einen Moment lang gedankenverloren zu starren und bereute sofort, nicht auf Basti gehört zu haben. Also dachte ich intensiv an exponentielle Funktionen und hoffte auf den Vertuschungseffekt meiner dunklen Badehose.
„Die Herren Forscher“, begrüßte uns Katrin mit einem koketten Blick, bei dem sie wieder die Augenbraue hochzog.
„Hallo Katrin. Wartest Du schon lange?“, hörte ich Basti sagen. Ob er ihr zur Begrüßung die Hand gab oder sie gar umarmte, sah ich gar nicht mehr. So schnell es ging, trat ich an den Beckenrand und ließ mich kommentarlos ins Schwimmerbecken fallen. Ein älterer Herr ohne Schwimmbrille konnte gerade noch ausweichen und bedachte mich mit einer kleinen Schimpftirade. Ich tauchte zurück an den Beckenrand. Katrin lachte. „Uuups. Und da kommt auch schon der Bademeister.“
Tatsächlich bewegte sich ein junger Mann in weißen Shorts und blauem Polo-Shirt auf uns zu. Aber er lächelte. Es war Ben, unser Schwimmtrainer.
„Dass ich dir noch mal die Baderegeln erklären muss, hätte ich nicht gedacht.“ Er half mir mit einer Hand aus dem Wasser, begrüßte Basti und schließlich Katrin.
„Was macht ihr hier, Jungs? Trainieren am Wochenende.“
„Klar“, lächelte ich.
„Peter wollte mir zeigen, wie man richtig Delphin schwimmt“, ergänzte Katrin mit einem Blick, den ich bisher noch nicht an ihr kannte. Ihre Stimme wurde ziemlich sanft. Sie schnurrte beinahe.
Ben setzte ein breites Grinsen auf.
„Oh. Da hast du dir unseren Spezialisten ausgesucht. Er hat wirklich eine einzigartige Technik. Los ab mit Dir. Zeig uns wie’s geht.“
Ich schlurfte brav zum Startblock und sprang ins Wasser. Beim ersten Zug war ich tatsächlich so etwas wie aufgeregt. Die vertrauten Bewegungen brachten mich aber schnell zur Ruhe. Mein Körper ging in den Schwimmmodus. Beinschlag, gleiten, Beinschlag, Arme. Ich fixierte den Beckenboden schräg vor mir und hörte auf zu denken. Bevor ich es richtig merkte, hatte ich schon gewendet und war auf dem Weg zurück. Ben war neben Katrin stehen geblieben und erklärte ihr irgendwas. Sie beobachteten mich. Ich richtete meinen Blick wieder in die Tiefe. Als ich am Beginn der Bahn ankam, war mir blöderweise noch nicht eingefallen, was ich jetzt sagen könnte. Also wendete ich und hängte zwei weitere Bahnen dran. Diesmal gab mir Basti mit einem Patsch auf die Schulter zu verstehen, dass ich aufhören sollte.
„Ich bin dran“, raunte er mir zu. Dann sprang er über mich und zog mit schnellen Kraulschlägen davon. Ich stieg aus dem Wasser.
„Bei Freistil spielt die Spannweite eine größere Rolle. Da schwimmt Basti allen weg. Aber Delphin ist neben Kraft vor allem Technik. Körperbeherrschung. Koordination.“ Ben grinste stolz zu mir rüber. Katrin lachte übers ganze Gesicht.
„Nicht schlecht, Wasserfloh“, rief sie. Sie lächelte anerkennend und ein prickelndes, warmes Etwas breitete sich überall in meinem Körper aus. Ein wenig wie Fieber, nur fühlte es sich verdammt gut an. Das war ein Anfang, eindeutig. Und besser als Eis essen. Aber da mir immer noch kein kluger Satz einfiel, stürzte ich mich einfach wieder ins Wasser.
Hinterher war ich unsicher, wie Katrin den Schwimmbadbesuch wirklich fand. Erst dachte ich, sie langweilt sich. Denn während Basti und ich alleine durchs Wasser pflügten, stand Katrin nur draußen bei Ben und hörte ihm zu. Aber dann war sie auch reingesprungen und ließ sich von mir die Arm- und Beinbewegungen beim Delphinschwimmen zeigen. Ich machte es vor und sie machte es nach. Ben kam auch noch mal dazu und korrigierte ihre Haltung von außen. Katrin brauchte ungefähr vier Versuche, dann hatte sie die Bewegung drauf. Sie forderte sofort ein Wettrennen. Ich musste schwören, ich würde Vollgas geben und gewann mit einer halben Bahn Vorsprung. Aber das schien ihr zu gefallen. Sie gab mir einen kleinen, anerkennenden Klaps auf die Schulter und lachte aus vollem Hals. „Nicht schlecht“, sagte sie wieder. „Wirklich nicht schlecht.“ Aber als ich ihr dann die Bewegung nochmal vormachen wollte, musste sie schon nach Hause. Sie war richtig erschrocken, als sie sah, wie spät es war und verschwand mit einer kurzen Verabschiedung aus Becken, Bad und meinen Wochenendplänen.
Freunde
Am folgenden Montag kam Katrin direkt auf unseren Schwimmbadbesuch zu sprechen und wie toll sie alles fand. Ich fürchtete zunächst, sie mache sich über mich lustig, aber sie sprach ganz ernsthaft davon, sich im Schwimmklub anzumelden. Ihr enger Zeitplan schien auf einmal kein Hindernis mehr zu sein. „Ich geh nur Montag und Mittwoch. Das ist der perfekte Ausgleich zum Volleyball.“ Ich war überglücklich, versuchte mir aber möglichst wenig anmerken zu lassen. Basti hingegen reagierte mit fast schon besorgniserregender Zurückhaltung. Ich beschloss, ihn zu ignorieren.
Ich sah Katrin in dieser Woche an jedem Tag irgendwo im Schulhaus. Jedes Mal grüßte sie mich zumindest oder blieb stehen, um ein paar Worte mit mir zu wechseln. Das schien irgendeine Art von Zauber in Gang zu setzen. Es begann mit Katrins Freundinnen, die ebenfalls begannen, mir zuzunicken. Dann grüßten mich ein paar von den cooleren Jungs aus der Elften. Schließlich ging sogar der Rambo, der mich zu seinem Lieblingsopfer auserkoren hatte, nur mit einem schiefen Grinsen an mir vorbei. Ohne mir das Bein zu stellen. Ohne mir ans Ohr zu schnipsen. Ohne irgendeinen Spruch. Ich war glücklich wie nie in meinem Leben und am Freitag konnte ich die Tatsachen nicht länger leugnen.
„Basti. Ich glaube, mich hat’s erwischt.“
Grinsen.
„Scheiße.“
Schweigen.
„Katrin?“
Nicken.
„Scheiße.“
Grinsen.
Wir saßen zu zweit im Forschungskeller und unsere Wasserplatte plätscherte fröhlich vor sich hin. Basti hatte mich gerade in Rekordzeit matt gesetzt, ohne dass ich wirklich viel davon mitbekommen hätte. Er fuchtelte mit meinem König wie mit einem Messer vor meiner Nase rum.
„Ich sag das nicht gern, Petey. Aber vergiss es.“
„Sie hat sich im Klub angemeldet.“
„Das ist eine andere Liga. Nicht meine und schon bestimmt nicht deine.“
„Sie hat mich an der Schulter berührt. Im Schwimmbad.“
„Sag mal hörst Du mir überhaupt zu?“
„Sie zieht die linke Augenbraue immer so hoch, wenn sie mich ansieht.“
„Scheiße.“
„Ja. Scheiße.“
Das Wochenende zog an mir vorbei, wie in einem Nebel. Ich dachte 48 Stunden lang pausenlos an Katrin. An ihren weißen Bikini. An ihre makellose Haut. An den Stups, den sie mir auf den Arm gegeben hatte. Die Bilder standen so real vor mir, dass ich glaubte, sie berühren zu können. Es fiel mir schwer, mich auf die Welt um mich herum zu konzentrieren und wusste keinen anderen Ausweg, als auf Bastis Rat zu hören. Katrins Brüste unter den weißen Stoffdreiecken - ich rannte ins Bad. Katrins Po unter Wasser - ich rannte ins Bad. Katrins Augenbraue - ich rannte ins Bad. Meine Mutter wollte mich schon zum Arzt schleppen, weil ich ständig die Toilette blockierte. Ich erzählte von Durchfall und bekam zwei Tage lang nichts, als geriebenen Apfel, Zwieback und Banane zu essen. Aber wenn das der Preis für meine Fantasien war, dann zahlte ich ihn gerne.
Am Montag kam Katrin nicht ins Labor und ich sah sie auch nicht auf dem Flur. Beim Training war sie dann aber da. Basti und ich waren gemeinsam von der Schule zum Schwimmbad gejoggt. Viertel vor fünf standen wir außer Atem, aber in Bestform, in der Halle. Katrin zog fleißig ihre Bahnen zwischen den anderen Mädels. Sie trug diesmal einen Badeanzug, aber das änderte nichts daran, dass sich ein neues erotisches Bild in mein Gehirn einbrannte, als sie aus dem Wasser stieg. Ben nahm sie zur Seite und erklärte ihr was. Dabei legte sie ihre Hand scheinbar gedankenlos auf seinen Oberarm und lachte. Dann kam sie auf uns zu.
„Hi Jungs.“ Katrin winkte, obwohl sie direkt vor uns stand. „Viel Spaß. Ich muss unter die Dusche.“ Und schon war sie weg. „Ja. Viel Spaß!“, rief ich ihr hinterher. Dann beeilte ich mich ins Wasser zu springen.
Schon bei den ersten Kraulzügen zum Aufwärmen wusste ich: Basti hatte recht. Ich starrte auf seine Zehen, die vor mir im Wasser tanzten und wusste, er hatte recht. Katrin Morgentaler war nicht in mich verliebt. Das war unmöglich. Aber vielleicht, so hoffte ich, vielleicht würde sie sich einfach meines jugendlichen Körpers bedienen wollen, um die wilde Lust einer erwachsenen Frau zu stillen. Ich starrte ein Loch in Bastis Füße. Ich hatte das Gefühl, sein Grinsen durch die Fußsohlen sehen zu können. Ich versuchte nicht an Katrins Brüste zu denken und konzentrierte mich auf die monotonen Armbewegungen. Es funktionierte nicht.
An diesem Tag brach ich das Training zum ersten und einzigen Mal vorzeitig ab. Was ich auch versuchte - ich kam einfach nicht in meinen Schwimmmodus.
Am Dienstagnachmittag traf ich meinen Schwimmtrainer Ben vor unserer Schule und bekam eine erste Ahnung, was mit Katrin wirklich los war. Am Mittwoch beim Training sah ich, wie er zärtlich über ihren Unterarm strich und am Freitag holte Ben sie aus dem Keller ab und all meine Befürchtungen hatten sich bestätigt.
„Dreiundzwanzig. Ich kapier das nicht. Ben ist dreiundzwanzig. Ist das nicht irgendwie verboten oder so?“
Basti legte tröstend seinen Arm um meine Schulter.
„Ich hab doch gesagt: eine andere Liga.“
„Aber mal im Ernst: dreiundzwanzig. Ben könnte fast ihr Vater sein. Er ist unser Trainer. Im Grunde so was wie ein Lehrer.“ Ich wollte es verhindern, aber meine Stimme bekam unwillkürlich einen weinerlichen Klang.
„Manche stehen eben auf ältere.“
„Aber dreiundzwanzig!“
„Das sind gerade mal sieben Jahre.“
„Ja eben: sieben Jahre. Das ist doch nicht normal.“
Basti klopfte mir aufmunternd auf die Schultern.
„Hey - wir haben sie im Bikini gesehen und wir werden sie wieder im Bikini sehen. Und außerdem sind wir immer noch Forscherkollegen.“
„Forscherkollegen? Ach Scheiße!“
„Ja, Pete. Scheiße.“
Das nächste Mal sah ich Katrin in der folgenden Woche in unserem Labor wieder. Sie kam in Begleitung ihrer Freundin Lisa. Schon durch die Tür hörte man die beiden laut „Baby, we keep on smiling“ singen. Basti begrüßte sie mit seinem theatralischen Blick. „Bitte. Wer hört das denn noch?“
Die Mädels gaben sich einem Kicheranfall hin und ließen sich ihre gute Laune nicht verderben.
„Entschuldigung, bitte. Aber was versteht ihr denn von Musik?“, fragte Lisa. Katrin übernahm der Einfachheit halber die Antwort.
„Nichts, meine Liebe. Aber wir wollen uns hier unten ja auch nur der Forschung widmen. Der Forschung und nichts als der Forschung.“
Wieder prusteten beide los. Basti zuckte nur mit den Schultern warf mir einen hilflosen Blick zu. Ich beugte mich mit dem Zollstock über einen unserer Wasserbögen und trug die Ausdehnung in die Liste ein. Dann setzte ich mich zurück ans Schachbrett und täuschte angestrengtes Nachdenken vor. Katrin erklärte Lisa zuerst ihren Windkanal und danach unsere Wasserplatte. Basti ließ mich alleine sitzen und zeigte ihr den genauen Aufbau. Lisa stellte ein paar Fragen, ließ dabei deutlich erkennen, dass sie all das nicht sonderlich interessierte und verabschiedete sich. Basti verließ den Raum mit ihr, um etwas zum Trinken zu holen.
Ich war mit Katrin alleine. Ich bohrte meinen Blick auf das Schachbrett und versuchte dabei aus den Augenwinkeln zu erkennen, was sie machte. Ich glaubte zu erkennen, dass sie sich mit dem Rücken an ihren Arbeitstisch lehnte. Ich konnte nicht ganz sicher sein, aber es schien, als sehe sie zu mir rüber. Mein Puls begann anzusteigen, so dass man das Pochen in meinen Schläfen wahrscheinlich sogar sehen konnte. Ich drehte meinen Kopf nur für eine winzige Millisekunde und zuckte sofort wieder zurück. Katrin sah mich direkt an.
„Peter. Ich muss mit dir reden.“
Ich schob meinen Bauern ein Feld voran und warf ihn damit sinnlos Bastis Pferd zum Fraß vor. Dann drehte ich mich zu Katrin.
„Klar. Was ist?“
Katrins Lächeln war ein wenig gequält.
„Es ist mir ein bisschen peinlich.“
Bong. Bong. Bong. Meine Schläfen puckerten dermaßen deutlich, dass ihr das einfach auffallen musste. Aber Katrin blickte zu Boden.
„Also. Du und ich…“, begann sie.
Ich sprang auf, ging zu unserer Wasserplatte und drehte den Hahn zu. Ich wusste selbst nicht genau warum. Katrin blickte mich entgeistert an.
„Ääh, das Plätschern.“, stammelte ich. „Das nervt.“
Katrin lächelte verständnisvoll.
„Was ich sagen will. Wir beide sind doch mittlerweile sowas wie Freunde, oder?“ In ihrem Blick lag fast so etwas wie Hoffnung.
„Klar“, hörte ich mich sagen.
„Es ist wegen Ben“, rückte sie heraus. „Ich brauche deinen Rat. Du kennst ihn doch ein wenig besser, oder?“
Ich hätte mir am liebsten wie ein kleines Kind mit beiden Händen die Ohren zugehalten, aber ich nickte nur.
„Ich hoffe, Du findest mich nicht kindisch, aber…weißt du, ob er eine Freundin hat? Ich meine, wir verstehen uns wirklich gut und wir waren am Freitag sogar im Kino. Aber ich hab das Gefühl, das ihn irgendwas blockiert. Weißt Du, wie ich meine?“
„Nein“, stammelte ich.
„Na, ich weiß eben nicht, ob er bereit ist, sich auf was Festes einzulassen, verstehst Du?“
„Nein“, sagte ich noch einmal. „Nein. Er hat keine Freundin.“
In Katrins Gesicht gingen mit einem Schlag alle Lampen an. Sie strahlte mit voller Leuchtkraft.
„Echt nicht? Bist du ganz sicher?“
„Ja“ sagte ich und quälte mir ein Lächeln ins Gesicht.
„Oh Mann. Das sind fantastische Neuigkeiten, Pete. Fantastisch.“ Sie hüpfte mit zwei Schritten durch den Raum und schloss mich in die Arme. Ihr Haar duftete nach einer Mischung aus Aprikose und Wildblumen. Ihre Wange war weich wie Seide und ihre Brüste drückten mit deutlicher Spannung an meinen Oberkörper. Ich stand einfach nur da und atmete tief ein.
„Na hier wird wohl für Fackeln im Sturm geprobt, oder was“, hörte ich Basti, der plötzlich in der offenen Tür stand. Katrin wandte sich von mir ab und strahlte in seine Richtung.
„Besser, Basti. Viel besser.“ Sie blickte sich noch einmal um, winkte mir zu, hüpfte durch dieTür und war verschwunden.
Skeptisch blickte Basti zu mir.
„Oder doch nicht?“.
Ich schüttelte den Kopf.
„Denver-Clan. Oder Falcon Crest oder sowas.“
Basti reichte mir eine Fanta und setzte sich ans Schachbrett.
„Falcon Crest? Na du kennst Sachen.“
Ich nahm einen Schluck und lächelte.
„Wir sind jetzt Freunde.“
Basti atmete geräuschvoll aus.
„Ey? Wer hat das Wasser abgestellt?“
Ich schloss die Augen. Es roch nach Aprikose.
Wachsen
Die Wochen bis zu den Sommerferien verbrachte ich mit Schule, Schwimmen und Schach. Immer öfter saß ich auch alleine im Keller, denn Basti hatte sich von Sandra getrennt und investierte all seine überschüssige Energie in Lisa. Manchmal war ich dann auch mit Katrin allein. Wir führten lockere Gespräche über dies und das, und immer wieder auch über ihre Beziehung mit Ben und wie gut alles lief und wie dankbar sie mir war und so weiter. Ich kam erstaunlich gut damit klar. Letzten Endes hatte Basti doch recht gehabt: im Bikini gesehen hatte ich sie. Das konnte mir keiner nehmen. Genau wie die Erinnerung an das Gefühl ihrer Brüste durch den Pullover oder den Geruch ihres Haares. Ab und an bekam ich einen leichten Stich in der Herzgegend, wenn ich mir vorstellte, was hätte sein können, aber ich war weit von dem entfernt, was ich von einem echten Liebeskummer gelesen und erwartet hatte. In meinen Träumen schloss Katrin die Kellertür immer noch von Innen ab, aber in der Wirklichkeit kam ich mit der Rolle des Kumpels ganz gut zurecht.
Die Episode mit Katrin hatte außerdem zu echten Verbesserungen in meinem Alltag geführt. Niemand fiel mehr in dunklen Gängen über mich her, niemand tuschelte hinter meinem Rücken und ich absolvierte mittlerweile auch mal ein Gespräch mit einem Mädchen, ohne mich wie ein vollkommener Trottel zu verhalten. Der Zauber, der mit ihrer Bekanntschaft begonnen hatte, blieb bestehen.
Dazu bemerkte ich im Sportunterricht, dass ich Rainer Seelemann mittlerweile um gut zwei bis drei Zentimeter überragte. Damit war ich offiziell zwar immer noch der zweitkleinste Zehntklässler der gesamten Schule, aber es war ein Anfang, der mir Hoffnung gab.
Kurz vor den Sommerferien stellte ich einen neuen Vereinsrekord über 100 Meter Delphin in meiner Altersklasse auf und hatte das Gefühl, gleich mehrere Zentimeter an einem Tag zu wachsen. Ben änderte meinen Spitznamen in Mini-Albatros und bot mir an, in den Sommerferien an einem zweiwöchigen Schwimmcamp an der französischen Mittelmeerküste teilzunehmen. Der Verein zahlte die Unterkunft und Verpflegung. Für uns blieben nur die Fahrkosten von je 80 D-Mark und ein bisschen Taschengeld.
„Frankreich. La France. Das ist das Land der Liebe.“, schwärmte Basti, der auch eingeladen war. „Überall kleine Mademoiselles, für die wir Liegestütze am Strand machen können.“
„Heißt es nicht Stadt der Liebe und geht es dabei nicht nur um Paris?“, wandte ich ein.
„Stadt, Land, scheißegal. Paris ist die Hauptstadt, also ist Frankreich auch das Land der Liebe, klar?“
„Und was ist mit der Arbeit?“
Basti grinste. „Ich hab schon mit Böttcher gesprochen. Er ist zwar nicht begeistert, aber so lange wir alles bis Ende August fertig haben, ist es ihm egal.“
„Aber wie sollen wir das schaffen? Alles auswerten und fünfzehn Seiten schreiben. Ich hab keine Ahnung, was wir überhaupt rausbekommen haben.“
„Ach das ist kein Problem. Wir beschreiben einfach, wie sich die Mäander entwickelt haben. Wann sie länger wurden und wann breiter und so was. Vornedran noch ein paar Zusammenfassungen und am Ende unsere Schlussfolgerung.“
„Und was ist unsere Schlussfolgerung?“
„Weiß ich auch nicht. Auf jeden Fall sowas wie die Ausbildung der natürlichen Wasserbögen zu unterdrücken, wie es bei Flussbegradigungen geschieht, erscheint uns als höchst unratsam.“
Ich starrte Basti mit offenem Mund an.
„Was ist? Das war von vorne rein unser Ergebnis. War dir das nicht klar?“
Und als ich mal wieder nichts sagte, nahm Basti mich in den Arm und rief laut „Vive la France!“
Als er zweieinhalb Wochen später braun gebrannt aus Südfrankreich zurückkam, war Basti nicht mehr mit Lisa zusammen, sondern mit Yvette. Ich hatte die vergangenen Wochen mit meiner Mutter im städtischen Freibad und alleine am Schreibtisch verbracht. Sie freue sich zwar über meinen Erfolg im Schwimmen, hatte meine Mutter erklärt. Leider ließen es aber weder unsere finanzielle Situation noch meine schulischen Leistungen zu, dass ich den Erfolg meiner Forschungsarbeit gefährde, indem ich mit irgendwelchen Fremden nach Frankreich fuhr. Außerdem freue sie sich auf ein paar freie Tage für uns beide. Sie übermittelte mir ihren Beschluss fast beiläufig beim Abendessen und ich kam nicht auf die Idee, daran zu rütteln. Als Basti und später Ben für mich auf die Barrikaden gehen wollten und beide sogar anboten, die Gebühr auf unbestimmte Zeit vorzustrecken, musste ich sie bremsen. Ich könnte ja auch im Freibad trainieren. Ich könnte anfangen, die Arbeit zu schreiben. Und schließlich schien die Sonne auch bei uns. Ben hatte es nicht verstanden und Basti war richtig sauer geworden.
„Dann bleib doch bei Mutti. Aber ich fahre, sag ich Dir. Ich fahre.“
Also war er gefahren und ich war hier geblieben.
Bei unserem Wiedersehen war von Groll nichts mehr zu spüren. Basti platzte gut gelaunt in mein Zimmer und war euphorisch wie eh und je.
„Das Land der Liebe, Pete. Ich hab’s dir gesagt. Sonne, Strand und l’amour française. Jetzt kann ich sterben!“
Ich lächelte und schloss die Tür hinter ihm.
„Das wolltest Du schon, nachdem wir Katrin Morgentaler im Bikini gesehen haben.“
„Ja stimmt. Aber was interessiert mich mein Geschwätz von vorgestern. Yvette…sie ist…na weisst Du…sie ist neunzehn. Sie weiß Bescheid, verstehst Du?“
„Na dann stirb’ lieber noch nicht. Wäre ja schade.“
Basti sah mich an, als wäre das das Lustigste, was ich je gesagt hätte.
„Ja, Mann. Das wäre verdammt schade. Ich kann noch so viel lernen. Ich muss noch so viel üben. Am liebsten würde ich jetzt gleich damit weitermachen.“
Er schürzte die Lippen zu einem Kussmund und stürzte sich in einer wilden Umarmung auf mich. Ich ließ mich aufs Bett fallen und schüttelte ihn lachend ab. Wir lagen einen Moment nebeneinander auf dem Bett, so dass unsere Blicke genau auf das Foto von meinem Vater und mir als Baby fielen.
„Dein Alter war ein ziemlich großer Mann, oder? Also sieht zumindest auf dem Foto so aus.“
„Er hat ein kleines Baby auf dem Arm. Da sieht jeder groß aus“
„Ich meine… guck doch mal die Hände an. Er hat echt große Hände.“
„Naja. Er war Pianist.“
„Ja und wenn man Pianist ist, wachsen einem automatisch große Hände oder was?“
Ich betrachtete das Bild von dem feingliedrigen Mann, mit dem winzig wirkenden Baby auf dem Arm. Keine Ahnung, wie groß er war. Aber er blickte sehr ernst in die Kamera. Das fiel mir auf. Und das Baby auch. Mit den gleichen tief-schwarzen Augen. Fast schon feierlich. So als wüssten sie, dass dieses Foto, das einzige Bild von Vater und Sohn bleiben würde.
Basti rappelte sich auf.
„Wie war’s an der Heimatfront?“
„Gut. Es war wirklich gut. Ich glaube, es hat nicht einen Tag geregnet.“
„Ich mein doch nicht das Wetter. Ich mein: wie war’s? Was hast Du gemacht? Wie lief’s mit Mutti?“
Basti wusste, dass Mutti in unserer Familie ein Unwort war. Aber ich ging nicht darauf ein.
„Ich meine nicht nur das Wetter. Es war gut. Wir waren jeden Tag im Freibad. Ich hab mein Pensum absolviert. Wir haben Karten gespielt und Schach und sowas. Ich hab natürlich nicht einmal gewonnen.“
„Nichtmal Remis?“
„Nichtmal Remis.“
„Oh Mann. Ich muss mal gegen deine Mutter spielen.“
„Geh. Frag sie. Da kannst du auch was lernen.“
„Ach echt?“, grinste Basti und ich erahnte seine Gedanken.
„Boah, du hast echt ein massives Hormonproblem, weißt du das?“
„Absolut“, grinste Basti. „Und du? Was hast du mit deinen Hormonen so angestellt in den letzten Wochen?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Alles wie immer.“
In Bastis Abwesenheit hatte ich mit genau zwei weiblichen Wesen gesprochen. Das eine war meine Mutter und das andere war eine etwa vierzigjährige Frau, mit der ich beim Schwimmen zusammengestoßen war. Sie hatte gelächelt und mich ermahnt, ich solle nicht so stürmisch sein. Dann hatte sie mir zugezwinkert und war weitergeschwommen. Manchmal habe ich ein paar von Katrins Freundinnen am Volleyballplatz gesehen, ohne irgendein Wort mit ihnen zu wechseln. Katrin selbst war mit Lisa und ihren Eltern in einem Ferienclub auf Lanzarote. Volle sechs Wochen lang. Aber dennoch hatte ich die Tage genossen. Meine Mutter hatte frei. Wir spielten Sechsundsechzig, Rommé und Canasta und meistens eben Schach. Ich las Unterm Rad von Hermann Hesse und war ehrlich beeindruckt. Nicht nur, dass der jugendliche Held am Ende starb. Das kam mir sehr erwachsen vor. Es gab auch eine zarte, zumindest leicht erotische Szene, die mir sehr gefiel. Meine Mutter hatte mir das Buch gegeben und ich hatte das Gefühl, sie beobachtete mich beim Lesen. So als wollte sie testen, ob mich Liebe und Sex und Mädchen überhaupt interessierten. Es war peinlich von ihr so angestarrt zu werden, aber das Buch war trotzdem gut.