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An den Nachmittagen hatte ich mich an der Forschungsarbeit versucht. Meine Mutter hatte mir ein Programm gezeigt, mit dem ich aus unseren Tabellendaten, Grafiken erstellen konnte.
„Hey. Die sehen ja prima aus“. Basti klickte sich in unserem Wohnzimmer durch die Bilder. „Damit kriegen wir die fünfzehn Seiten locker gefüllt.“
Die restlichen Wochen der Sommerferien verliefen in etwa so, wie die ersten beiden, nur dass ich statt meiner Mutter nun Basti dabei hatte. Immerhin spielten wir jetzt ein paar mal Volleyball. Aber seitdem Basti mit Lisa Schluss gemacht hatte, war die Mädels-Gang nicht wirklich gut auf ihn zu sprechen. Wir blieben meistens für uns und hängten uns beim Schwimmen voll rein. Auch das Training am Nachmittag begann wieder und wenn wir danach an unserm Computer vor der JuFo-Arbeit saßen, war ich oft zu müde, auch nur eine Taste zu drücken. Glücklicherweise wusste Basti genau, was er schreiben wollte und wie er unsere Ergebnisse zu interpretieren hatte. Ich las einen Artikel über Mäander in einer Fachzeitschrift, fügte die Schaubilder ein und den Rest erledigte er. Am letzten Tag der Ferien, lag unsere Arbeit fix und fertig ausgedruckt vor uns. Regelmäßigkeiten bei der Ausbildung von Mäandern von Sebastian Reuscher und Peter Boltenhagen, Klassenstufe 10.
„Fünfzehn Seiten mit Literaturverzeichnis und Anhängen“, triumphierte Basti.
„Müssten wir mittlerweile nicht Klassenstufe 11 drauf schreiben, fragte ich?“
„Richtig, Pete“, freute sich Basti. „Wenn ich dich nicht hätte.“
Während er die Titelseite neu ausdruckte, beschlich mich das Gefühl, damit meinen wichtigsten Beitrag zu unserem Werk geleistet zu haben.
Der Regen bleibt
Das neue Schuljahr begann mit viel Routine, aber auch einigen Neuerungen. Trotz meines milde vorgetragenen Protests besuchte ich immer noch die Lateinklasse, um irgendwann das große Latinum zu erreichen. Latein war eines der Themen, über das meine Mutter nicht mit sich reden ließ. All meine Hoffnungen ruhten auf Basti und den Reclam-Übersetzungen, die wir bei Klassenarbeiten auf dem Klo deponierten.
Chemie hatte ich abwählen dürfen. Immerhin. In Physik hatten wir weiterhin Herrn Böttcher, so dass ich mit einer sicheren Drei am Jahresende rechnen konnte. Mathe war kritisch wie immer, aber mit ein bisschen Fleiß würde ich schon durchkommen.
Frauen hingegen waren das Thema, das mir wirklich Sorgen machte. Katrin Morgentaler war tief gebräunt aus ihrem Urlaub zurückgekommen. Trotz der brutalen Wochen der Distanz, wie sie erzählte, war sie immer noch mit Ben zusammen und dieses Jahr endlich zur Schülersprecherin gewählt worden. Den Schwimmunterricht hatte sie wieder aufgegeben. Er ließ sich wohl doch nicht so günstig mit Volleyball verbinden. Da wir auch nicht mehr im Keller zusammen hockten, sahen wir uns kaum noch, aber waren immer noch befreundet. Sie winkte mir im Schulflur zu und ich nickte mit einem Lächeln zurück. Ich war nicht mehr in sie verknallt und unsicher, ob ich es jemals wirklich gewesen war. Nach wie vor turnte sie mit und ohne Bikini durch meine Träume und machte dort ziemlich spannende Sachen mit mir. Das schon. Aber die Realität war nun mal die Realität.
Wenigstens hatte sich mein Körper endgültig für die Idee des Wachsens begeistern lassen. Badehosen, Turnschuhe und alles was sonst noch unbedingt nötig war, wurden durch größere ersetzt. Leider standen Shirts und Pullover nicht auf der Prioritätenliste meiner Mutter ganz oben, so dass ich oft wie ein Clown durch die Gegend lief, bis Basti mir aushalf. Im Sportunterricht standen mittlerweile eine ganze Reihe von Jungs zwischen mir und Rainer Seelemann, dessen Wachstumsprozess offenbar bei 1,70m sein Ende gefunden hatte. Dazu gab es kein einziges Mädchen mehr, das größer war als ich. Tanja Hofmann war vielleicht genau so groß. Aber ich wirkte um einiges größer als sie. Wenn ich mich selbst irgendwo in einer Scheibe sah, erschrak ich jedes Mal. Ich sah tatsächlich aus wie sechzehn. Wie ein ganz normaler Teenager. Das Tolle daran war: alle um mich herum schienen das auch zu sehen. Die Mädchen ließen bei der Begrüßung ein kleines Lächeln aufblitzen und manche der coolen Jungs klatschten mich sogar ab. Das Blöde daran war: ich nahm mir die Rolle selbst nicht ab. Ich war unsicher, wie ich mit wem sprechen sollte und vor allem worüber. Ich fragte mich andauernd, was die anderen über mich dachten. Und ich war vollkommen planlos, wie ich ein Mädchen dazu bringen konnte, mich endlich von meiner schmerzhaften Unberührtheit zu erlösen. Da ich keine Strategie hatte, unternahm ich in dieser Hinsicht einfach gar nichts, hoffte auf ein Zeichen des Himmels oder die Hilfe von Basti.
Wie Basti es vorhergesehen hatte, war Herr Böttcher begeistert von unserer JuFo-Arbeit. Oder besser gesagt von Bastis Arbeit.
„Damit haben wir reelle Chancen auf den Landeswettbewerb, vielleicht sogar auf den Bundeswettbewerb. Dieser Bezug zu den Flussbegradigungen ist geradezu genial. Überall Hochwasser - da kommt so eine Arbeit genau zur richtigen Stunde.“
Böttcher war in der Pause auf dem Schulhof auf Basti und mich zugestürmt. Wir standen in Sichtweite der Raucherecke und von dort drehten sich einige Köpfe in unsere Richtung. Böttcher schrie fast vor Begeisterung.
„Ha. Und das Bundesfinale ist dieses Jahr auch noch in Köln. In Köln. Direkt am Rhein.“
Basti beugte sich verschwörerisch nach vorne und lotste Herrn Böttcher in Richtung Hauptgebäude.
„Wissen Sie, Herr Böttcher. Wir hatten da noch so eine Idee.“
Während wir uns von den grinsenden Oberstufenschülern entfernten, schlug Basti vor, wir könnten doch noch einen zweiten Versuchsaufbau starten. Statt Brett würden wir diesmal eine Art Sandkasten bauen.
„Den könnten wir mit Erdreich füllen, wie bei einem echten Flussbett. Und dann machen wir noch eine Testreihe.“
Böttcher dachte nach.
„Das ist ein wenig aufwändig, aber gut. Und für den Wettbewerb wäre es sehr anschaulich. Sehr gut. Das machen wir. Prima, Sebastian. Prima, Peter.“
Anerkennend klopfte er uns auf die Schultern und hätten wir nicht auf dem Schulhof gestanden, wäre er uns vermutlich um den Hals gefallen.
„Wahnsinn, was wir so für Ideen haben“, sagte ich zu Basti, als wir eine Woche später neben dem neu gebauten Sandkasten standen. Basti hatte für unsere Forschungsarbeit schnell eine Seite eingefügt, dafür bei den Grafiken wieder gekürzt und schon hatte unsere Arbeit einen handfesten Bezug, zur Hochwasserproblematik, die seit vergangenem Frühjahr das ganze Land beschäftigte.
„Du hast es gehört“, grinste Basti. „Wir sind echte Genies. Der Wettbewerb kann kommen.“
Der Regionalwettbewerb Junge Forscher fand im Casino genannten Speisesaal des lokalen Opel-Werkes statt. Mit Stellwänden und Tischen waren in dem riesigen Raum sieben Gänge geschaffen worden, in denen nebeneinander die Teilnehmer jedes Wissensgebietes auf den Besuch der Jury warteten. In Biologie, Physik, Mathematik, Chemie und Technik quetschten sich in jeden Gang zwölf Projekte. Bei Arbeitswelt waren zwei Tische frei. In unserem Gebiet Geo-und Raumwissenschaften sah es genau umgekehrt aus. Insgesamt traten nur drei Projekte an. Ein neunzehnjähriger Nerd, der ein eigenes Teleskop gebaut hatte und überall Fotos vom Mond an seinem Stand hängen hatte, ein ebenso altes Geschwisterpaar, das über Fossilien im Hunsrück forschte und wir. Auch wenn es nur zwei Konkurrenten waren - ihre professionell wirkenden Stände, die Fragestellungen, über die ich noch nie nachgedacht hatte und ihr bloßes Alter, machten starken Eindruck auf mich.
„Wir sind die jüngsten“, raunte ich Basti zu, während wir den mitgebrachten Sand eimerweise in unsere Kiste schütteten.
„Ja“, lächelte er. „Sehr gut.“
Auch Herr Böttcher schien allerbester Laune, als er unsere Konkurrenz sah. Fast so, als hätte er alles genau so erwartet. Ich war dennoch nervös. Es war schon peinlich genug, mit einer Streberarbeit in einer Halle voller Streber an seinem Streberstand rumzustehen. Ich wollte nicht auch noch gegen die Streber verlieren.
Als wir aufgebaut hatten, machten wir einen Rundgang durch den Saal. Das machte mich noch nervöser. Überall gut gekleidete junge Menschen mit ebenso gut klingenden Themen: Strom aus Aluminium. Fluoreszierenden Algen. Antibiotika-Resistenzen. Das klang alles viel wichtiger als als Regelmäßigkeiten bei der Ausbildung von Mäandern.
Mitten im Gewühl entdeckten wir Katrin. Ihr Stand war mit Abstand der schönste von allen. Sie war mit Abstand die Schönste von allen. Sie stand hinter einer ausgestopften Eule und unterhielt sich mit einem jungen Mann im Anzug. Sie wirkte vollkommen ruhig. Nicht anders, als bei uns im Keller. Wir winkten kurz hin und her, dann kehrten Basti und ich zu unserem Stand zurück. Wir waren als erste dran.
Den Vortrag, den wir der Jury lieferten, hatten wir genau abgesprochen. Basti hielt eine kleine Einleitungsrede, in der er alles über Mäander zusammenfasste, was man wissen konnte. Er sprach sogar von ihrem Vorkommen als Muster auf byzantinischen Vasen. Mein Job war es, unseren Versuchsaufbau zu erklären. Das waren alles technische Dinge: wie lang das Brett war, welche Winkel wir einstellen konnten, welchen Wasserdruck und so weiter. Gleich im ersten Satz fiel mir das Wort Mäander nicht mehr ein. Ich stockte, wurde still, meine Schläfen pochten wie wild und schließlich sagte ich. „Bögen“. Es war absurd, dass mir ausgerechnet dieses Wort entfiel. Aber offenbar konnte sich niemand in der Jury ernsthaft vorstellen, dass ich unser Thema vergessen hatte und so erntete ich verständnisvolles Lächeln überall.
Basti übernahm den langen Teil mit den Ergebnissen und Schlussfolgerungen. Danach stellte ich kurz und ohne Zwischenfälle unseren neuen Versuch mit dem Sandkasten vor und Basti referierte abschließend zu Flussbegradigungen und Hochwasser. Nach fünfzehn Minuten von Basti und fünf von mir, waren wir fertig.
Die Juroren lächelten auf ihre Klemmbretter und jeder machte sich schweigend Notizen. In die Stille hinein fixierte mich der Vorsitzende, ein etwa Fünfzigjähriger, der aussah wie Lothar de Maizière und fragte:
„Und warum haben Sie das alles gemacht?“
Ich wurde knallrot.
„Warum?“ wiederholte ich.
De Maizière lächelte aufmunternd.
„Ja. Warum? Was war ihr Antrieb?“
„Na die Wissenschaft voran bringen natürlich“, sprang Basti ein und erntete dafür tatsächlich Lacher der beiden weiblichen Jury-Mitglieder. Aber de Maizière ließ nicht locker.
„Ich meine, wie fing das denn an? Wie haben Sie Ihr Thema gefunden?“
Sein Blick war eindeutig auf mich gerichtet. Er wollte, dass ich antwortete. Auch die Damen blickten jetzt zu mir. Böttcher blickte zu mir. Und selbst Basti schien nicht zu wissen welche Antwort an dieser Stelle erwartet wurde. Also sagte ich: „der Regen.“
De Maizière zog überrascht und ein wenig verwirrt die Augenbrauen hoch.
„Der Regen?“
Ich nickte. „Wir waren auf dem Weg zum Training. Also, zum Schwimmen. Wir gehen in den gleichen Schwimmklub, den KSK. Und es regnete…“
Ich weiß nicht woher die Worte kamen, aber als ich einmal angefangen hatte, erzählte ich der Jury die ganze lange Geschichte, inklusive aller Nebensächlichkeiten und einiger Ausschmückungen. Dass wir im gleichen Haus wohnten zum Beispiel und deswegen immer zusammen mit dem Bus fuhren. Dass wir Musik gehört hätten. Was ja stimmte, auch wenn es nicht unser Walkman war. Dass im Bus eine alte Frau mit Pudel saß. An dieser Stelle hatte ich das Gefühl, Basti wollte mich unterbrechen. Aber ich redete einfach weiter. Wie wir gemeinsam die Tropfen auf der Scheibe beobachtet hätten, obwohl Basti eigentlich die Augen geschlossen hatte. Ich beschrieb in blumigen Worten, wie unsere Neugier erwachte und erklärte unsere Begeisterung für die Tropfen mit unserer Liebe zu Wasser im Allgemeinen, schließlich seien wir Schwimmer. Dazu erfand ich noch eine Großmutter, deren Keller voll gelaufen sei, durch die wir auf das Thema Hochwasser gekommen wären. An diesem Punkt geriet ich ins Stocken, denn mir fiel ein, dass die Jury das möglicherweise überprüfen könnte und ich verstummte. Wieder war es sehr still. Ich sah zu Basti. Sein Mund stand offen und er blickte mich mit einer Mischung aus Schreck und Belustigung an. Ich blickte zu de Maizière. Auch sein Mund stand offen. Ganz langsam jedoch verzogen sich seine Mundwinkel zu einem Schmunzeln. Dann lächelten auch die Frauen. Wieder notierten alle irgendwas auf ihren Klemmbrettern und es gab keine weiteren Fragen.
Als wir abends beim Italiener saßen, zu dem Katrins Eltern auch Herrn Böttcher und uns eingeladen hatten, stand ich immer noch voll im Bann der Ereignisse des Tages. Um mich herum prosteten sich alle zu und gratulierten sich gegenseitig. Ich saß nur da und hielt mich an meinem Glas Sekt fest, dass es zur Feier des Tages gab. Ich fühlte mich, als wäre ich nur um Haaresbreite einer Katastrophe entgangen. Der einzige Überlebende eines Schiffbruchs. Das Gefühl war beängstigend, aber auch gut. Ich war hier. Ich war heil. Wir hatten’s gepackt.
Basti legte zum x-ten Mal den Arm um mich und flüsterte mir zu:
„Wir haben gewonnen, Pete. Gewonnen.“
„Ich weiß“, flüsterte ich zurück.
Basti nahm den Kopf ein wenig zurück und blickte mir forschend ins Gesicht.
„Du siehst aber nicht so aus, als ob du das wüsstest.“
„Es ist nur…“, fing ich an. Dann blickte ich Basti in die Augen und musste unwillkürlich grinsen. „Ich dachte, ich hab’s verkackt, Mann. Ich dachte, mit dieser bescheuerten Geschichte hab ich uns alles versaut.“
Basti strahlte.
„Quatsch, Mann. Die fanden die Geschichte obergut. Die beiden Wasserratten aus dem Hochhaus auf dem Weg durch den Regen. Wegen dieser geilen Geschichte haben wir überhaupt gewonnen. Du hast es nicht verkackt. Du hast es gebracht, Mann.“
„Meinst Du?“, fragte ich und grinste noch mehr.
„Na klar. Das war authentisch. Da gab’s Plattenbau, Musik und sogar ne abgesoffene Omma. Das war the real shit. Auf sowas stehen Akademiker.“
„Ja“, sagte ich. „Das war cool“. Und in dem Moment spürte ich, wie etwas von mir abfiel. Druck oder Stress oder was-weiß-ich. Ich fühlte mich leichter und größer und stärker und schaffte es endlich, mich einfach nur zu freuen. Freuen über unseren Sieg. Freuen über die Anerkennung. Freuen über meine verrückte Geschichte.
„Und beim Landeswettbewerb erzählst du die Story gleich nochmal“, lachte Basti.
„Aber nicht, das mit der Oma?“, fragte ich erschrocken.
„Unbedingt das mit der Oma. Diesmal kriegt sie noch einen lustigen Namen, einen ulkigen Hut und ein chronisches Rückenleiden dazu. Und aus dem Regen machen wir ein Gewitter.“
„Nein“, lachte ich. „Finger weg vom Regen. Der Regen bleibt.“
St. Peter-Ording, Dienstag, 3. August 2010
Nachdem Sie in unserer Sitzung am Vormittag auf so viele Details meines Berichtes eingegangen sind, möchte ich gerne zugeben, dass ich vielleicht an manchen Stellen ein bisschen was hinzugedichtet habe. Also nicht wirklich erfunden oder so. Aber ob ich jeden Satz genau so gesagt habe oder ob Katrin Morgentaler vielleicht etwas mehr nach Pfirsich gerochen hat, als nach Aprikose, das weiß ich nicht mehr genau.
Aber ich weiß, dass Sie Ihren Job gut machen, Frau Doktor. Ich will mich nicht einschmeicheln. Es ist mehr weil - Sie haben sich überhaupt nicht in die Karten gucken lassen. Das finde ich gut. Ich kann wirklich nicht sagen, ob Ihnen jetzt gefällt, was Sie da gelesen haben oder nicht. Ob es uns vorwärts bringt oder nicht. Ob ich so weiter machen soll oder nicht. Sie lassen das erstmal so stehen. Wertfrei. Das ist professionell.
Aber meine Mutter. Das hat Sie interessiert. Das habe ich dann doch bemerkt. Ob ich mich ihr damals nah gefühlt habe? Ob ich mich ihr jetzt nah fühle? Was sie mir bedeute? Das haben Sie gefragt. Darüber wollen Sie mehr wissen.
Aber ich fand das jetzt nicht aufdringlich. Sie haben ganz selbstverständlich gefragt. Ganz natürlich. Und es war OK, dass ich nicht geantwortet habe. Sie lassen mich machen. Ich hab keine Ahnung, ob Sie das aus einem Lehrbuch haben oder so. Aber für mich ist das gut.
Natürlich wollen Sie mehr darüber wissen, wie ich hierher gekommen bin. Das ist mir klar. Warum Maja mich als vermisst gemeldet hat. Also… meine Freundin. Das wusste ich ehrlich gesagt gar nicht, bis Sie es gestern erwähnt haben. Aber natürlich, wenn einer einfach so verschwindet. Obwohl ich ihr ja diese Nachricht geschrieben habe, dass alles in Ordnung sei. Aber vielleicht hat sie das nur noch mehr verwirrt. Bitte erzählen Sie ihr irgendetwas Tröstliches. Irgendeine Diagnose. Sie kann das alles gar nicht verstehen. Aber ich kann ihr das auch nicht erklären. Also nicht jetzt. Wobei ich eigentlich dachte, Maja hätte etwas gemerkt. An dem Abend als ich den Brief bekommen habe. Und sie uns im Treppenhaus getroffen hatte. Mich und den Hasen.
Am 30. Juni kam ich ziemlich spät nach Hause. Ich war gegen 7:30 Uhr zur Arbeit gefahren, hatte die erste Hälfte des Tages lesend, die zweite schreibend verbracht und die Kanzlei um 19 Uhr verlassen. Um 19:30 stand ein Abendessen mit Dr. Lang und seiner Frau an. Maja hatte keine Lust auf ein „getarntes Arbeitsessen, bei dem ich Beate unterhalten soll“ und mir schon Wochen zuvor abgesagt. Meinem Chef erzählte ich erst am Abend etwas von plötzlichem Unwohlsein. Er war ganz offensichtlich enttäuscht, fügte sich aber mit einem kraftlosen Kopfnicken und einem Seitenblick auf seine Frau in sein Schicksal.
„Die Gesundheit ist das allerwichtigste“, flötete Beate Lang übertrieben heiter über den Tisch. „Gerade in Majas Alter ist es für eine Frau besonders wichtig, auf die Zeichen des Körpers zu achten. Wer weiß, was er euch sagen will… euch beiden.“ Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu und ich rang mir ein gequältes Lächeln ab. Gut, dass Maja nicht mitgekommen war.
Dr. Lang blickte entrückt in Richtung Tür, hob entschuldigend die Schultern und während er im Verlauf der Konversation auf seinem Stuhl langsam immer kleiner wurde, wuchs seine Frau stetig in Richtung Zimmerdecke.
Am Ende gehörte ihr der ganze Abend. In Ermangelung eines anderen Ansprechpartners erzählte sie mir alles über die Erfüllung, die ihr die Mutterrolle gebracht hatte, wie schwer - aber auch lehrreich - es gewesen sei „loszulassen“ und wie sehr sie sich wünsche, möglichst bald Großmutter zu werden. Je mehr Wein sie trank, desto lauter wurde sie und weil ich aus vergangenen Treffen wusste, dass das für alle Anwesenden unangenehm enden könnte, bemühte ich mich, sie mit gezielten kleinen Fragen zum Weiterreden zu bringen, wann immer sie zum Glas greifen wollte. Dr. Lang unterstützte mich, indem er einen großen Teil des für Beate so gefährlichen Rebensaftes während ihrer Monologe, mit bewundernswerter Opferbereitschaft höchstselbst vernichtete. Wie immer arbeitete er konzentriert, effektiv und gründlich. Den ganzen Abend hindurch sprach er nicht mehr als drei oder vier Sätze. Als mich die beiden zum Abschied übermütig an die jeweilige Brust zogen, fühlte er sich deutlich wackliger an als sie. Sein Blick war trüb. Es fiel ihm schwer mir in die Augen zu sehen. Doch das Lächeln um seine Mundwinkel bedeutete mir, dass er zufrieden mit uns beiden war. Ich hatte mir brav alles über Stoffwindeln, Milchstau und Homöopathie angehört, er hatte seine Niere gründlich durchspült und niemand war unter Heulkrämpfen in den Ficus gestürzt oder rückwärts im Springbrunnen gelandet.
Ich kam in einer eigenartig melancholischen Stimmung zu Hause an. Möglich, dass auch ich mehr getrunken hatte, als mir gut tat, aber es lag auch an Beates Auftritt. Sicher - Beate war schräg und exzentrisch. Beate war alt und frustriert. Beate war dekadent und unverschämt reich. Aber sie tat mir leid. Ihre Trauer über die verlorene Mutterrolle war echt und berührte mich. Ihre Kinder waren weg und Beate hatte ihre Lebensaufgabe verloren. Und nach zwanzig Jahren zu Hause, hatte sie keine Idee, was als nächstes kommen könnte.
Natürlich musste ich dabei an Maja denken. Maja tat mir auch leid. Sie hatte zwar unbestritten sehr viele Ideen, was sie mit ihrem Leben anfangen könnte, aber mehr als alles andere, sehnte sie sich nach dem, was Beate verloren hatte. Sie wollte ein Kind.
Nur ich wollte nicht. Ich kann nicht so genau benennen warum. Natürlich werden Sie als Fachfrau meine Vaterlosigkeit als Erklärung anführen. Tun Sie das ruhig. Ich glaube, das ist es nicht. Wenn es einen Zusammenhang gibt, dann eher den, dass beides keine übermäßig große Rolle für mich gespielt hat. Ich hatte keinen Vater. Ich hatte kein Kind. Ich will gar nicht sagen, dass mir ein Vater nie gefehlt hätte. Aber eine Tochter oder ein Sohn haben mir bisher tatsächlich nie gefehlt. Ich glaube, man kann ein fehlendes Elternteil nicht durch ein Kind ersetzen.
Aber es gab noch etwas, was zwischen mir und einem Kind stand. Also, einem Kind mit Maja. Ich wollte mir das nie eingestehen, weil es so lächerlich klang. Aber ich hatte eben dieses starke Gefühl, dass ich vorher noch etwas erledigen musste. Ich musste mir Gewissheit verschaffen. Über mich. Über den Sommer 95. Ich musste hierher kommen. Auf die Bank. Auf den Deich. Wo sie mich gefunden haben. Und an dem Abend, am 30. Juni, wurde mir das endlich klar.
Ich betrat also spätabends unser Treppenhaus, holte die Post aus dem Briefkasten und begann meinen Aufstieg ins Dachgeschoss. Zwischen Werbeprospekten und offiziell aussehenden Schreiben fiel mir ein handgeschriebener Brief auf. Ein schmuckloser weißer Umschlag ohne Absender. Adressiert war er an mich. Im Innern befand sich ein sauber gefalteter Zettel. Ich faltete ihn auf und las die kurze Nachricht, die aus einem Datum und einem Imperativ bestand: „28. 7. 2010 - Komm!“.
Während ich das Treppenhaus hinaufstolperte, drehte ich das Blatt drei oder viermal hin und her, aber das war alles. Also - nicht, dass mir diese Nachricht nicht ausgereicht hätte. Ich verstand sehr gut. Aber wer von den beiden hatte den Brief geschickt? Liv? Oder Paco? Und warum anonym?
Ich wollte mir den Umschlag gerade genauer ansehen, da öffnete sich zu meiner Rechten eine Wohnungstür. Ich war so in meine Gedanken versunken, dass ich erschrak. Einen kurzen, unheimlichen Moment lang schien es mir, als wären alle Geräusche im Treppenhaus mit einem Schlag verschwunden. Die Türöffnung wurde immer größer und wie in Zeitlupe trat ein Schatten auf die Schwelle. Dann kehrte der Sound zurück, das Tempo zog an und mit einem großen Satz landete der Hase direkt vor mir auf beiden Füßen, rollte sich über die linke Schulter ab und setzte sich auf die Stufen nach oben. Sein Oberkörper pendelte von links nach rechts, er blickte mir direkt in die Augen und ich sah, dass er am Rande einer Panik stand.
„Peter!“, rief er. „Bist du Peter??“
Ich war so erschrocken, dass ich nichts anderes sagen konnte als „Ja.“ Er starrte mich an. Ich starrte ihn an. Er schien nicht wirklich zu begreifen. Also beugte ich mich zu ihm runter und sagte so sanft wie möglich: „Peter. Ich bin Peter.“
Das funktionierte. Die Gesichtszüge des Hasen entspannten sich. Er lächelte. Ich lächelte. Dann sprang er mit einem Satz auf die Beine und nahm mich in den Arm.
„Peter“, flüsterte er kaum hörbar in mein Ohr. Und dann noch einmal wie zu sich selbst „Peter“. Dann bückte er sich urplötzlich und hob die Nachricht auf, die aus dem Umschlag gefallen sein musste. Mit einem kleinen Sprung war er zurück in seinem Türrahmen und hielt mir den Zettel hin. Als hätte er ihn gelesen sagte er nur: „Komm.“
In seiner Küche versuchte mir der Hase in seiner üblichen pendelnden Sitzhaltung zu erklären, was geschehen war. Er mache seit einigen Monaten eine Therapie. „Doktor ist nicht zufrieden“, erklärte er. „Doktor sagt, muss ich loslassen im Kopf. Aber ich verstehe nicht. Wie kannst du lassen, was ist in dir drin? Wenn du lässt, ist immer noch in dir drin, oder?“