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Im Wagen lächelte ihn eine ihm unbekannte junge Zeitungsleserin freundlich an, und der junge Mann neben ihr, der seine Nase in das Blatt seiner Nachbarin gesteckt hatte, nickte ihm zu und hob anerkennend den Daumen. Kuhn fragte sich, ob die freundliche Atmosphäre am ungewöhnlich milden Wetter lag, oder ob die Zürcher ein ausnehmend gutes neues Jahr erwarteten, was bei der aktuellen Weltlage doch eher überraschend gewesen wäre. Wahrscheinlich war er in der falschen Stadt aufgewacht.
Als er in das Gebäude der Kantonspolizei an der Zeughausstrasse eintrat, fand er die Erklärung für seinen Publikumserfolg. An der inneren, gläsernen Tür des Hauseingangs waren Ausschnitte aus zwei Zeitungen aufgeklebt. Das war zwar nicht der übliche Ort, um Informationen anzuschlagen, doch Kuhn nahm an, dass es Berichte über ein Gewaltverbrechen waren, mit dem ihre Truppe sich in den nächsten Tagen herumzuschlagen hätte. Er zog die Brille aus der Brusttasche, trat näher und las mit Erstaunen die Schlagzeile auf der Titelseite von «20 Minuten»: Zürcher Kriminalkommissar rettet Stripperin vor Randalierer. Darunter zeigte ein Foto, wie er seine Faust auf den Arm des Mannes schlug, der die Tänzerin festhielt. Auf den Text konnte er verzichten. Das Bild im «Sonntagsblick» war peinlicher. Es zeigte, wie die halbnackte Lulu an seinem Hals hing und ihn auf den Mund küsste. Den Kommentar zu dieser Szene wollte er erst recht nicht lesen. Nach kurzem Zögern verzichtete er darauf, den Anschlag wegzureissen. Diese Genugtuung durfte er seinen Kollegen nicht bieten. Hingegen überlegte er, wo er sich Belegexemplare der Artikel besorgen könnte. Da er frei hatte, konnte er in aller Ruhe die zwei Zeitungen am Bahnhof holen. Doch diesen Gang konnte er sich sparen. Als er seine Mappe im Büro ablegen wollte, fand er die Blätter auf seinem Schreibtisch mit einer kurzen Notiz der Sekretärin seiner Abteilung: Bravo, Paul! Alles Gute zum neuen Jahr, Helen.
Kuhn sah sich die Bilder in Ruhe an. Die zwei Aufnahmen waren von verschiedenen Standorten im Lokal aufgenommen. Entweder hatte ein Paparazzo sich jeweils den besten Blickwinkel für seine Aufnahme ausgesucht, oder gleich mehrere Handyfreaks hatten zugeschlagen. Kuhn störte, dass auf dem Foto mit Lulus Kuss sein Körper neben dem feingliedrigen Mädchen massiger aussah, als er es war, und andererseits sein respektabler Körperbau neben den beeindruckenden Muskeln des Rausschmeissers, der im Hintergrund ins Bild geraten war, nicht zur Geltung kam. Er schüttelte missbilligend den Kopf. «Kaum steht mein Bild in der Zeitung, werde ich eitel – doch das passiert auch vielen anderen.» Er legte die Blätter in die unterste Schublade seines Schreibtischs.
Während er mit einem Kaffee und einem Brötchen sein verpasstes Frühstück nachholte, wurde er von zwei Kollegen auf den Zwischenfall der vergangenen Nacht angesprochen. Zu seinem Erstaunen brachte er es zustande, auch etwas zum längeren Gespräch beizutragen, das sich daraus entwickelte. Das war ihm schon lang nicht mehr passiert. Er genoss es, in seiner täglichen Umgebung einmal die Fühler aus seiner Schneckenschale hinauszustrecken.

Auch in den folgenden Tagen erntete Kuhn mehr Beachtung als üblich. Viele Kollegen musterten ihn freundlich, andere mit einem hämischen Grinsen. Einige wagten es sogar, ihn auf das Intermezzo im Striplokal anzusprechen, und wieder gelang es ihm, ein wenig zu plaudern.
Am Dienstag zitierte ihn die Chefin in ihr Büro und hielt ihm schweigend das Bild mit Lulus Kuss unter die Nase. Frau Hofmann hatte die Zeitungsseiten konfisziert, die am Eingang hingen, wie Kuhn aus den Klebstreifenresten in den Blattecken schliessen konnte. Er machte sich darauf gefasst, einen Rüffel einzufangen, verzichtete aber auf eine vorschnelle Verteidigung und schwieg.
Endlich brach seine Vorgesetzte das Schweigen: «Das haben Sie sehr gut gemacht!» Sie nickte ihm anerkennend zu, fügte dann aber einschränkend bei: «Ich meine Ihr Eingreifen, nicht die Schmuserei! Zugegeben, Sie haben die Fotografen wohl nicht hinbestellt und können somit nichts für die Publizität, doch ich muss Sie bitten, sich bei ihrem nächsten privaten Ausgang ins Milieu etwas diskreter zu verhalten. Die Stadtpolizei wurde hinreichend mit Zeitungsartikeln eingedeckt über Polizisten, die in solchen Lokalen mehr als nur Kontrollen durchgeführt haben sollen. Für unser Korps verzichte ich gern darauf.»
Kuhn war versucht, Frau Hofmann zu versprechen, dass er nie mehr Frauen zweifelhaften Rufes zu Hilfe eilen werde, egal in welcher Notlage sie sich befinden mochten, doch wahrscheinlich hatte die Chefin es nicht so gemeint.
Da Kuhn keine Anstalten machte, etwas zu sagen, fragte Frau Hofmann endlich: «Will die Tänzerin Anzeige erstatten, und haben Sie die Personalien des Mannes aufgenommen?»
«Die Personalien habe ich, aber Lulu – äh, die Tänzerin – verzichtet auf eine Anzeige. Der Testosteronhammel hat sich entschuldigt und zusammen mit seinen Freunden eine beachtliche Genugtuung geleistet.»
«Umso besser! Dann betrachte ich diese Angelegenheit als erledigt.» Als Kuhn aufstand, um zu gehen, hielt sie ihn mit einer Handbewegung zurück. «Ich habe noch etwas mit Ihnen zu besprechen. Morgen kommt eine neue Praktikantin zu uns, Laura Crameri, Bürgerin von Poschiavo, aufgewachsen in Chur, Studium der Kriminalistik in Lausanne – aber das können Sie alles im Lebenslauf nachlesen.» Frau Hofmann drückte ihm das Dossier in die Hand. «Frau Crameri will den direkten Einstieg bei uns versuchen. Ich weiss, dass Sie lieber allein arbeiten, aber das Praktikum dauert ja nur sechs Monate, und das werden Sie wohl durchstehen. Wie dem auch sei, ich möchte, dass Sie diese vielversprechende junge Frau unter ihre Fittiche nehmen. Sie gehen ja leider bald in Pension und es wäre schade, wenn Sie Ihre reiche Erfahrung nicht weitergeben würden.»
Kuhn schluckte leer. Die Chefin hatte den Auftrag zwar in ein hübsches Kompliment eingewickelt, aber er hatte dennoch das Gefühl, er sei eine Strafe für seine nächtliche Eskapade. «Ich kann wohl nicht ablehnen. Ich hoffe nur, die junge Mitarbeiterin kommt mit mir zurecht. Ich will mir Mühe geben. Wann fängt Frau … Crameri an?»
«Morgen früh. Tut mir leid, dass ich Sie so spät informiere. Ich war über die Feiertage auswärts und habe die Mitteilung erst heute bei meiner Rückkehr vorgefunden. Frau Crameri wird sich bei Ihnen melden. Vielen Dank für Ihre Zusage.»
2
Pünktlich um acht Uhr klopfte Laura Crameri an die Tür und stellte sich als die Neue vor. Kuhn sah sich seine zukünftige Assistentin genau an. Sie war gross, schlank und sehnig – fast wie Aisha, fuhr es ihm durch den Kopf. Vielleicht war sie sogar eine passable Nahkämpferin, nur ihre elegante Ausstattung, bestehend aus einer weissen Seidenbluse, grauen, engen Jeans und schwarzen Stiefelchen mit hohen, breiten Absätzen war nicht für einen handfesten Einsatz geeignet. Aber heute ging es ja nicht um eine Auseinandersetzung, sondern um ein Vorstellungsgespräch. Ihr langes, schwarzes Haar, das längliche Gesicht und die dunklen Augen mit schweren Lidern erweckten den Eindruck, sie sei melancholisch und etwas reserviert, doch während Kuhn sie so unverblümt musterte, verzog sich ihr grosser Mund zu einem breiten, fröhlichen Lachen. Sie drehte sich um, hob eine Hüfte, stützte die Hand mit gespreizten Fingern darauf ab und fragte neckisch: «Muss ich mich ausziehen?»
Kuhn nahm an, dass sie auf seine Einlage im Striplokal anspielte, über welche seine lieben Kollegen sie bestimmt schon informiert hatten, und reagierte entsprechend: «Lieber erst nach der Arbeit.» Er reichte ihr die Hand: «Paul Kuhn. Freut mich, Sie kennen zu lernen, Frau Crameri. Ich hoffe, wir kommen miteinander aus. Ich gelte als mürrisch und verschlossen – Sie sind bestimmt schon vorgewarnt worden.»
«Ich habe nur mit Frau Hofmann gesprochen, und sie hat gesagt, Sie seien der erfolgreichste Kommissar im Haus, nicht immer einfach, aber sehr korrekt. Zudem bin hier, um zu arbeiten und nicht um mich streicheln zu lassen. Wenn wir schon dabei sind, ich muss Sie auch warnen: ich bin keine Plaudertasche, aber wenn ich etwas sagen will, so sage ich es klar und deutlich – manchmal zu deutlich.»
«Das passt mir ausgezeichnet.» Kuhn zögerte. Er hatte sich nie Kaffee ins Büro bringen lassen und auch noch nie für jemanden welchen geholt. Für diese, ihm auf Anhieb sympathische junge Frau wollte er eine Ausnahme machen. «Zuerst möchte ich Ihnen erklären, welche Fälle ich im Moment bearbeite. Das wird etwas Zeit in Anspruch nehmen, und wir könnten dabei Kaffee trinken. Wie nehmen Sie ihn?»
«Wenn möglich einen Espresso mit viel Zucker, aber ich möchte nicht, dass Sie ihn mir servieren. Gehen wir ihn zusammen holen – gibt es hier eine Cafeteria oder einen Automaten?»
Während sie den Kaffee tranken, versuchte Kuhn, etwas mehr über seine neue Mitarbeiterin zu erfahren. Ausser bei Verhören hatte er nicht oft mit Leuten über ihre persönliche Situation gesprochen und hatte Mühe, einen unverfänglichen Einstieg zu finden. «Sie haben einige Jahre in Lausanne studiert, Ihren Churer Dialekt aber beibehalten. Fahren Sie regelmässig nach Hause?»
«So oft wie möglich verbringe ich das Wochenende bei meinen Eltern und treffe mich mit Freunden zum Skifahren – wenn es dieses Jahr überhaupt noch Schnee gibt. Im Sommer machen wir Bergtouren. Von Lausanne aus ist mir die Reise zu weit gewesen, und ich habe mich mit dem Wallis begnügen müssen – ist ja auch ganz nett. Aber von Zürich aus werde ich natürlich wieder heim nach Graubünden fahren – falls ich jemals ein freies Wochenende habe.»
Kuhn war erleichtert, dass seine Gesprächspartnerin auf die Arbeit zu sprechen kam und nahm das Thema gern auf. «Wenn kein besonders anspruchsvoller Fall vorliegt, liegt das durchaus drin. Und da wir schon von der Arbeit reden, möchte ich Ihnen kurz erklären, wie ich unsere Zusammenarbeit sehe. Von der Ausbildung her ergänzen wir uns bestens. Sie sind Kriminalistin, also eher wissenschaftlich-technisch orientiert und auf dem neuesten Stand. Ich hingegen habe in Zürich vor vielen Jahren Strafrecht studiert und alle verfügbaren Kurse in Kriminologie und Psychologie besucht. Vieles von dem, was ich damals gelernt habe, mag inzwischen überholt sein. Dafür habe ich eine langjährige praktische Erfahrung. Technisch bin ich im Rückstand – vielleicht zeigen Sie mir nachher gleich einmal, wie mein neues Handy funktioniert.» Kuhn machte eine hilflose Handbewegung und nahm dann den Faden wieder auf: «Ich möchte Sie nicht zu kurz an die Leine nehmen und lasse Sie selbständig arbeiten und Ihren Ideen nachgehen. Natürlich diskutieren wir fortlaufend alles unter uns und bestimmen das weitere Vorgehen gemeinsam.»
Laura nickte zustimmend: «Ich könnte mir nichts Besseres wünschen.»
«Gut, dann schauen wir uns die offenen Fälle an. Viele sind es nicht. Wir haben im Moment eine angenehme Flaute. Dieses Jahr hat es in den trauten Familien über die Feiertage erstaunlich wenig Mord und Totschlag gegeben.» Kuhn holte zwei Aktenbündel von seinem Schreibtisch und legte sie auf den Tisch. «Was ziehen Sie vor, Körperverletzung oder Vergewaltigung?»
Laura wühlte unschlüssig mit den Fingern in den Haaren, doch bevor sie antworten konnte, klingelte das Telefon.
«Kuhn?» Der Kommissar hörte aufmerksam zu und bestätigte: «Ich – wir sind schon unterwegs.» Er stand auf und bedeutete seiner neuen Kollegin mit einer Handbewegung mitzukommen: «Schiesserei mit einer verletzten Polizistin und einem toten Polizisten.»
Der Vorfall auf dem Bellevue hatte den Verkehr ins Stocken gebracht und bereits weit zurückgestaut. Kuhn fuhr deshalb mit Blaulicht über den Paradeplatz und die Bahnhofstrasse zum Bürkliplatz. Dort wies eine Polizistin ihn an, auf den Tramgleisen über die Quaibrücke zu fahren, was er auch ohne Einladung gemacht hätte. Die Schiesserei hatte sich gleich neben dem grossen runden Brunnen auf dem seeseitigen Teil der Verkehrsinsel und auf dem breiten Trottoir am See ereignet. Die Tatorte waren mit rot-weissen Bändern abgesperrt. Unter den Platanen standen vier Polizeiautos und eine Ambulanz, und Kuhn stellte seinen Wagen daneben ab. Die Polizei hatte genügend Platz für ihren Einsatz und deshalb die Strasse nicht sperren müssen. Der Stau war wegen der vielen Gaffer entstanden, welche die Strassen verstopften. Zudem wurde der Verkehr durch die Autofahrer verlangsamt, die in der Hoffnung, eine Leiche zu sehen, im Schritttempo am Tatort vorbeikrochen. Verkehrspolizisten versuchten, den Verkehr in Fluss zu halten und die Fussgänger auf den Sechseläutenplatz und die umliegenden Trottoirs zurückzudrängen.
Als Kuhn und Laura ausstiegen, schoben Sanitäter eine Bahre in die Ambulanz, und die Spurensicherung war damit beschäftigt, den Tatort zu vermessen und zu fotografieren. «Die basteln wieder so eine technisch ausgeklügelte, dreidimensionale Rekonstruktion des Tatorts. Bald müssen wir den Schauplatz eines Verbrechens nicht mehr persönlich in Augenschein nehmen», spöttelte Kuhn. «Gehen wir zur Ambulanz. Ich kenne den Stadtpolizisten, der dort steht. Er ist wahrscheinlich der Vorgesetzte der beiden Streifenpolizisten und sollte wissen, was vorgefallen ist.» Er trat zu dem Beamten und streckte ihm die Hand hin. «Paul Kuhn von der Kantonspolizei. Wir haben uns schon früher getroffen. Sie sind Korporal Mayer, wenn ich mich recht erinnere. Darf ich Ihnen meine Kollegin Laura Crameri vorstellen?» Der Angesprochene nickte nur knapp, und Kuhn versuchte, ihn auf den Boden zurückzuholen. «Was ist hier passiert?»
Korporal Mayer war zu erregt, um höflich zu antworten, und schrie die beiden entnervt an: «Zwei Schweine haben einen meiner Polizisten erschossen und seine Streifenkollegin schwer verletzt. Das ist passiert!» Er wandte sich ab, als ob er schon alles gesagt hätte, was es zu sagen gab.
Kuhn zwang sich, ruhig zu bleiben. «Tut mir leid! Und wie hat sich das abgespielt? Wir müssen das wissen – das gehört nun einmal zu unserem Beruf.»
Mayer kam zu sich. «Natürlich, entschuldigen Sie mich! Ich bin völlig durcheinander. Die Leiche meines jungen Kollegen ist soeben abtransportiert worden. Peter Wicki war ein feiner Kerl.» Er schluckte leer und sagte dann entschuldigend: «Seiner Kollegin, Gabi Locher, wurde in den Bauch geschossen. Sie haben sie notfallmässig versorgt und soeben in die Ambulanz verladen. Sie sollte so rasch wie möglich ins Spital. Ich kann Ihnen sagen, was ich von ihr erfahren habe.»
Kuhn nickte, und der Korporal bedeutete dem Fahrer der Ambulanz, er könne fahren. Der Wagen verschwand mit heulenden Sirenen Richtung Kantonsspital.
«Hoffentlich ist sie nicht lebensgefährlich verletzt!» Lauras Wunsch war gleichzeitig eine Frage.
«Der Notfallarzt glaubt, dass sie gute Chancen hat. Bauchverletzungen sind heikel, aber wenigstens wird sie rasch behandelt. Sie ist vor weniger als einer halben Stunde angeschossen worden.»
«Und wie ist es dazu gekommen?», fragte Kuhn zum dritten Mal, doch er musste sich noch ein wenig gedulden, weil soeben Staatsanwalt Bürki am Tatort eintraf. Kuhn war froh, dass er den Fall übernahm. Bürki war unkompliziert und liess den Ermittlern freie Hand. Kuhn informierte den Juristen über die Sachlage, und forderte dann Mayer mit einer Handbewegung auf, seinen Rapport zu erstatten.
Mayer berichtete, dass Peter Wicki und Gabi Locher vom Bahnhof Tiefenbrunnen herkommend auf der Theaterstrasse stadteinwärts fuhren. Da fielen ihnen drei Männer auf, die sich beim Brunnen auf der Verkehrsinsel anschrien. «Gabi hat mir die drei so gut wie möglich beschrieben. Einer ist mittelgross und kräftig gebaut. Der hochgewickelte Schal, eine Wollmütze und Sonnenbrille haben leider Gesicht und Haare unkenntlich gemacht. Der Zweite ist älter, rundlich, mit schütterem grauem Haar, und der Dritte ein Knirps mit einer altmodischen Dächlikappe und einer dieser verspiegelten Sonnenbrillen … Unsere Leute sind daran, die Passanten zu befragen. Vielleicht haben wir danach eine bessere Beschreibung.»
Kuhn wunderte sich, dass ein erfahrener Polizist noch derartige Illusionen hegte, unterliess aber eine diesbezügliche Bemerkung.
Der Korporal fuhr in seinem Rapport weiter und erzählte, dass die beiden glaubten, einer der Männer halte die Hand in der Jackentasche, als ob er eine Waffe ziehen wolle, und sie wollten nachsehen, was im Gang war. Während Wicki den Wagen vor der Coop Filiale auf dem Trottoir abstellte, stieg seine Kollegin aus und wollte die Strasse überqueren. Noch bevor sie auf der Traminsel angekommen war, traf sie ein Schuss in den Bauch. Sie taumelte, schaffte es gerade noch von der Strasse wegzukommen und fiel zu Boden. «Mehr weiss Gabi nicht, denn sie ist in Ohnmacht gefallen», schloss Mayer den ersten Teil seines Berichts. «Glücklicherweise, bin ich versucht zu sagen, denn so musste sie nicht mitansehen, wie ihr Kollege gestorben ist. Das Folgende habe ich von zwei Zeugen erfahren, und Sie wissen ja, wie zuverlässig die sind.»
Kuhn stellte befriedigt fest, dass Mayer nicht so naiv war, wie er ihn vorhin eingeschätzt hatte.
«Immerhin sind sich die beiden Zeugen in allen Punkten einig», fuhr Mayer fort und fasste deren Aussage kurz zusammen. Die Männer standen vor der Espressobar an der Theaterstrasse und konnten zumindest den Anfang des Dramas aus ziemlicher Nähe beobachten. Sie waren auf die drei Streitenden aufmerksam geworden, bereits bevor die Polizei eintraf. Nach ihren Angaben ging alles sehr rasch vor sich. Nachdem die Polizistin wenige Meter von den Streitenden entfernt zu Boden gefallen war, flüchtete der kleine Mann, der ohne Vorwarnung geschossen hatte. Kaum war der Schütze verschwunden, riss der massige Kerl dem älteren Mann die Aktenmappe aus der Hand, rannte zu einem dunkelgrün metallisierten BMW 320, der neben der Bushaltestelle drüben an der Seepromenade wartete. Inzwischen war der zweite Polizist aus dem Wagen gestürzt und rannte dem robusten Mann nach, der die Tasche geraubt hatte. Er erreichte den Fluchtwagen, bevor dieser starten konnte, zog die Waffe und zielte auf den Fahrer. Dann fiel der Schuss.
Für diese Szene, die sich nahe am Seeufer abgespielt hatte, gab es wenige Zeugen. Bis jetzt hatte sich nur eine Grossmama gemeldet, die mit ihren Enkeln auf dem Seequai einen Spaziergang gemacht hatte. Sie hatte sich darüber aufgehalten, dass jemand so unverschämt auf dem Trottoir parkierte, und dem Fahrer einen bösen Blick zugeworfen. Sie versicherte, er sei ziemlich klein und habe dunkles, krauses Haar. Als drüben auf der Verkehrsinsel der erste Schuss fiel, machte sie sich mit den Enkeln schleunigst aus dem Staub, blickte dann aber nochmals zurück und sah, wie ein zweiter Mann in den wartenden Wagen einstieg und im selben Moment der Polizist auftauchte und auf die Insassen zielte. Wer aus dem Wagen geschossen hatte, konnte sie nicht sehen.
Andere Zeugen mussten noch befragt werden. Mayer konnte bloss Vermutungen anstellen: «Ich nehme an, Wicki hat die Insassen aufgefordert auszusteigen und einer der Insassen hat sofort auf ihn geschossen.» Der Korporal verstummte. Nach einer Weile fuhr er grimmig fort: «Wicki ist mitten in die Stirne getroffen worden, aber wir sollten den Mörder bald erwischen. Die Waffe ist seltsamerweise kurz nach der Schussabgabe aus dem Wagen geworfen worden – auf der Fahrerseite! Weshalb hat sich der Täter seiner Waffe entledigt?»
«Interessante Frage …» Kuhn ging nicht weiter darauf ein und erkundigte sich stattdessen: «Haben Sie die Fahndung nach dem Fluchtwagen schon ausgelöst?»
«Natürlich. Ich habe übrigens vergessen zu sagen, dass Zeugen behaupten, die Nummer sei ZH und die erste Zahl eine Drei gewesen. Der Wagen ist zu schnell stadtauswärts gerast, als dass sie die ganze Nummer hätten lesen können.»
«Immerhin, Sie haben recht gute Zeugen erwischt. Ein seltener Glücksfall – falls wirklich zutrifft, was sie erzählt haben», schränkte Kuhn kritisch ein. Dann kam er auf einen Punkt zu sprechen, der ihn beschäftigte: «Mich wundert, dass auch der Bestohlene spurlos verschwunden ist. Wahrscheinlich ging es um ein unsauberes Geschäft, und er kann es sich nicht leisten, uns davon zu erzählen. Was denken Sie, Laura?»
«Ja, seltsam. Vielleicht ist eine Drogenübergabe, Geldwäsche oder Übergabe von Erpressungsgeld schiefgelaufen.» Sie zögerte kurz, bevor sie den Stadtpolizisten fragte: «Haben Sie sich erkundigt, ob heute dort drüben in der UBS Filiale etwas Ungewöhnliches vorgefallen ist?»
«Auf alle Fälle hat die Bank keinen Alarm ausgelöst. Eine Bankangestellte ist nach der Schiesserei zu uns gekommen und hat sich erkundigt, was passiert sei. Von einem Überfall hat sie nichts erzählt. Darum habe ich nicht weiter nachgefragt», entschuldigte sich Mayer.
«Ich dachte nicht an einen Überfall. Es wäre ziemlich ungewöhnlich, wenn sich Räuber bereits vor der Tür der überfallenen Bank um die Beute streiten würden. Ich frage mich vielmehr, ob kurz vor dem Zwischenfall ein grösserer Betrag abgehoben worden ist.» Laura wandte sich an Kuhn: «Einverstanden, Herr Kuhn?»
Nach ein paar Minuten kam sie enttäuscht zurück. «Nichts! Keine grössere Summe ist abgehoben oder deponiert worden. Die Angestellten sind sich sicher, denn vor dem Zwischenfall waren nur wenige Kunden an den Schaltern, und nach dem ersten Schuss haben sie die Filiale geschlossen, bis die Polizei eingetroffen ist.»
«Nun, einen Versuch war es wert» bemerkte Kuhn tröstend.
«Ich bin in Eile und muss Sie allein lassen. Vor einer halben Stunde sollte ich ein Verhör beginnen», entschuldigte sich der Staatsanwalt. «Im Moment kann ich ohnehin nichts tun und überlasse den Fall Ihnen, Herr Kuhn. Ich weiss, dass ich mich auf Sie verlassen kann, und Ihre neue Mitarbeiterin scheint auch auf der Höhe zu sein.» Er nickte Laura anerkennend zu und fügte bei: «Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden.»

Es war zwar Samstag, doch Laura und Kuhn waren an der Arbeit. Die tödliche Schiesserei am Bellevue war zu wichtig, als dass sie das Wochenende hätten frei nehmen können. Laura sass am Computer und versuchte, etwas über die aus dem Fluchtauto geworfene SIG-Pistole zu erfahren, während Kuhn an die Decke starrte, ohne zu erklären, woran er herumstudierte.
Laura räusperte sich: «Darf ich Sie stören? Das Fluchtauto ist gefunden worden.» Sie erklärte Kuhn, was sie aus der eben erhaltenen Mitteilung erfahren hatte. Am Vortag war ein Brand im Wald am Zollikerberg ausgebrochen. Das Feuer hatte sich schon weit ausgebreitet und war schwer zu löschen. Erst am Morgen fanden die Feuerwehrleute einen völlig ausgebrannten BMW, von dem der Brand wahrscheinlich ausgegangen war. Es dauerte ein Weilchen, bis jemand auf die Idee kam, es könnte sich um das zur Fahndung ausgeschriebene Fluchtauto handeln.
Laura hob bedauernd die Schultern. «Die Kollegen von der Spurensicherung glauben nicht, dass sie noch einen Fingerabdruck oder Material für eine DNA-Probe sicherstellen können. Hingegen haben sie den Besitzer des Autos ausfindig gemacht. Dieser Albert Strebel behauptet, sein BMW sei ihm zwischen Silvester und dem 4. Januar geklaut worden, während er bei seinem Bruder in Neuenburg zu Besuch war. Erst nach seiner Heimkehr hat er den Diebstahl bemerkt und der Polizei gemeldet. Es könnte stimmen, dass der Wagen gestohlen worden ist. Jedenfalls ist er kurzgeschlossen worden.»
«Und weshalb habe ich diese Mitteilung nicht erhalten?», erkundigte sich Kuhn.
«Das E-Mail ist an Sie adressiert. Ich habe nur eine Kopie erhalten.» Laura brachte es fertig, diese Richtigstellung in völlig neutralem Tonfall vorzubringen.
«Ich sollte wohl meine Mails regelmässiger ansehen.» Kuhn kratzte sich verlegen an der Stirn und wich geschickt auf sachliche Aspekte aus: «Den Besitzer laden wir vor. Vielleicht hat er seinen BMW selbst gefahren. Nachdem die Sache schiefgelaufen ist, ist ihm nichts anderes übrig geblieben, als ihn anzuzünden und als gestohlen zu melden. Das bietet uns vielleicht eine Möglichkeit, etwas über den Todesschützen zu erfahren.» Kuhn wiegte den Kopf. «Die wichtigste Spur ist immer noch die Waffe, die uns die Flüchtenden netterweise hinterlassen haben. Zuerst müssen wir wissen, ob der tödliche Schuss aus dieser Pistole abgefeuert worden ist oder ob die Täter eine andere Waffe zurückgelassen haben, um uns auf eine falsche Fährte zu locken.»