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«Das wäre raffiniert, aber sie konnten ja nicht im Voraus wissen, dass ihr Treffen derart dramatisch verlaufen würde. Die Waffe ist ein paar Sekunden nach der Schussabgabe aus dem Fenster geschmissen worden, und ich traue solch hirnlosen Gewalttätern einfach nicht zu, so rasch auf eine derart geniale Idee gekommen zu sein», wandte Laura ein. Kuhn nickte anerkennend und Laura fügte bescheiden an: «Meine Überlegung ist nicht so scharfsinnig, wie sie scheinen mag. Im Bericht der Spurensicherung, den Sie auch erhalten haben, steht nämlich, dass es sich um die Tatwaffe handelt. Die Kugel, die Wickis Schädel durchschlagen hat, ist daraus abgefeuert worden, und die am Tatort gefundene Hülse passt zu dieser Waffe. Es handelt sich um eine SIG P220, die als Offizierspistole in der Schweizer Armee verwendet wird.»
«Das kann uns weiterhelfen. Armeewaffen sind registriert, nur werden SIG-Pistolen jetzt ja in Deutschland fabriziert und auch privat verkauft.» Nach kurzer Überlegung kam Kuhn auf einen anderen Aspekt zu sprechen: «Eine Möglichkeit, an den Täter heranzukommen wäre, den Knirps mit Dächlikappe zu erwischen, der Gabi Locher angeschossen hat. Der kennt die anderen am Streit Beteiligten bestimmt. Vielleicht können wir ihn anhand des Geschosses ausfindig machen, das er der Polizistin verpasst hat. Haben die Ärzte die Kugel endlich aus ihrem Becken gegrübelt?»
«Auch das steht im Bericht. Das Geschoss und die sichergestellte Hülse entsprechen stiller Munition 7,62 x 41 SP-4, die in Russland für die Selbstladepistole PSS entwickelt wurde. Die Waffe kann ein KGB-Agent irgendwo auf der Welt hinterlassen haben. Sie gelangt oft von Afghanistan oder aus anderen Krisengebieten nach Europa, vor allem in den Balkan. Vielleicht kam der kleine Schütze von dort oder aus sonst einem Land im Osten.»
«Könnte zutreffen. Die altmodische Schildmütze, die er getragen haben soll, würde ja auch besser in den Balkan oder die Türkei passen als hierher. Das ist wenigstens eine Spur.» Kuhn zögerte danach zu fragen, aber Laura hatte eine diesbezügliche Mitteilung sicher schon gelesen und konnte ihm auch gleich den Inhalt erzählen. «Zurück zur Tatwaffe, der SIG: Was wissen wir über die Pistole?»
«Ich habe im Polizeinetz die Liste gestohlener Waffen durchgesehen. Die Nummer der Tatwaffe ist dort verzeichnet. Die Pistole ist 1995 während eines Wiederholungskurses der Panzerabwehrkompanie 36 in Aarau abhandengekommen.»
Laura hatte auch einen dazugehörigen Rapport gefunden und erklärte Kuhn, was damals passiert war: «Ein Leutnant hat seine Waffe in einem Restaurant vergessen, aber behauptet, sie sei aus seinem Zimmer entwendet worden. Deshalb sind alle in der Kaserne einquartierten Offiziere und Soldaten der Panzerabwehr und der Funker befragt worden. Das sind immerhin 235 Soldaten, 36 Unteroffiziere und 12 Offiziere», erklärte Laura leicht vorwurfsvoll, fügte dann aber befriedigt bei: «Ich habe sie alle durch die Mühle gedreht und zwei Personen ausfindig gemacht, die bereits zuvor mit der Polizei zu tun hatten. Der eine wurde 1994 wegen Diebstahls kurz festgenommen, der andere hat 1992 bei einer Schlägerei seinem Kontrahenten ein paar Knochen gebrochen.»
«Ich hoffe, dass wir nicht die ganze Mannschaft der zwei Kompanien belästigen müssen, aber bewahren Sie die Liste auf. Zuerst fühlen wir den zwei Vorbestraften auf den Zahn. Das ist zwar typisch Polizei: Vorbestrafte sind immer verdächtig, wenn irgendwo auf der Welt etwas geschieht. Aber wir können es uns nicht leisten, diese Spur nicht zu verfolgen.»
Laura nickte zustimmend. «Wir sollten ihre Fingerabdrücke mit denen auf der SIG vergleichen.»
«Moment, ich habe gemeint, die Pistole sei sorgfältig gereinigt worden und es gebe keine Prints.»
«Auch das steht in der Mitteilung», tadelte Laura mild. «Ich habe mich unklar ausgedrückt. Die Waffe selbst war sauber. Der Schütze muss Handschuhe getragen haben. Aber beim Laden hat er nicht daran gedacht und schöne Prints auf den Patronen hinterlassen!»
«… und Sie haben inzwischen bestimmt herausgefunden, wem sie gehören.» Kuhns Bemerkung war nicht spöttisch, sondern anerkennend gemeint.
Laura antwortete unbeirrt: «Sie sind vor zwanzig Jahren registriert worden und gehören einem gewissen Carlo Fischer.»
«Was wohl bedeutet, dass keiner der zwei möglichen Waffendiebe den tödlichen Schuss abgefeuert hat, oder dass der Name Carlo Fischer falsch ist», gab Kuhn zu bedenken.
«Letzteres könnte stimmen. Jedenfalls ist momentan kein Carlo Fischer in der Schweiz registriert», stimmte Laura zu, fügte aber an: «Immerhin existieren 53 Karl Fischer, und mancher Karl nennt sich heute Carlo, das scheint in Mode zu sein. Ich kenne auch einen.»
«Weshalb hat man die Fingerabdrücke von diesem Fischer genommen und bis jetzt nicht gelöscht?»
«Vielleicht sind die Prints aus der Datenbank entfernt worden, aber glücklicherweise ist eine Kopie davon im geschriebenen Rapport gelandet.» Laura fasste für Kuhn den Zwischenfall kurz zusammen: «Bei einem Einbruch in eine Zuger Villa im Februar 1997 ist die Bewohnerin niedergeschlagen und mittelschwer verletzt worden. Fischer ist als möglicher Täter festgenommen worden, aber die Fingerprints auf einem in der Villa zurückgelassenen Brecheisen sind nicht von ihm gewesen. So haben sie ihn laufen lassen. Ein paar Tage später hat ein Zeuge ausgesagt, Fischer in der Nähe des Tatorts gesehen zu haben, und die Polizei hat ihn nochmals vorladen wollen, ihn aber nicht mehr finden können. Seither ist er spurlos verschwunden.»
«Ich nehme an, es gibt kein Foto von ihm, sonst hätten Sie es mir gezeigt.»
«Stimmt leider. Die Polizei hat beim ersten Termin seine Befragung zwar protokolliert und seine Prints genommen, um sie mit denen auf dem Einbruchswerkzeug zu vergleichen, aber keine Akte angelegt.»
«Wäre ja auch zu schön gewesen.» Kuhn klopfte mit der Faust sanft auf den Tisch, dann schlug er vor: «Bis Montag können wir nichts Vernünftiges unternehmen. Wenn Sie noch Zeit haben, könnten Sie die Adresse der beiden vorbestraften WK-Teilnehmer heraussuchen und sie für eine Zeugenaussage vorladen. Dann machen Sie Feierabend. Schönen Sonntag!» Unter der Tür drehte er sich nochmals um: «Das meine ich ernst, Laura! Sie arbeiten intensiv, und daneben sollten sie das Leben geniessen.»
Sie lächelte verschmitzt. «Das tu ich bestimmt – mehr als ich meiner Mama erzählen möchte, da müssen Sie sich keine Sorgen machen.»
Kuhn zog die Tür hinter sich zu. Er hatte es unterlassen, seiner Kollegin zu erklären, weshalb er es plötzlich eilig hatte. Sein Vorhaben war privat. Er wollte schon früher im «Hot Chicks» vorbeigehen und mit Lulu reden, aber die Ereignisse der letzten Tage hatten ihn daran gehindert. Jetzt durfte er seinen Besuch nicht länger aufschieben. Er hatte das ungute Gefühl, das Mädchen brauche seine Hilfe. Er hoffte, die Tänzerinnen seien am späten Nachmittag am Üben und der Rausschmeisser abwesend. Das würde ihm erlauben, sich ungestört mit Lulu zu unterhalten.
Er hatte sich getäuscht. Vor dem «Hot Chicks» sass, breit wie er war, Karl Bickel bei einem Bier und zündete sich genüsslich eine Zigarette an. Anstelle seines eleganten Anzugs trug er Bluejeans und ein hautenges, dunkelblaues T-Shirt mit der giftgelben Aufschrift You better be careful. In Anbetracht der Muskelpakete, die sich durch den dünnen Stoff abzeichneten, war die Warnung ziemlich überflüssig. Die hervorstechendste Veränderung an Bickel war, dass er statt seiner lächerlichen Fliege nun einen dunklen Dreitagebart trug. Wenn er nicht vor der Tür des Lokals gesessen wäre, hätte Kuhn Mühe gehabt, ihn wiederzuerkennen – aber er sah immer noch aus wie ein Zuhälter und war wahrscheinlich auch einer.
Bickel begrüsste Kuhn freundlich: «Guten Abend, Herr Kommissar. Sie sind zu früh dran, wir haben noch nicht geöffnet.»
Kuhn versuchte, sich seine Abneigung nicht anmerken zu lassen und setzte ein verbindliches Lächeln auf: «Ich kenne eure Öffnungszeiten, danke. Ich wollte mich nur erkundigen, wie es Lulu geht. Ist sie zufällig hier?»
Der Kommissar hatte das Gefühl, der Rausschmeisser sei durch seine Nachfrage beunruhigt und überlege erstaunlich lange, bevor er antwortete: «Lulu ist leider abgereist. Sie ist heute früh aufgeregt ins Lokal gekommen und hat erzählt, sie habe ein fantastisches Angebot vom ‹Crazy Horse› in Paris erhalten, müsse aber sofort dort erscheinen. Sie hat ihre Sachen eingepackt und ist verschwunden. Wir sind wütend auf sie – vor allem Aisha, die heute dreimal auftreten muss.» Bickel zog missbilligend die Brauen hoch. «Ich habe eben Lulus Foto aus dem Aushang entfernt und verbrannt.» Er deutete auf ein paar verkohlte Papierfetzen in seinem Aschenbecher.
Kuhn war über das Verschwinden seines Schützlings beunruhigt. Vielleicht konnte er im Polizeinetz eine Spur von ihr finden. Dazu wäre ihm das Aushangfoto zustattengekommen, doch Bickel versicherte ihm, das verbrannte Exemplar sei das einzige Bild gewesen, das Lulu mitgebracht hatte.
Kuhn hatte den offiziellen Namen Lulus zwar gehört, liess sich zur Sicherheit aber den Namen Jamila Bassir buchstabieren. Während er ihn notierte, fragte er sich, weshalb eine Marokkanerin so fliessend deutsch sprach und erst noch mit Berner Akzent. Vielleicht hatte Lulu längere Zeit in Bern getanzt und den dortigen Dialekt angenommen.
Bickel konnte ihm dazu keine Auskunft geben, schien aber durch Kuhns Beharrlichkeit beunruhigt. Nervös zündete er sich eine Zigarette an, obwohl die vorherige kaum angeraucht im Aschenbecher lag.
Der Kommissar lenkte ab: «Vielleicht komme ich bald wieder zu Besuch – ist Aisha noch hier?»
«Ihr Engagement läuft noch weitere zwei Wochen. Wenn Sie möchten, können Sie am Morgen vorbeikommen. Sie trainiert jeden Tag von zehn bis zwölf Uhr – danach hätte sie bis zum Abend reichlich Zeit.» In Bickels Stimme schwang eine spöttische Note mit.

Am Montag entdeckte Kuhn in seinen E-Mails, die er nun regelmässig las, eine Mitteilung der Spurensicherung. Er überflog sie und amüsierte sich über die umständliche Formulierung gewisser Passagen: Betreffend den Fahrer des Fluchtwagens bestätigen verschiedene Zeugen, sie hätten durch das halboffene Fenster nur die Haare des Fahrers sehen können. Unter Berücksichtigung der Körpergrösse dieser Zeugen und ihrer Distanz zum Auto kann errechnet werden, dass der Mann circa 165 cm gross sein muss, plus/minus 5 cm, abhängig davon wie nahe er am Fenster sass und wie weit dieses offen stand. Die Berechnung stimmt in etwa mit der Angabe einer Zeugin zur Körpergrösse des Fahrers überein. Basierend auf der Annahme, der Beifahrer sei klein, dem genauen Standort des Fluchtwagens, dem Abstand zwischen Wicki und dem Auto, der Tatsache, dass das Fenster nur halb offen stand, der Körpergrösse des in die Nasenwurzel getroffenen Opfers und dem Einschusswinkel – angenommen Wicki nahm die bei gezogener Waffe typische Kopfhaltung ein – ergibt die 3D-Rekonstruktion, dass der tödliche Schuss mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht vom Fahrer, sondern vom Beifahrer abgefeuert wurde.
Kuhn schüttelte ungläubig den Kopf und druckte den mehrere Seiten langen Rapport mit unzähligen Fotos, Schemas und Formeln aus, malte mit rotem Filzstift drei Ausrufzeichen auf die Titelseite und legte das Dokument vor Laura auf den Tisch.
«Gratuliere, Sie lesen Ihre Mails doch!»
«Ja, seltsam, beim Eintreffen eines Mails ertönt jetzt ein akustisches Signal. Haben Sie das eingerichtet?»
Statt einer Antwort lächelte Laura verschmitzt, studierte den Bericht zum Tatort und bemerkte spöttisch: «Umwerfend! Im Welschen würde man sagen, on n’arrête pas le progrès! Kommt bloss noch darauf an, wie hoch die Mordwaffe gehalten wurde … Aber es macht Sinn, dass der Beifahrer geschossen haben soll. Wenn der Fahrer gezielt hätte, hätte Wicki die Waffe gesehen und sofort abgedrückt, oder sich wenigstens zu Boden geworfen. Aber solange wir weder Fahrer noch Beifahrer kennen, spielt das eigentlich keine Rolle.»
Den Rest des Morgens verbrachten die beiden damit, Phantombilder zu studieren, die gemäss den Aussagen der angeschossenen Polizistin und verschiedener Zeugen angefertigt worden waren. Die Bilder waren widersprüchlich. Gabi Locher musste man zugutehalten, dass sie die drei Männer nur kurz gesehen hatte, während sie die Strasse überquerte und dabei noch auf den Verkehr achten musste, und dass sie erst drei Tage nach dem Zwischenfall körperlich und geistig so weit hergestellt war, dass sie einen Beitrag zu den Phantombildern leisten konnte. Für die anderen Zeugen und deren Personenbeschreibungen gab es keine derartige Entschuldigung. Korporal Mayer hatte die nach den Angaben der verlässlich scheinenden Zeugen verfertigten Bilder mit einem Hinweis gekennzeichnet, und Kuhn sah sich diese zuerst an. Sie glichen einander einigermassen, wichen dafür von denen der Polizistin in manchen Details ab. Die anderen Phantombilder waren katastrophal. Man hätte glauben können, mindestens zwei Dutzend verschiedene Leute seien in den Streit verwickelt gewesen, und sieben von ihnen hätten geschossen. Die einzige Übereinstimmung bestand darin, dass der Mann, der die Aktentasche geraubt hatte, von kräftiger Statur war, und der Knirps, der zuerst geschossen hatte, eine verspiegelte Sonnenbrille trug. Bei seiner Mütze waren sich die Zeugen bereits uneinig, ob es eine Baskenmütze, Basketballmütze oder eine altmodische Schildmütze war.
«Völlig unbrauchbar!», grollte Kuhn. «Damit kommen wir nirgends hin. Hoffentlich kann uns einer der möglichen Waffendiebe etwas zur Tatwaffe sagen. Haben Sie die zwei Kandidaten erwischt?»
«Robert Hungerbühler habe ich am Samstag telefonisch erreicht. Er sollte um zwei Uhr hier sein. Erwin Schoch ist nicht leicht zu finden. Er hat keinen festen Wohnsitz und treibt sich auf der Strasse herum. Im Sozialamt haben sie mir nicht weiterhelfen können. Dafür kennen ihn die Leute von Yucca, einer kirchlichen Hilfsstelle, die auch Mahlzeiten ausgibt. Schoch erscheint dort jeden Abend zum Essen, und es gibt keinen Grund, dass er dies heute nicht tun sollte. Ich habe ihm ausrichten lassen, er soll morgen um zehn Uhr zu uns kommen. Ich wollte nicht so grausam sein, ihn schon auf neun Uhr zu bestellen.» Laura machte eine abschätzige Handbewegung. «Damit es uns bis dahin nicht langweilig wird, habe ich den Besitzer des BMWs, Albert Strebel, heute auf vier Uhr zu uns bestellt.»
«Bestens, da haben wir Zeit, in Ruhe essen zu gehen. Ich lade Sie ein. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, um Ihnen dafür zu danken, dass Sie mir die leidige Sucherei im Web abnehmen. Ich brauche immer eine Ewigkeit, bis ich mich zurechtfinde.»
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