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21. Oktober 2020
An wie vielen der herrlichen Tage dieses rosenblühenden Sommers hat das Schwinden der Hoffnung die Stunden verdüstert, den Lebenswillen verkürzt. Das dauernde Zucken in den Beinen, das auch durch Erhöhung des Anteils von dem Tablettensalat, der morgens zugereicht wird, nicht weichen will, reicht dann schon für die Verdüsterung. Wie froh, er und die Maschine aus Fleisch und Wasser liefen bis zum Abend. Reisedurstig ist man früher in den Tag aufgebrochen – warum schreibe ich immer »man«, wenn ich »Ich« meine –, und die Biomaschine aus Fleisch und Wasser lief bis zum Abend und machte selbst am Abend »noch einen drauf«. Also so eine Formulierung, die mir eben in den Schreibcomputer läuft, hätte man vor wenigen Jahren noch nicht aufs Papier gebracht. Man / Ich dachte immer sehr hoch von dem Wunderwerk, das der Mensch ist, aber nun, wo es dauernd heißt: »Sie müssen mehr trinken, mindestens zwei Flaschen am Tag«, lernt man anders begreifen. Das Selbstverständliche wird ungewiss, das Klare undeutlich. Das Gewisse fraglich, der Gang wackelig. Selbst mein Orthopäde, der hilfsfreudig Schmerzen im Bein mit Telefon-Diagnose wegkriegt. Formel: »Wasser trinken!« Es hilft, man muss aus solchen Stimmungs-Heimsuchungen erlöst werden, sonst trudelt man in die Abgründe herbeigedachter Selbstvernichtung hinab. Man hat dabei schnell ein ganzes Paket von Möglichkeiten, man malt sich aus, wie – vier Vorstellungen brennen in mir, ich wage sie nicht zu benennen. Der Sturz kopfüber, dass unten das Genick bricht, ist noch das Friedlichste. Da hat die Möglichkeit die Hoffnung, dass der Hals bricht. Es gibt wollüstige Gedankenspiele der Selbstvernichtung. Vorsicht mit den Wörtern, die das Ende hart benennen.
Thomas Bernhard brachte die »Selbstauslöschung« in Umlauf, er hat die Sünde aus dem Wort genommen, er hat selbst nah am Tod gewohnt. Wenn man ins Nachdenken kommt, was das Leben, was der Körper ist und die Regungen und Empfindungen in diesem Paket aus Fleisch und Wasser, kann man das Thema nicht länger unterdrücken. Es drückt sich hoch durch alle Fröhlichkeit. Warten wir, wann es kommt, wiederkommt. Es hat sein eigenes Erfolgsbedürfnis.
21. Oktober 2020
Ich war wieder auf der Strecke. Das sind die hundertfünfzig Meter vor meinem Haus nach links, leicht ansteigend, und zurück sind dreihundert. Wenn ich das viermal »auf drei Beinen« mache, habe ich gut tausend Meter, 1200 Schritte. Abends mache ich das mit Dumitru. Im Karree gehen ist eben mein Bewegungsraum. Allein wage ich’s nicht mehr. Wie entdeckten wir die Wege durch den Wald, als wir vor vierzig Jahren hierherzogen, liefen in die Taunusfelder, zwei, drei Stunden. In den Ferien im Schwarzwald einmal sogar sieben Stunden, oben in Saig, wo Benno Reifenberg, Friedrich Sieburg und der skurril wunderbare Herbert Küsel nach dem Krieg die anspruchsvolle Die Gegenwart machten, die später in der F.A.Z. aufging, weil deren Gründer Erich Welter unbedingt Sieburg einkaufen wollte. Die Weite der Wege bezeichnet noch die jeweilige Lebenskraft. Wie lange ging ich noch über das Viereck oben am waldnahen Sportplatz. Ich habe da Kraft geholt, Gedanken, Einsichten gefischt in die Geschichte. Wege schrumpften fast auf null, wie die Arbeit am Band. Der Weitblick von einst reicht noch für fünf geparkte Autos am Straßenrand.
Als ich also vorhin von der »Strecke« heimkam, dachte ich an den gestrigen Fernsehbericht über Magellan, den Seefahrer, der sich durch die wilden Wasser am Ende von Südamerika, wo die beiden Meere zusammenstoßen, durchbiss. Ich war mal da unten im Süden Chiles, Vortrag Goethe-Institut, über das neue deutsche Theater, es war in der Spitzenzeit von Peter Steins »Groß und klein« und »Orestie«. In Chile. Welche Strecke. In der Wand meiner Bücher vor mir steht Stefan Zweigs Biographie über Magellan. Wollte ich immer lesen. Ich habe so viel Ungelesenes mitzunehmen, wenn ich ins Jenseits abreisen muss. Ich trauere jetzt schon um meine Bibliothek. Sie enthält so viel Vergangenheit. Von Kin Ping Meh und Homer und Anaximander an und mit Hebbel, Ibsen, Strindberg ist es noch nicht zu Ende. Alles gesammelt, geordnet für den Ruhestand, der erst jetzt von den Augen erzwungen wird. Schleefs Tagebücher waren das letzte Satz- und Schmerzgebirge, das ich durchkletterte. Was war das letzte, was die Augen lasen? Nochmal »Frau Jenny Treibel« von Fontane. Auf dem Nachttisch liegt seit fünf Jahren Handkes »Tage und Werke«. Das Lesezeichen sagt nach zweieinhalb Seiten, hier könntest du weiterlesen. Es liegt nicht nur am Können. Wenn früher, als ich noch geselliger sein konnte, Besucher kamen, war immer die erste Frage: »Haben Sie das alles gelesen?« Ich sagte dann oft mit ernstestem Ton: »Natürlich nicht. Ich vertraue auf Osmose.« Das war nicht nur ein Scherz. Es gibt sowas. Man lebt mit Büchern zusammen und hat oft das Gefühl, ich weiß, was da drinsteht, obwohl man vieles noch nicht einmal durchblätterte. Anscheinend bin ich ein Sammler. Es gibt einen Bildungstrieb, der sich durch Sammeln befriedigt. Vielleicht bin ich so einer. Vierzig Bände Strindberg, die ganze lange Gelbe Reihe. Sicher bin ich so einer. Sicher hat mich auch das Theater der schönen und gelehrten Literatur entzogen. Als ich die Theaterintendanz in Frankfurt begann, da war ich noch jung, erst 61, und hatte mich in dem vornehmen Club in der Siesmayerstraße einzuführen in die Frankfurter Gesellschaft. Vortrag, Diskussion. Es wurde bald sehr belebt, denn Fassbinders »Der Müll, die Stadt und der Tod« war angekündigt. Ich wurde des Antisemitismus verdächtigt. Ein Satz hält sich in meiner Erinnerung. Er kam von Frankfurts zu rühmendem Buchhändler Cobet. Er war ein fast übergelehrter Mann. Er konnte sich nicht enthalten zu konstatieren, ich sei »partiell dumm«. Ich konnte ihm nicht widersprechen. Mich hat ein Leben lang das Verlangen nach mehr an Tun und Wissen, nicht nach Geld getrieben. Mich treiben die Defizite. Ich sah vor mir immer zu begehende Strecken. Ich denke an Magellan. Die meine beträgt jetzt viermal dreihundert Meter, zweimal täglich. So nimmt man auch Tabletten.
23. Oktober 2020
Kurz nach zwei heut Nacht hat mich wieder die Wut gepackt: kein Wecker hat das bisher vermocht. Der jetzt zum fünften Mal. Freilich nicht kurz nacheinander, mit einwöchigen Ruhepausen dazwischen, also anscheinend kalkuliert. Dieser Wecker hat anscheinend einen Wecker drin, der ihn weckt. Es ist der sechste, den ich in den letzten fünf Jahren erhalten habe. Der erste war ein ganz graziles Ding, aber eines Nachts, unverstellt, plötzlich so laut, dass ich ihn im Erwachungsschreck vom Nachttisch warf, sodass seine zarte Glashülle zerbrach und der große Zeiger ausklinkte. Dann bekam ich einen Wecker alter Art, großes Zifferblatt, zwei Silberglocken auf den runden Schultern mit einem Schlegel dazwischen; wenn der losraste, musste man raus. Das nächste Modell war ein geschmeidig formschönes Produkt mit leuchtenden Ziffern. Er musste mich nur einmal wecken, ehe die Leuchtleiste brach. Dann als Ersatz ein Kunststück der Technik. Schwarz mit vielen Tasten, schwenkbarem Leuchtstrahl, der an der Zimmerdecke in Rot die Uhrzeit anzeigte. Man musste sich also nicht mehr drehen, halb aufstehen. Eine Erfindung außergewöhnlicher Art. Ich musste ihn, ohne sein Weckwerk benutzt zu haben, ersetzen, weil ich die Zahlen an der Decke nicht lesen konnte. Das war das erste sichere Zeichen, dass meine damals noch nicht ahnbare, jetzige Augennot begann. Man brachte mir den fünften. Schon bei der ersten Ansicht waren die Zahlen zu klein. Als sich so die Schwierigkeiten der Beschaffung und Nutzung von Weckern erwiesen hatten, haftet jetzt nachts leuchtend auf der ausgeschalteten Heizung im Schlafzimmer die ultimative Uhr, die sozusagen heimlich, also in sich, eine Nachtbeleuchtung enthält. Die Zahlen, die die Zeit bedeuten, jede zwölf Zentimeter groß, sind weit sichtbar noch hinter dem leeren Bett, dem von Margret einst.
Wir alle haben in uns eine innere Uhr. Man kann schätzen, erfühlen, wie weit der Tag, die Arbeitszeit rum ist, wann die immer goldgekämmte Judith Rakers ihre Abendnachrichten beginnt. Wenn die Zeiten der inneren und der äußeren Uhr identisch sind, gibt es Glücksgefühle, wie gut, wie treffsicher es funktioniert hat. Man fühlt sich einen Augenblick als Herr der Zeit. Man, ich empfinde das auch schmunzelnd einverständlich, wenn der Wecker mir wohlgesinnt ist oder gar kokettiert, wenn er gerade die gleichen, sofort aufeinander folgenden drei oder vier Zahlen präsentiert. 12:34 Uhr zum Beispiel gibt es einmal am Tag. Das beim Aufstehen zu treffen ist schwierig, aber kommt vor, Glücksmomente. Ich spiele nachts gern mit diesen Zahlen. Aber der grimmige Zorn von heute Nacht kam daher, dass um 2:40 Uhr der Wecker 03:40 Uhr anzeigte. Wollte der mich ärgern, auf den Arm nehmen? Da kommt man auf die grundlegende Frage: Braucht man mit 96 noch einen Wecker? Muss man noch zum Flughafen, Bahnhof, Taxi? Zur Frühkonferenz um acht? Ach so, gestern Abend sagte meine Rumänin, bevor sie ging: »Nehmen Sie morgen früh die neuen Tropfen, stellen Sie sich den Wecker.«
23. Oktober 2020
Ich war immer ein wacher Mensch, schlief gern und gut, war aber ruckzuck auf. Mich hatte die Lust am Buch gepackt, an einer eigentlich unmöglichen Arbeit. Aber morgens um halb fünf war’s aus. Ich hatte Zeit bis Viertel nach sieben. Da musste das Frühstück fertig sein, die Frau musste zur Schule. Dann war noch mal frei für zwei Stunden. Um zehn dann ab in die Redaktion. Warum fällt mir das jetzt ein? Ich führte mich eben vorsichtig die Treppe hinab, sie ist breitstufig, bequem zu gehen – man grübelt immer, ob man da stürzt und mit welchen Folgen –, um zu schreiben, wie dieser dunkle Morgen die Schlafsucht verlängert. Und da setzt man sich hin und schreibt was ganz anderes. Der erste Satz ist wie ein Startschuss. Warum so anders auf einmal. Weckt die Treppe, löst sie die Glieder? Ich bin seit Tagen schwanger vom Verlangen, was anderes zu schreiben, wo man keine Studien braucht, die Augen nur für die Tasten wach sind. Das Verlangen nach aktiv sinnvoller Arbeit plagt einen also bis ins hohe Alter. Da fällt mir der Anfangsanfang von allem ein. Das ist überraschend neu, was da kommt. Viele haben gerufen, aber ich habe mich immer gewehrt gegen eine Biographie. Ich war mir nie interessant, oder nur soweit, mir neue Aufgaben und Themen zu suchen, um mich am Schreiben zu erkennen. Jetzt, wo es nichts mehr zu tun gibt, die eigene forschende Arbeit aufgegeben werden muss, drängt sich Erinnerbares wieder in den Kopf.
Also morgens halb fünf. Ich war fünf Jahre bei der Zeitung, meine Theaterkritiken wurden häufiger, eines Tages kam ein Anruf von Rudolf Hirsch, damals Direktor vom S. Fischer Verlag. Hirsch war ein hochgebildeter, zarter, leiser Mensch, schwärmend hingegeben an Hofmannsthal.11 Er wollte von mir ein Panorama des modernen Theaters, eine Sammlung von und für Theatrasten. Ich wollte nicht. Theater hat für mich mit Theorien nichts zu tun. Man kann im Methodischen streiten. Es gibt keine Theorie des Theaters, außer was es ist: Spiel. In den höchsten Momenten ein Schöpfungsakt. Die Zuschauerlust, Geber und Empfänger. Mit Theorien kommt man nicht an die Lebenskraft des Theaters. Ich machte Hirsch einen anderen Vorschlag. Ein Buch zu machen über das Theater der Zwanziger Jahre. Man sagte damals noch »Goldene Zwanziger Jahre«. Die waren nicht golden, glänzten nur manchmal so. Hirsch war ein Kind jener Zeit. In diesen zwanziger Jahren zerbrach das Jahrtausend. Die alten politischen Reiche, die Kirchenmächte, Glaubenswelten waren zerbrochen, man suchte Bauteile für eine neue Welt. Ich war mittendrin in diese Welt gekommen, ich schrieb jetzt Kritiken in der wichtigsten Zeitung, ich musste wissen, was geschah, wie man reagierte, wie man schrieb. Ich stürzte mich in diese Arbeit. Das daraus entstandene Buch ist ein Denkmal einer kurzen Epoche geworden. Damals setzte sich in mir fest, was mich dann begleitet hat bis heute, der Zusammenhang von Theater und Zeit.12 Egal wie es ist, es entsteht aus der Zeit für die Zeit. Deswegen morgens halb fünf. Wenn ich jetzt um halb fünf wach werde, zähle ich die Stunden, die ich noch schlafen kann. Und nach dem Frühstück kommt noch der Morgenschlaf. Lebensmüdigkeit ist auch eine körperliche Wahrheit.
26. Oktober 2020
Ich war im Beruf immer im Betrieb, Zeitungsmenschen kennen kein ruhiges Wochenende. Veranstaltungen, Termine, Sonntagsdienst. Ich war immer froh, wenn ich mal allein war. Das Alleinsein jetzt ist eine Plage. Sind allein und einsam identisch? Bin ich einsam und / oder allein? Ich werde dem nachspüren, aber nur keine Grübelei. Grübeln zerfrisst einen. Ich lechze nach Aufgaben, aber wo gibt es die noch. Mir fehlt meine Arbeit jeden Tag mehr. Mein Text der Theatergeschichte, den ich abgeben musste, hängt noch im Computer. Ich musste heute zum sechsten Mal aufgeben, ihn zu lesen. Die Vergrößerung auf 28 Punkt hält man nicht durch. Das Erkennen strapaziert Augen und Hirn. Ich muss selbst die Versuche aufgeben, den Buchstabensalat, den ich hier im Drauflosbenutzen der Tasten anrichte, zu kontrollieren. Ich spür jetzt auch schon eine sich einschleichende, eine wachsende Scheu, einige der fertigen Stücke noch mal zu lesen. Die Selbstkritik ist erbarmungslos, sie verlässt einen nicht, und vorgelesen werden meine Sätze sicher andere, als sie geschrieben sind. Ich nannte sie abgekürzt TGIII. Ich möchte jetzt rufen, laut, dass es hallt: »TGIII, komm zurück.« Auch das Begriffene schmerzt. Die Sache ist in guten Händen. Ich bin auf der Suche nach Zufriedenheit und Heiterkeit. Vielleicht finde ich morgens etwas, was den Tag leicht macht.
27. Oktober 2020
Jetzt bin ich entsetzt, die besseren Gefühle sind dem Erschrecken gewichen. Ich bin an meine bisher geschriebenen Texte geraten, mache Stichproben, ob man das so machen kann, hoffte auf Bestätigung. Ich habe versucht zu lesen und viele Sätze und Wörter nicht mehr verstanden. Die Augen dicht vor dem Bildschirm, um noch was zu erkennen, und ich erkannte, dass das Drauflosschreiben manche Texte zum Gestrüpp macht. Cora war heute Morgen da und sagte, sie nimmt die Ausdrucke mit und korrigiert oder schreibt neu. Ich kann ihr das gar nicht zumuten. Ich bin auf mich selbst zurückgeworfen. Der Verwirrer flotter Sätze bin ich. Das heißt: Mein lebenslang geübtes Zweifingersystem, das in den gut siebzig Jahren zigtausend Sätze von mindestens 900 Kilometern Länge hingetippt hat, ist nicht mehr treffsicher. Selbst wenn die Finger nicht zittern, ich hau daneben. Statt einem G ein F oder ein H oder V oder ein T. Jeder Buchstabe hat mindestens zwei, meistens vier Nachbarn. Ich werde ein Hersteller von Wortsalat.
28. Oktober 2020
Vorgestern musste ich doch den Sohn von den lieben Nachbarn zu Hilfe holen. Er ist wohl Ende 30, fährt gern Motorrad, ist Lehrer in der Fachschule, Optiker, aber mit Computer-Kenntnissen. Gestern kam er, ordnete und führte mehrere Dateien auf einen Stick. Der Lektor im Verlag wollte den Text von einem Band. Der kam gerade, als auch Dumitru mit seinem Sohn kam, der ist elf. Als der Optiklehrer das Problem probierend löste, stand Rares mit ruhigem Gesicht daneben. Er war nahe am Weinen, sagte seine Mutter tags darauf. Er hätte sich so gerne hilfreich gezeigt.
Wenn ich zusammenzähle, arbeiten jetzt schon vier Generationen an dem Support, der sich mir jetzt immer schneller entzieht. Drei davon sind schon Nachwuchs. Zwei haben die Anfänge des Digitalen Zeitalters nicht mehr erreicht. Ich sitze bei den Hilfsaktionen staunend dabei und wundere mich, was sie draufhaben. Bewundere das Tempo ihrer tastendrückenden Hände, staune, was sie alles machen, und dass der Apparat all das kann, was sie aus ihm herausholen. Ich spüre, sie leben schon in einer anderen Welt, obwohl wir noch beieinander sind. Eins habe ich aber allein. Ich weiß noch, wie alles anfing. Vor gut 50 Jahren kam Kollege Held aus Silicon Valley in die Redaktion zurück und verkündete uns Ungläubigen die Verwandlung, die jetzt Wirklichkeit ist.
28. Oktober 2020
Nun ist schon Ende Oktober und ich lebe noch immer. Sogar klarer als im August. Damals war jede Stunde zu viel, ich dachte nur an Schlussmachen. Die Frage, wie ich das mache, hat die Gedanken beherrscht, da ich keine letalen Tabletten bekam. Da nach dem Karlsruher Spruch zur Sterbehilfe keine Hilfe zu erwarten war, kam ich am Ende auf elf Methoden der Selbsthilfe: Mit Stürzen, Stichen, Schnitten, Stricken, Ertränken, den Gashahn vom Grill, Ersticken, Verhungern, und die Überdosis Blutdrucksenker. (Ob das ging?) Es gab mehr Möglichkeiten, als man dachte. Ich musste oft an Adalbert Stifter13 denken, in dessen beruhigte Welt auch der Schnitter eintrat, der er dann selbst war.
Der im August selbstgesetzte Termin ist vorbei, ich gehe jetzt wieder stockgestützt, freilich durchs Dorf nicht mehr durch, sondern vorm Haus, 200 Schritte nach links, dann nach rechts. Es geht gut, erfrischende Schritte. Gestern war Cora da. Sie schaut einem zuerst in die Augen, ob ihr Weiß noch oder wieder klar ist. Bessern kann sie sie nicht, aber sie zog meine Hände auf ihre Brüste. Sie hat das gern. Ich denke dann immer wieder an die lebenstapfere Marieluise Fleißer. Der junge Lion Feuchtwanger war ihr Liebhaber, damals, Anfang der zwanziger Jahre, bevor sie in Brechts Hände fiel. 1970 übernahm ich auf Unselds Ruf die Ausgabe der Fleißerschen Werke14 – die Fleißer wurde damals auch mit Fassbinder, Kroetz und Martin Sperr in Ingolstadt zusammen präsentiert – und wie das Gespräch so ging, fragte der Brecht-Verleger Unseld in seiner stets tätigen Neugier, wie Brecht denn so im Bett gewesen wäre. Die Antwort war kurz, also sachlich. Aber dabei erzählte sie, dass der liebe Lion immer von ihrem jungfräulichen Busen als »dem schönsten in Mitteleuropa« gesprochen, ja geschwärmt habe.
Ich merke jetzt, es ist beim Schreiben wie im Leben: die erotischen Sachen kommen einem immer dazwischen. Ich wollte eigentlich sagen, ich bin unverhofft gestärkt, es ist wohl ein Zwischenhoch – aber wieder allein. Ich muss mir die Tage selbst füllen, suche also vielleicht doch mit mir nach mir. Die neuesten Fußball-Ergebnisse auf dem Abendspaziergang mit meinem treuen rumänischen Betreuer reichen dann doch nicht aus.
Zarte Roulade, mit herrlichster Soße und Kartoffelpüree, vorsichtig auftauen und nachher im Backofen heißmachen. Ich hatte auf Ober- und Unterhitze statt auf Auftauen gedreht. Mein Auge erkennt die Striche nicht mehr und mein Kopf hat die Striche noch nicht eingeübt. Die Roulade war ein einziges hartes schwarzes Etwas. Ich musste das Festgebrannte mit dem Messer abkratzen, war gerade dabei, den heißen Teller einzuweichen, da kam Dumitru und half meinem Suchen nach Ersatz aus der Patsche. Es war noch da, ein Stück vom Wiener Schnitzel, kalte, gekochte Kartoffeln. Er brauchte zwei Anläufe, bis es essbar warm war. Danach der Rest von der Roten Grütze. Dann öffnete Dumitru, es war sein 20. Hochzeitstag, die blaue Dose vom Hochzeitsfeierkuchen. Seine hübsche Frau, die Krankenpflegerin, ist eine Tortenbäckerin erster Güte, schickte vom neuesten Produkt, Sahne mittendrin, ein Stück mit. Ich sollte es unbedingt versuchen. Jetzt liegt mir alles im Magen und drückt mir die erdachten Gedanken aus dem Kopf.
29. Oktober 2020
Ich hab’s gerade noch geschafft, es fängt an zu regnen, ich war mit der umstürzenden Frage beschäftigt, was besser, richtiger ist: immer die 1200 Schritte zählen oder was ganz anderes denken. Noch kann ich sagen, es kommt auf die Tagesform an. Die Erfahrung habe ich erlebt. Aber irgendwann wird man, werde ich stürzen und um Hilfe rufen und was dann? »Carpe diem« hätte ich beinah geschrieben, und schwupp hörte ich wieder die froh springende und schwingende Stimme, die Gedichte von Horaz ins Zimmer sprach. Ich hatte eine alte, wieder ausgegrabene Schallplatte aufgelegt, habe ja immer noch das stammelnde Latein aus der Lateinstunde im Ohr, aber das hier war lebendig, wie auf einem römischen Gelage. Ich war plötzlich im alten Rom. Ich verstand nichts, aber erlebte eine römische Viertelstunde, wie gestern, als ich Heidegger hörte, langsam jedes Wort setzend (Bodenständigkeit, Atomzeitalter), wie ein Prediger, jedes Wort aus dem Satz genießend. Letzte Woche überraschte mich Thomas Mann. Er sprach seine Erzählung »Herr und Hund« zum Teil ganz aufgeregt, als läse einer die gefährlichste Passage aus »Sherlock Holmes«. Er steckte die ganze Aufregung in den Vortrag. Ich hielt ihn immer, weil er so lange Sätze schrieb, für einen denkenden Redner. Hier verschwand das sicher feinsinnig Erdachte in einem ganz fremden Ton. Ich habe mir einen ganzen Stapel solcher Schallplatten aus dem Schrank holen lassen, Josef Pieper, Elisabeth Langgässer, von Stefan Andres »Wir sind Utopia«. Und sechs Platten von Gert Westphal. Er war ein edler Sprecher, es war seine eigentliche Karriere. Ich kannte ihn als Schauspieler aus Bremen. Gepflegte Form der fünfziger Jahre, traf wieder auf ihn im Zürcher Schauspielhaus. War dort höchst beliebt, bis 1970 Peter Stein kam. Es muss ihm damals, wie vielen anderen, das Theater zusammengebrochen sein. Als er meine Kritiken las, schrieb er an die Herausgeber der F.A.Z. über den neuigkeitssüchtigen Herrn g. r. Es wirkte – die F.A.Z. hatte eine teilweise sehr konservative Mannschaft – lange nach. Ich bin gespannt, wie lange ich das Stimmen-Museum aus den fünfziger Jahren aushalte. Man treibt in die Zeit wieder, der man entkommen ist, besser: aus der man sich herausgearbeitet hat.
30. Oktober 2020
Schmerzpunkt des vorgerückten Alters: »Du hättest zehn Jahre früher anfangen müssen«, spricht es in mir. Das »Zu-spät« war früher der Brennpunkt großer dramatischer Werke. Die Stückeschreiber von heute kennen das nicht mehr.
Auch im Internet gibt es Umleitungen. Man lernt noch immer dazu, aber kann es selber nicht mehr nutzen. Bernd Feuchtner, der mir vorletzte Woche sein neues Buch über die Oper des 20. Jahrhunderts schickte, schwer wiegt es in der Hand, bedankte sich für meinen Dank, den Cora nach Diktat ihm schickte. Ich hatte ihm berichtet, dass ich das Werk nicht mehr lesen, nur noch durchblättern könne. Er schrieb zurück, dass ihn meine Reduktion sehr getroffen hätte, erinnerte an die gemeinsame Arbeit in Berlin, gleich nach der Wende, und was man früher für Schmus gehalten hätte, und das in dem Satz endete vom besten Chef, den er hatte. Das war wie ein Echo aus dem grünen Urwald des Lebens in mein vertrocknetes Dickicht, in das ich geraten bin. Je dicker das Schweigen um einen wird, desto mehr kommt man ins Sammeln solcher Sätze. Man hält Ausschau nach Zeichen, dass man doch noch in der Welt ist.
31. Oktober 2020
Ich warte jetzt auf eine Antwort vom Verlag. Ob, was und wie die Dinge ruhen oder in Bewegung sind. Ich muss mich selber bremsen, damit das Tempo des Wartens nicht zu hoch wird. Dabei bin ich früher, wenn ich nach Zürich oder ins Theater musste, gern schnell gefahren, auch mal zweihundert. Das war vor 50 Jahren, da gab es den »Raser« noch nicht, wenigstens nicht als Begriff. Aber die Autobahn war nachts auch noch leerer. Damals war das noch eine Lust; wenn ich heute daran denke, spüre ich die Gefahr und mein Glück, dass ich heil angekommen bin. Auf der Fahrt von Bochum – wohl nach Hagen – hielt ich einmal an einer Tankstelle. Da kam mein Hintermann und sagte: »Wissen Sie, dass Sie hinten platt sind?« Der Schreck war groß und sitzt bis heute in mir. Das Tempo hatte den platten Reifen wohl gehalten. Mein Gott, was einem wieder einfällt, kommt man mit einem Wort auch nur in die Nähe ehemaliger Begebenheit. Als würde plötzlich hier einem Gefangenen das Tor des Verlieses geöffnet. Dabei wollte ich doch ganz anderes in die Maschine geben. Nennt man das auch Eingebung? Ich wollte nur noch vermerken, dass unter den Grüßen, die mich jetzt erreichen, doch öfter angemerkt wird, man habe viel von mir gelernt. Das überrascht mich heute noch. Ich habe das nie erwartet, dass von mir was zu lernen sei. Ich fühlte mich selbst immer als Lernender. Wenn ich mal deuten sollte: ich suchte, ohne zu wissen, nach dem Geheimnis des Theaters. Das muss es doch geben, sonst wären nicht so viele vernarrt oder nur beschäftigt mit Theater. Ich glaube, es hat mich einfach angezogen, angesogen, obwohl ich immer noch meine, ich gehöre anderswohin. Nennt man das Magie?