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Ich weiß, dass er recht hat. Die Wahrheit ist furchtbar und dafür hasse ich ihn. Ich bezweifle, jemals wieder eine Drehbuchzeile schreiben zu können, aber etwas in mir sagt, dass sein Vorschlag wirklich der einzige Weg ist, dem feuchten Kellerloch und dem welken Salatblatt zu entgehen. Deshalb nehme ich mir vor, zumindest ernsthaft darüber nachzudenken, das Undenkbare zu tun. Etwas, wofür mich keiner meiner Bekannten jemals wieder auf der Straße grüßen wird und was außerdem der Grund dafür sein wird, dass meine Eltern mich verleugnen werden. Aber ich habe vermutlich keine Wahl: Ich werde versuchen müssen, einen Schundfilm zu schreiben!
*
Die Dämmerung hat schon lange eingesetzt. Dicke Wolken verdunkeln den Himmel zusätzlich, weil aus dem sonnigen Spätsommertag ein nasskalter Herbstanfang geworden ist. Auf einmal peitscht der Wind auch noch Regen auf das Dachflächenfenster über meinem Schreibtisch. Erstaunt blicke ich auf, als ein Blitz über den Himmel zuckt. Ich habe gar nicht bemerkt, was für ein Unheil sich da draußen zusammenbraut. Vermutlich liegt es daran, dass das nichts ist im Vergleich zu meiner Laune!
Schon seit Stunden brüte ich vor mich hin und starre auf den leeren Bildschirm, einen halben Meter vor meinem Gesicht. Ein kleiner, schmaler, schwarzer Balken blinkt auffordernd in der oberen linken Ecke und versucht mich anzutreiben, doch bitte endlich etwas zu schreiben. Aber ich kann nicht, denn mein Kopf ist wie leer gefegt. Nur ganz weit hinten, in einem kleinen Winkel meines Hirns, jagen sich die Gedanken und fabrizieren wirres Zeug, weil ich mir nicht einmal mehr die Mühe mache, sie einzufangen und in sinnvolle Bahnen zu lenken. Ich nehme an, ich stehe unter Schock!
Der Balken blinkt immer noch. Ich schiebe mir den letzten Schokoriegel in den Mund, dann ist die Packung leer, die heute Vormittag noch nicht einmal angebrochen war. Ich werfe einen prüfenden Blick zum Aschenbecher: Ich glaube, einen Stummel könnte ich noch unterbringen, bevor sein Fassungsvermögen endgültig erreicht ist. Die Schachtel beherbergt nur noch zwei Zigaretten. Heute habe ich es definitiv übertrieben mit meiner Qualmerei! Ich zünde mir trotzdem eine von beiden an.
So kann es nicht weitergehen. Ich muss mich entscheiden: Will ich ernsthaft versuchen, ein Drehbuch zu verfassen, das zwar unterhalb jedes für mich denkbaren Niveaus liegt, das aber wenigstens die Chance auf eine Verfilmung in sich birgt? Oder will ich gleich jetzt die Jobbörsen im Internet nach passenden Angeboten durchforsten? Vielleicht habe ich Glück und gerade heute steht ein Stellenangebot im Netz, das zu meinem beruflichen Profil passt?
Ich kann mich nicht dazu durchringen, diese Idee in die Tat umzusetzen. Stattdessen starre ich weiter regungslos auf den blinkenden Cursor in dem hellgrauen Viereck. Er wartet. Leider habe ich nicht die geringste Ahnung worauf, beziehungsweise welche Buchstabenkombination ich ihm über die Tastatur anbieten soll, damit er den Anfang eines Films daraus macht. Einer schlechten Liebeskomödie. Ich seufze. Wie, um Himmels willen, fange ich so eine Klamotte an?
Entschlossen, nun endlich etwas zu schreiben, und sei es auch nur abwegiger Blödsinn, wage ich einen gedanklichen Vorstoß.
Zunächst einmal brauche ich die Hauptfigur, die Filmheldin. Die Worte des Producers kommen mir in den Sinn, dass solche Filme meistens von Frauen gesehen werden und dass diese sich mit der weiblichen Hauptrolle unbedingt identifizieren können sollen. Also muss die Protagonistin eine ganz normale Frau sein. Hm. Aber wie sieht eine normale Frau überhaupt aus?
Eigentlich müsste ich mir über ihr Aussehen überhaupt keine Gedanken machen, denn das spielt keine Rolle – jedenfalls nicht beim Verfassen eines Drehbuchs. Ich könnte ihr in der knappen Personenbeschreibung des Exposés ein Windhundgesicht, abstehende Ohren und die Figur eines südvietnamesischen Hängebauchschweins verpassen – und für einen Moment gerate ich in Versuchung, genau das zu tun! – doch das ist irrelevant. Das Aussehen wird bei der Besetzung der Rolle entschieden, und da wollen sich die Produzenten, TV-Redakteure, Regisseure und wer sonst noch alles am Set wichtig ist, bestimmt nicht von mir hineinreden lassen. Aber ich brauche ein Bild, eine Vorstellung von dieser Frau, denn in meiner Fantasie muss sie zum Leben erweckt werden. Ich muss vor mir sehen, wie sie sich bewegt, wie sie sich gibt, wie sie spricht, wie sie lacht und überhaupt wie sie ist.
Doch schon an dieser an sich vollkommen unspektakulären Herausforderung droht meine Vorstellungskraft zu scheitern. „Eine ganz normale Frau“ hat Herr Hansen gesagt. Was genau könnte er darunter verstehen?
Unwillkürlich werfe ich einen Blick nach oben ins Dachflächenfenster über meinem Kopf, das ein etwas unscharfes Bild von mir zurückwirft. Könnte eine normale Frau theoretisch so aussehen wie ich?
Mein eigenes schmales, blasses Gesicht mit tiefdunkelbraunen Augen starrt mich an. Meine glatten, dunkelbraunen Haare sind zu einem Zopf zurückgebunden und ein dichter Pony fällt mir in die Stirn und gibt meinem Gesicht etwas Mondänes – jedenfalls hat das meine Friseurin gesagt, als sie mich zu diesem Schnitt überredete. Ich selbst finde mich nicht so mondän, aber der Pony gefällt mir! Meine Figur, na ja, ein bisschen fülliger sind meine 1,72 Meter schon geworden, seit ich meinem Job Adieu gesagt habe. Die Taille war schon schlanker und die Oberschenkel sind etwas stämmig geworden. Aber haben nicht alle Frauen Gewichtsprobleme, manche vielleicht auch nur eingebildete? Dann könnte eine normale Frau theoretisch so aussehen wie ich?
Zumindest das mit dem Gewichtsproblem finde ich überzeugend. Ich notiere im Geiste: Die Hauptfigur ist mollig. Natürlich nur ein ganz klein wenig, denn sie muss ja andererseits auch umwerfend schön sein, was sie selbst in ihrer grenzenlosen Bescheidenheit nur nicht erkennt. Sie macht nicht viel aus sich, sie ist „natürlich“, mit Jeans und Pullover, Hauptsache praktisch, ohne viel Schnickschnack. Erst später wird sie zu einem zauberhaften Schwan werden, einer Schönheit, der sich kaum ein Mann entziehen kann, und schon gar nicht der Held, der schon lange ihre körperlichen Vorzüge erahnte, von denen sie selbst nie Notiz nahm.
Huch!
Erstaunt nehme ich zur Kenntnis, dass ich plötzlich genau so denke, wie man denken sollte, wenn man vorhat, eine durchschnittliche Wald-und-Wiesen-Liebesgeschichte fürs Fernsehen zusammenzubasteln. Beängstigend! Ich bin also auf einem guten Weg.
Plötzlich kommt Leben in meine Gehirnwindungen und im Geiste wird meine Filmheldin geboren: Eine Frau, ein bisschen jünger als ich – vielleicht Mitte dreißig? Das hört sich besser an als Anfang vierzig. Außerdem würde ich mich mit Hauptpersonen ab vierzig im Seniorensegment für Liebeskomödien befinden, und die funktionieren meinen spärlichen Erfahrungen als Zuschauer nach völlig anders als das, was Herr Hansen sich vorstellt, und zwar so, dass man sich stets eine betuliche Inge Meysel in der Hauptrolle vorstellen kann!
Ich versuche die Bilder aus meinem Kopf zu kriegen, die gerade entstanden sind. Reiß‘ dich zusammen, Hanna!
Also, die Filmheldin ist Mitte dreißig. Viel jünger sollte sie auch nicht sein, denn es soll ja kein Teenie-Film werden. Schließlich hat Herr Hansen von Fernsehsendern und nicht von einem YouTube-Kanal gesprochen.
Hm, und wie weiter?
Ich denke, die Heldin sollte einsfünfundsechzig Meter groß sein. Ich habe gelesen, dass das die Durchschnittsgröße deutscher Frauen ist. Ich finde das zwar erschreckend winzig, denn ich finde mich schon zu klein mit meinen einszweiundsiebzig, aber darum geht es hier nicht. Es geht um die Norm, und die ist am besten mit dem Durchschnitt abzubilden.
Dann fällt mir ein, dass für die weibliche Hauptrolle sicher eine Blondine ausgesucht wird. Blond passt einfach gut zur Heldin einer harmlosen Liebeskomödie. Schließlich ist die Heldin die Gute, und seit jeher sind die Blonden die Guten und die Brünetten die Bösen – jedenfalls in der Art von seichter Unterhaltung, die ich hier zusammenschreiben muss. Ich hingegen mit meinen dunklen Haaren, dem blassen Teint, dem schmalen Gesicht und den ernst dreinblickenden Augen würde bestenfalls in der Verfilmung eines literarischen Klassikers aus dem neunzehnten Jahrhundert die Heldin sein können. Bei einem in der heutigen Zeit angesiedelten LonA – Liebesfilm ohne nennenswerte Aussage – würde der Produzent niemals jemanden wie mich zur engelsgleichen Heldin ohne Fehl und Tadel machen!
Also fasse ich zusammen: Die Heldin hat blonde Locken, eine sehr frauliche Figur mit etwas Bauch und vielen weiblichen Rundungen, denn Weiblichkeit ist bei dieser Art von Filmen ein Muss! Und sie heißt … ach je! Wie heißt denn so jemand?
Nachdenklich kaue ich auf meinen Nägeln herum. Ein passender Name für die Protagonistin einer TV-Romanze muss her! Nicht zu modern, nicht zu altbacken. Wohlklingend, aber nicht zu verspielt, weil sie ja schon blonde Locken hat und in meiner Fantasie aussieht wie eine Putte aus dem Weihnachtssortiment eines Deko-Geschäfts. Oder wie meine ehemalige Kollegin vom Empfang meiner alten Arbeitsstelle, die sich nur für ihr Aussehen und den schönen Herrn Schubert aus dem Controlling interessierte und sich gerne hinter dem Tresen die Nägel lackierte. Wie hieß die noch gleich?
Sibille! Sibille ist gut. Vermutlich guckt so eine auch Liebesfilme?
Der Name passt also. Sie heißt Sibille. Sibille König. Genau! Das hört sich doch schon vielversprechend nach einem schlechten Film an! Außerdem wird sie von allen liebevoll „Billie“ gerufen.
Ich muss mich in Gedanken übergeben. Schrecklich! So eine gequirlte Hundeka… ähm … häufchen! Was mache ich hier eigentlich?
„Deinen Lebensunterhalt sichern“, antwortet mir eine Stimme in meinem Kopf. Sie hört sich ein bisschen wie die meiner Mutter an, was mich erstaunt. Denn unter „Lebensunterhalt sichern“ versteht meine Mama ganz sicher etwas anderes, als sich der Illusion hinzugeben, eine erfolgreiche Drehbuchautorin zu werden!
Ich schlucke, aber recht hat sie, die Stimme. Weiter geht‘s! Was ist der Plot, also das Handlungsgerüst des Films? Worum dreht es sich? Und wie fange ich die Geschichte an?
Die Worte von Herrn Hansen drängen sich mir auf: Die Heldin steckt in der Klemme und ihr ganzes Leben gerät aus den Fugen. Mann weg, Haus weg, Job weg, selbst Freunde hat sie keine.
Hm. Das ist ja echt blöd! Wie soll denn das alles passieren, und auch noch gleichzeitig? Es fällt mir schwer, mir das vorzustellen. Was, um Himmels willen, muss geschehen, um so ein fatales Ergebnis hervorzurufen?
Ich lehne mich zurück und überlasse es meinem Unterbewussten, Bilder zu dem Thema zu entwickeln. Hmmm … vielleicht hat ihr Mann einen schweren Unfall? Die Nachricht von seinem Unglück bekommt sie telefonisch, als sie gerade bügelt – sein blütenweißes Hemd, das er am nächsten Tag ins Büro anziehen will! Oh ja! Ich sehe es direkt vor mir: Bester Dinge und von nichts als dem alltäglichen Einerlei beschwert, steht Sibille mit einem fröhlichen Lächeln am Bügelbrett in ihrem schicken Wohnzimmer mit den riesigen Fenstern, die den Blick auf einen hübschen Garten freigeben. Eine kleine Idylle! Nichts rasend Schickes, aber hell und gemütlich, eben ein ganz normales Zuhause für ein sympathisches Pärchen. Sie summt vor sich hin, bearbeitet gut gelaunt das weiße Hemd auf dem Bügelbrett und will gerade zum Wäschesprenger greifen, als das Telefon klingelt.
Auf meinem Bildschirm entsteht die erste Szene:
1 INN. SIBILLES ZUHAUSE – NACHMITTAG
Wohnzimmer, hell, gemütlich, mit großen Fenstern, dahinter Garten. SIBILLE, Mitte 30, hübsch, drall, blond, bügelt ein weißes Herrenoberhemd. Das Telefon klingelt. Beiläufig greift sie nach dem Hörer und flötet gut gelaunt:
SIBILLE: Sibille König, Hallo!
Sibille klemmt den Hörer zwischen Kopf und Schulter, während sie resolut weiterbügelt. Dann verändert sich ihre Miene: Erst guckt sie erstaunt, dann zeigt sich das nackte Entsetzen auf ihrem Gesicht.
Sibille vergisst das Bügeleisen und lässt es auf dem Hemd stehen. Erst dampft es nur, dann beginnt es zu qualmen.
Genau so! Und jetzt zoomt die Kamera ganz nah an das Bügelgerät heran, damit auch niemandem entgeht, was da gerade Schicksalhaftes geschieht. Ich schreibe:
NAH
Das Bügeleisen steht auf dem Hemd, vorne, in Brusthöhe, dort, wo sonst das Herz ihres Liebsten unter dem Stoff pocht!
Was für eine schaurig-kitschige Symbolik! Mann, ist das schlecht! Begeistert schreibe ich weiter.
2 AUSS. SIBILLES ZUHAUSE – NACHMITTAG
Sibille stürzt Hals über Kopf aus der Haustür und rennt zu ihrem Fahrrad, das vor dem Haus steht.
3 INN. SIBILLES ZUHAUSE – NACHMITTAG
Um den Fuß des Bügeleisens herum brutzelt und schmurgelt es. Schwarzbraune Ränder zeigen, dass das Hemd definitiv nicht mehr zu retten ist ...
… und das Bügelbrett gleich auch nicht mehr, weil das als nächstes dem vergessenen heißen Eisen zum Opfer fällt. Später, wenn Sibille nach einem langen, tränenreichen Abend bei ihrer Freundin, zu der sie sich in ihrer Verzweiflung geflüchtet hat, zurückkehrt, werden von dem kleinen Häuschen am Stadtrand nur noch die Grundmauern stehen.
Na, es geht doch!
Obwohl – mir fällt ein, dass die Filmheldin eigentlich auch keine Freundin mehr haben darf. Schließlich ist sie richtig am Ar… ähm … sie steckt sozusagen kopfüber in der Sch…üssel und hat nichts und niemanden mehr, bei dem sie sich ausheulen kann. Nicht einmal ihren Hamster, denn den hat sie beim Bügeleisen zurückgelassen!
Ich streiche das mit dem Hamster. Das gibt nur wieder Ärger mit Tierschützern. Aber das Problem bleibt: Wie kriege ich es hin, dass Sibille nicht einmal mehr eine Freundin hat? Hm. Streiten die beiden? Aber wer streitet schon mit einer Frau, deren Mann gerade bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen ist?
Dazu fällt mir nichts ein. Frustriert lasse ich mich in meinen Schreibtischstuhl zurücksinken. Es ist wohl doch nicht so einfach, wie ich anfangs dachte. Einerseits brauche ich eine komplett überzogene Story, in der wirklich das ganze Leben der Heldin restlos in Bergen aus Schutt und Asche versinkt, andererseits sagte der Producer, dass die Geschichte wie aus dem Leben gegriffen sein soll – so, als könne das Ganze jedem jederzeit passieren. Wie soll das gehen?
Eine beängstigende Leere scheint sich erneut in meinem Kopf ausbreiten zu wollen und ich frage mich, wie es mir gelingen soll, mich in eine völlig unrealistisch katastrophale Situation hineinzudenken, wenn ich so etwas nicht kenne, weil in meinem Leben alles gut ist: Ich habe einen Partner, eine Wohnung, bin gesund und habe Freundinnen. Bei mir ist alles in bester Ordnung!
Jaja, gut, okay, es könnte besser laufen. Ein Drehbucherfolg, der mein Dasein durch Einkünfte bereichert, wäre schön, um nicht zu sagen notwendig. Doch ansonsten ist alles bestens! Fast würde ich sagen unspektakulär. Beinahe langweilig. In meinem Leben gibt’s keine Dramen, und eigentlich finde ich das auch ganz gut so! Als Vorlage für einen kitschigen Liebesfilm, wo die Heldin alles, außer den Hamster, weil sie keinen hat, verliert, ist es jedoch nicht zu gebrauchen. Doch wie kann dann eine ganz alltägliche Katastrophe aussehen, wenn zumindest bei mir Katastrophen nun einmal nicht alltäglich sind?
Stöhnend lasse ich meinen Kopf in die Hände fallen. So wird das nix! Ich muss anders an die Sache herangehen, und zwar muss ich mich fragen …
Genau! Ich muss mich fragen, was in meinem Leben passieren müsste, damit es zu einem katastrophalen Chaos wird. Jetzt. Hier. Von diesem Stuhl, dieser Wohnung, diesem Moment aus. Wie würde mein Leben in einem Film aussehen, wenn es hier und jetzt explodierte?
Ich schlucke. Was für eine Vorstellung! Doch es hilft nichts, da muss ich durch. Außerdem passiert es ja nicht wirklich. Ich muss es mir nur vorstellen!
Hm. Zunächst einmal würde ich vermutlich meinen Mann – beziehungsweise meinen Lebensgefährten, denn wir sind nicht verheiratet – verlieren.
Schmerzhaft verziehe ich das Gesicht. So etwas mag ich mir nicht einmal vorstellen! Sterben dürfte er auf gar keinen Fall. Aber was dann? Bliebe nur, dass er mich betrügt. Ich grinse in mich hinein, denn mein Konstantin hat nicht das geringste von einem Fremdgeher! Auch wenn er sehr attraktiv ist, groß und schlank, mit einem furchtbar sympathischen Lächeln, strahlend blauen Augen ... ich lächele glücklich vor mich hin ... so zeigt er trotzdem nicht die geringsten Ambitionen, das auszunutzen. An ihm ist so gar nichts Verwegenes, in seinem Blick ist nichts Verschlagenes und sein Verhalten ist kein bisschen geheimnisvoll. Kann so ein Mann eine Frau hintergehen? Niemals! Und außerdem glaube ich nicht, dass ein Mann, der es verdient, dass man ihn liebt, überhaupt in der Lage ist, eine so großartige Frau wie meine Filmheldin zu betrügen!
Doch leider zählen solche Spitzfindigkeiten nicht. Wenn der Mann der Hauptperson nicht sterben soll, dann muss er sie betrügen und verlassen. Punkt.
Erst zögernd, dann immer zuversichtlicher, entwickele ich die Handlung auf meinem Bildschirm: Sibilles Mann Karsten – Karsten König hört sich super an für eine TV-Romanze! – fängt ein Verhältnis an, wovon sie, Sibille, die alle nur liebevoll „Billie“ rufen, nichts ahnt. Dabei stellt er sich noch nicht einmal sehr geschickt an, um seine aushäusige Liebschaft zu verheimlichen. Die Zuschauerinnen werden ihm sofort auf die Schliche kommen! Sein abwesender Blick, wenn Sibille sich an ihn schmiegt, das verräterische Zusammenzucken, wenn sein Smartphone klingelt, und dann vergisst er auch noch, dass sie zu ihrem Jahrestag ins Theater gehen wollten. Viel zu spät kommt er heim, während sie vor dem Spiegel schon die Ohrringe anlegt, als letzten Handgriff, bevor sie startklar ist. Nölend fragt er, ob dieses Event, auf das sie sich so sehr gefreut hat, denn wirklich sein muss. Und während vor dem Bildschirm bei Prosecco und Schokolade die Stirn gerunzelt wird und jeder halbwegs versierten Zuschauerin klar ist, was die Uhr geschlagen hat, ist Sibille, die dusselige Kuh, beziehungsweise die naive Ehefrau, voll des Verständnisses für ihren hart arbeitenden Gatten und ahnt nichts. Dafür ist sie viel zu gutmütig, glaubt zu fest an die Liebe ihres Lebens und kann sich einen solchen Verrat von dem Mann, der ihr die ewige Treue geschworen hat, nicht vorstellen!
Während ich den treulosen Ehemann und seine treudoofe Gattin an meinem Rechner skizziere, schmunzele ich vor mich hin. So ein Blödsinn! Wie soll eine Frau so naiv sein, dass sie nicht merkt, wenn der eigene Mann sich umorientiert? Meinetwegen – in einem sinnentleerten Schundfilm ist das wohl möglich. Aber im wahren Leben würde jede Frau, die nicht ganz doof ist, ihrem Gatten schnell auf die Schliche kommen. Alleine schon deshalb, weil Frauen viel sensibler sind für Veränderungen im Verhalten oder im Tonfall ihres Liebsten, und erst recht für einen verräterischen Duft am oder einen Fleck auf dem Hemd! Außerdem sind sie misstrauischer, weil sie selbst auch viel gerissener sind, als Männer es mit ihrer fantasielosen Art sein können. Und da sich so eine Affäre nur selten in fünf Minuten zwischen Tür und Angel oder in der Besenkammer abspielt, braucht man Zeit und hinterlässt Spuren. Beides ist verräterisch und bringt die Sache unweigerlich ans Licht!
Missbilligend schüttele ich den Kopf. Doch trotz meiner Zweifel an der Logik der Geschichte muss ich Sibille so anlegen, dass sie selbst bei den gröbsten Schnitzern ihres Gatten zunächst nichts von seinen Umtrieben bemerkt. Nur die Zuschauerinnen werden ahnen, was da außerhalb des ehelichen Schlafgemachs vor sich geht!
Nach und nach baut sich die Handlung um die Heldin und ihren ehebrecherischen Gatten in meiner Vorstellung auf. Ich sehe die beiden vor mir, in ihrem schicken kleinen Häuschen in einer beschaulichen, von Bäumen flankierten und mit Kopfstein gepflasterten Straße. Das perfekte Paar in einer perfekten Umgebung. Sympathisch und bei Nachbarn und Kollegen gleichermaßen gut gelitten – jedenfalls sie.
Dann stelle ich mir Sibille vor, die nette, hübsche, beliebte kleine Blondine, wie sie wie jeden Tag das Haus verlässt, tief Luft holt um die morgendliche Frische zu genießen, bevor sie mit einem fröhlichen Gruß an den Rentner von nebenan, der gerade seine Rosen schneidet, aufs Fahrrad steigt und zur Arbeit fährt.
Fahrradfahren ist gut! Es zeigt Sibille umweltbewusst, naturverbunden und außerdem herrlich bescheiden.
Ihr Karsten ist da natürlich ganz anders! Gestresst und mit Blick auf seine teure Armbanduhr eilt er aus dem Haus, verschwendet keinen Blick an seine Umgebung und schon gar nicht an den alten Nachbarn von nebenan, der die Hand zum Gruß hebt und sogleich enttäuscht wieder sinken lässt, weil er realisiert, dass Karsten nur Augen für die Fernbedienung seiner Garage hat, in der sein Sportwagen auf ihn wartet. Nachlässig wirft der Ignorant seinen Mantel und die Aktentasche auf den Beifahrersitz und setzt mit so viel Schwung rückwärts aus der Garage, dass er fast eine junge Mutter mit Kinderwagen rammt, die gerade an seiner Einfahrt vorbeigeht. Die junge Frau und der Rentner schütteln nur den Kopf über so viel Rücksichtslosigkeit, während Karsten – ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, wie er nun einmal ist – nichts von all dem bemerkt. Mit aufheulendem Motor düst er die eben noch beschaulich friedliche Straße hinunter, die auch gleich darauf wieder in ihren Dornröschenschlaf versinkt.
Es leben die Stereotype! Hier reicht bereits eine kurze Szene, um alles über ein Paar zu wissen, weil es glücklicherweise schon tausende von Filmen mit arroganten Anzugträgern wie ihm und unschuldigen jungen Frauen wie ihr gibt. Eigentlich ist nun alles gesagt und den Rest kann man sich denken. Aber es gilt ja noch die verbleibenden achtundachtzig Minuten zu füllen, und das am besten so, dass die Geschichte, die jetzt sowieso schon jeder im Kopf hat, ohne nennenswerte Irritationen bis zum glücklichen Ende ablaufen kann.
Ich grinse in mich hinein. Man stelle sich einmal vor, dass tatsächlich die nächsten sechsundachtzig Minuten wie allseits erwartet ablaufen und erst ganz zum Schluss Sibille plötzlich die Kettensäge anwirft, um ihrem Gatten ihre Argumente zu verdeutlichen, oder Godzilla einen Gastauftritt hat. Für mich wäre das ein Grund, wieder mehr fernzusehen! Doch leider ist das undenkbar und deshalb wende ich mich seufzend dem klassischen Handlungsschema zu.
Die nächste Einstellung zeigt Sibille, als sie ihr Rad vor einem großen, gläsernen Bau in der Innenstadt abschließt. Hier arbeitet sie, und der Einfachheit halber wird sie sich auch hier verlieben, nämlich in ihren Chef. Und der ist ... Au ja, der ist der Chef der PR-Abteilung! Das ist gut! Da kann ich aus dem Vollen schöpfen – schließlich habe ich selbst jahrelang in so einer Krabbelgruppe für Verhaltensgestörte gearbeitet. Eine sich langsam am Arbeitsplatz entwickelnde Romanze dürfte für mich nicht schwer zu konstruieren sein!
Ich erinnere mich an die Ausführungen von Herrn Hansen und lasse Sibilles Vorgesetzten erst einmal recht unsympathisch und kaltschnäuzig daherkommen, weil sich das schickt für den männlichen Helden. Am Ende wird sich das natürlich als Missverständnis herausstellen, wenn er zum wahren Gentleman und liebestollen Romantiker wird, der alles für die Frau seines Herzens tun und sie auf Händen tragen wird. Wahre Helden machen das sogar dann, wenn die unwiderstehliche Heldin ein paar Kilo zu viel auf den Hüften hat!
Ich bin begeistert von meinen Ideen. So passt es!
Mit großem Engagement haue ich in die Tasten und der Bildschirm füllt sich mit Buchstaben. Ich schaue erst wieder auf, als ich einen Schlüssel im Schloss der Wohnungstür höre. Schockiert stelle ich fest, wie leicht es mir plötzlich gefallen ist, mich in das Geschehen hineinzudenken. Widerwillig muss ich zugeben, dass es mir sogar Spaß gemacht hat, diese völlig abgehobene Geschichte, die jedoch realitätsnah wie aus dem wahren Leben gestohlen daher kommen muss, aufzuschreiben.
Ich schaue auf die Uhr rechts unten am Bildschirmrand. Was, schon so spät? Es ist bereits nach zehn. Mist! Eigentlich wollte ich etwas zu Essen vorbereitet haben, wenn Konstantin nach Hause kommt. In letzter Zeit verwöhne ich ihn gerne mit Aufmerksamkeiten, weil er so viel arbeiten muss und am Ende eines langen Tages kaum noch in der Lage ist, auch nur ein einziges Wort von sich zu geben.