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Hm. Sollte der Freitagabend in der Bar vielleicht doch nicht so völlig ergebnislos verlaufen sein, wie ich ihn in Erinnerung hatte? Hatte ich eventuell einen sehr zurückhaltenden Verehrer gehabt, den ich gar nicht bemerkt hatte? Hatte dieser Jemand heimlich seine Karte in meine Jackentasche gesteckt in der Hoffnung, dass ich genauso neugierig war, wie man es Frauen nachsagte, und anrief?
Huch!
Konnte es vielleicht sogar dieser höchst attraktive große Dunkelhaarige gewesen sein, der mir zwar aufgefallen war, ich ihm jedoch nicht – jedenfalls hatte ich das bis jetzt geglaubt? Hatte ich dem Leben vielleicht doch überzeugend gezeigt, wie ernst ich es gemeint hatte mit dem „Loslassen“? Und hatte sich das Leben entsprechend beeindruckt gezeigt und endlich, aber auch wirklich auf den allerletzten Drücker, den Traumprinzen in mein Leben gezaubert, der schon so lange überfällig war?
Eine Flut von Fragen rund um die Visitenkarte, die unschuldig auf meinem Sideboard lag, türmte sich innerhalb von maximal einer Zehntelsekunde vor mir auf. Die zweite Zehntelsekunde brauchte ich, um zum Sideboard zu hasten, die Karte zu ergreifen und umzudrehen. Und die dritte, um zu lesen, was darauf stand:
Dr. Siegbert Gärtner, Praxis für Psychotherapie und Hypnose. Darunter eine Adresse und eine Telefonnummer.
Ein Psychotherapeut?
„Warum nicht?“, dachte ich gut gelaunt. „Dann ist er eben Psychotherapeut! Von irgendwas muss er schließlich leben. Vielleicht kann ich den ja tatsächlich gerade gut gebrau...“
Ich stockte. War das ein Zufall? Hatte mir das Schicksal, dieses hintertriebene Luder, ausgerechnet einen Psychotherapeuten geschickt, der in der Latino-Bar auf mich aufmerksam wurde? Das war ja wohl die Höhe! Ich war doch nicht bekloppt! Ich war verzweifelt!!! Sollte das einer dieser überflüssigen Scherze sein, die das Leben von Zeit zu Zeit bereit hielt, wenn es Langeweile und schlechte Laune hatte?
Misstrauisch betrachtete ich die Karte genauer. „Siegbert“, las ich noch einmal. Hm. Sollte der hübsche Dunkelhaarige tatsächlich mit so einem Namen gestraft sein? Wie abartig! Kein Wunder, dass er Therapeut geworden war!
Aber irgendwie schien mir das nicht recht wahrscheinlich zu sein. Ich dachte nach. Hatte sich wirklich irgendjemand in dem Laden befunden, der so alt war, wie sich der Name anhörte? Möglich wär‘s. Die Bar war voll gewesen und ich ebenso. Meine Erinnerungen an jenen Abend waren mit Sicherheit nicht die zuverlässigsten!
Irgendetwas an dieser Karte ernüchterte mich. Sie las sich einfach nicht so, wie ich mir eine Karte von meinen Traumprinzen vorstellte. Auch sah sie nicht so aus, als könnte sich dahinter ein neues, erstrebenswertes Leben verstecken, und die Berufsbezeichnung „Psychotherapeut“ irritierte mich sehr!
Dennoch – hatte ich eine Wahl?
Ich wusste, ich würde anrufen und versuchen herauszufinden, wer dieser Mensch war. Meine Neugier ließ gar nichts anderes zu! Und meine Überzeugung, dass das Schicksal sich bei dieser Sache irgendetwas gedacht haben musste, auch nicht. Schließlich war ich nachts im dunklen Park fast ertrunken, auch wenn ich wohl nicht in den Fluss, sondern nur auf den schmalen Uferstreifen unterhalb der Böschung gefallen war. Immerhin hatte mir das zweieinhalb Tage im Krankenhaus eingebracht und das fand ich im Vergleich zur sonstigen Ereignislosigkeit in meinem Leben höchst dramatisch! Auch wenn ich diese Ereignisse vielleicht ein kleines bisschen provoziert hatte mit meinem nächtlichen Ausflug zum Fluss, um halbwegs besoffen herauszufinden, wie sich „ins Wasser zu gehen“ wohl anfühlen mochte, so musste es dennoch eine Bedeutung haben, dass diese Karte in meiner Jacke war! Und: Es musste irgendwohin führen, wenn ich diesem Hinweis des Schicksals folgte. Es gab keine belanglosen Zufälle, wenn man vor der Entscheidung zwischen Leben und Tod stand!
Jetzt beschäftigte mich nur noch eine Frage: Wann war die beste Zeit, um diesen Mann anzurufen?
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Es war früher Abend. Ich meinte mich zwar daran erinnern zu können, dass mein behandelnder Arzt im Krankenhaus etwas davon gesagt hatte, dass Alkohol in der nächsten Zeit nicht gut für mich sei, aber so etwas sagen Ärzte immer. Sie können gar nicht anders. Genauso, wie sie sagen, dass man unbedingt das Rauchen aufgeben und sich gesünder ernähren soll. Ich fand, Alkohol war jetzt das Beste, was ich mir antun konnte. Schließlich litt nicht nur mein Kopf an Gehirnerschütterung, sondern vor allem mein Innerstes an Seelenerschütterung! Deshalb tat ich gut daran, mich bei einem Gläschen Prosecco mit einer Winzigkeit Aperol auf Eis zu entspannen. Außerdem konnte ein wenig alkoholbedingte Lockerheit nicht schaden, wenn ich vorhatte, mein Leben wieder in die Hand zu nehmen und diese Chance, die das Schicksal mir kurz vor knapp vor die Füße geworfen hatte, sorgsam aufzulesen und zu nutzen. Gleich würde ich erfahren, was hinter dieser unscheinbaren und eher nüchtern wirkenden Visitenkarte auf mich wartete!
Ich nahm noch ein Schlückchen zur Aufmunterung, dann mein Telefon in die Hand, legte die Visitenkarte zurecht und wählte die dort angegebene Nummer. Ich war zugegebenermaßen ziemlich aufgeregt: Würde sich jetzt das Geheimnis lüften und ich mich daran erinnern können, wer dieser geheimnisvolle Mensch war, der mir seine Karte unter diesen mysteriösen Umständen zukommen lassen hatte?
Im Hörer tutete es. Ich ermahnte mich zur Ruhe und dazu, damit aufzuhören, die Eiswürfel im Glas mithilfe des Strohhalms hektisch im Kreis zu jagen.
„Gärtner“, ertönte es aus dem Hörer. Es war eine angenehme Stimme, wie ich beruhigt feststellte. Aber auch tatsächlich eine nicht mehr ganz neue.
„Hallo Siegbert“, antwortete ich und bemühte mich möglichst ruhig und tief zu sprechen – und vor allem nicht zu husten, was mir leider häufig passierte, wenn ich aufgeregt war. Dann versuchte ich, möglichst cool den Text zu rezitieren, den ich mir zurechtgelegt hatte. Unvorbereitet würde ich nie einen Mann anrufen, den ich nicht kannte, und der mir in meiner Lieblings-Bar eine Visitenkarte zugesteckt hatte!
„Ich habe hier eine Karte von dir. Dr. Siegbert Gärtner – hübscher Name“, log ich. „Ich heiße übrigens Hilde. Ich hoffe, du weißt noch, wer ich bin?“
Mit dieser Formulierung, die alles Mögliche bedeuten konnte, plante ich, mein Gegenüber ein wenig aus der Reserve zu locken. Wer konnte schon wissen, wo und in welchen Zusammenhängen der Herr Dr. Gärtner seine Visitenkarten unter das Weibsvolk schmiss? Und tatsächlich: Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Ich schien Siegbert irritiert zu haben! Vermutlich klapperte er gerade fieberhaft alle Zusammentreffen der letzten zwei Wochen ab, an deren Ende er seine Karte irgendwo hinterlassen hatte.
„Ups“, gurrte ich gut gelaunt, „erwischt! Der Herr Doktor beliebt des Öfteren, seine Visitenkarte konspirativ in die Taschen attraktiver Frauen zu schmuggeln. Und jetzt überlegt er, welcher der vielen auf diese Weise eroberten Kontakte ich wohl sein könnte?“
Ich lachte leise und hoffte, dass es charmant klingen möge. Leider kippte meine Stimme am Ende um zu einem Kiekser und ich schlug erschrocken die Hand auf meinen Mund. Himmelherrgottnocheins! Vielleicht hätte ich doch ein bisschen sparsamer mit dem Aperol umgehen sollen! Die Flüssigkeit im Glas hatte eine gefährlich tieforangefarbene Färbung gehabt!
Am anderen Ende der Leitung war immer noch nichts zu hören.
„Entzückend! Vielleicht sollte ich dir einen kleinen Hinweis geben?“, riet ich und fing an, mich sicherer zu fühlen. Langsam entwickelte ich Spaß an der Angelegenheit! Dieser Siegbert schien ein bisschen schüchtern zu sein, obwohl er Psychotherapeut war. Musste so einer nicht den ganzen Tag reden? Oder nein – er ließ vermutlich reden und saß mit nachdenklich auf seine Hände gestütztem Kopf da und lauschte. Vielleicht reichte er auch ab und an mal ein Taschentuch oder tätschelte beruhigend die Hand einer Klientin, die gerade von ihrer katastrophalen Kindheit berichtete!
„Aaalsoo ...“
Ich zog das „also“ ganz lang und hoffte, dass es unwiderstehlich charmant und selbstsicher `rüberkam. Irgendwie reizte dieser schüchterne Psychodoktor mich dazu, mit ihm zu flirten! Ich war sicher, ihm im Nullkommanichts den Kopf verdrehen zu können. Er schien fast ein bisschen hilflos zu sein, wie er da vor sich hin schwieg. Wahrscheinlich eine leichte Beute, schnell zu beeindrucken und vor allen Dingen – harmlos! Das gab mir ein Gefühl von Überlegenheit und damit die nötige Sicherheit, um ein wenig mit ihm zu spielen. Ich fand, das war genau das, was ich gerade brauchte: Ein kleiner Flirt, der mein Selbstbewusstsein aufbaute, mit einem Mann, von dem keinerlei Gefahr ausging, und vor allem in einer Konstellation, in der ich eindeutig die Souveränität hatte, das Gespräch zu lenken, wohin ich es lenken wollte!
„Ich bin die zierliche, schlanke Rothaarige, die Caipirinha getrunken hat. Schwarzes Jackett und Leopardentop. Ich hoffe, du erinnerst dich?“, fragte ich mit naiv-verführerischer Stimme. Mann, machte das Spaß! Und ich konnte es mir leisten! Schließlich hatte dieser Kerl mir seine Visitenkarte zugesteckt. Also würde er mich auch für entsprechend attraktiv halten und mir aus der Hand fressen!
Doch am anderen Ende der Leitung blieb es immer noch still. Meine Güte, das wurde jetzt aber langsam anstrengend!
„Freitag ...“, flüsterte ich, „... abend“, ergänzte ich nach zwei Sekunden Pause lasziv.
Ich wartete. Ich hörte immer noch nichts. Hatte ich es vielleicht übertrieben? War der Mann am anderen Ende der Leitung vielleicht dermaßen schüchtern, dass eine Frau, die so souverän und weltgewandt auftrat wie ich, und die so erfahren im Umgang mit Männern wirkte, ihn überforderte?
Als nach einer Weile am anderen Ende der Leitung immer noch nichts passierte, flötete ich „Hallo? Jemand Zuhause?“ in den Hörer. Ich hoffte, ich würde damit dem schüchternen Siegbert signalisieren, dass ich zwar eine unheimlich souveräne und weltgewandte Frau war, aber eben auch eine mit Humor, vor der der kleine Siegbert sich nicht fürchten musste, weil sie ganz lieb war und ihm nichts tun würde. Aber auch danach rührte sich am anderen Ende der Leitung nichts.
Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit, während der mich nur die Tatsache, dass ich mir einfach nicht darüber klar werden konnte, was ich von der Angelegenheit halten sollte, davon abhielt aufzulegen, hörte ich endlich ein Räuspern.
Aha! Es lebte!
„Ja, ich bin zuhause“, kam es vom anderen Ende der Leitung, „oder besser gesagt: Ich bin noch in der Praxis. Aber das wissen Sie ja – das steht ja auf der Visitenkarte.“
Nun war ich an der Reihe verwirrt zu sein. Zuhause, Praxis – war das mein Problem, wo er sich gerade befand? Aber vielleicht hatte ich den kleinen Siegbert einfach überrumpelt und er musste halt irgendetwas sagen, um die Zeit zu überbrücken bis zu jenem Moment, wo er wusste, was er der begehrenswerten Frau mitteilen wollte, der er seine Karte zugesteckt hatte. Ich beschloss, ihm diese etwas lahme Eröffnung der Konversation seinerseits nachzusehen. Psychotherapeuten halt. Tse! Von denen war ja bekannt, dass sie selbst ihre besten Kunden waren!
„Und natürlich erinnere ich mich an Sie. Ich fische nicht so oft Frauen aus dem Fluss bei meinen abendlichen Spaziergängen im Park.“
Ich erstarrte. Was hatte er gerade gesagt?
„Es scheint Ihnen wieder besser zu gehen. Wie schön! Ich habe heute im Klinikum angerufen und wollte mich nach Ihnen erkundigen. Man sagte mir aber nur, dass Sie das Haus bereits verlassen hätten. Das hat mich beruhigt.“
„Ah ja“, war alles, was ich dazu sagen konnte.
Obwohl ...
Wie romantisch war das denn!!! Mein heimlicher Verehrer hatte mein Leben gerettet! Just in dem Moment, wo es für mich keinen Sinn mehr gehabt hatte! Wo ich ernsthaft entschlossen war, den aussichtslosen Tatsachen ins Auge zu sehen und alles fast schon vorbei gewesen war, da hatte mich im wahrsten Sinne des Wortes mein Traumprinz zurück ins Leben gezogen. Unglaublich! Fast hätte ich geseufzt: „Oh Siegbert!“
Doch Siegbert setzte seine Rede bereits fort.
„Sie wirkten etwas verwirrt, als Sie kurzzeitig bei Bewusstsein waren. Ich hatte das Gefühl, sie bräuchten vielleicht meine Hilfe. Deshalb habe ich Ihnen meine Visitenkarte in die Tasche gesteckt. Und ich freue mich wirklich, dass Sie diesen Schritt gewagt und mich angerufen haben.“
Mein Retter!!! Jetzt erinnerte ich mich schemenhaft an die dunkle Gestalt, deren Kopf ich im spärlichen Gegenlicht einer Straßenlaterne gesehen hatte, und der mir erschienen war wie der Heilige Geist persönlich. Natürlich! Diese Stimme! War sie mir nicht gleich so seltsam vertraut erschienen? Diese angenehme, tiefe Anmutung! Aber das war nicht der Heilige Geist gewesen, der mir den Weg in den Himmel bahnte. Das war er gewesen! Mein Held! Mein Siegbert, der mir den Weg zurück ins Leben wies! Und wie ritterlich seine Ausdrucksform: „Ich freue mich wirklich, dass Sie diesen Schritt gewagt haben“. So konnte nur ein Mann mit Erfahrung sprechen! Vielleicht war so ein reiferer Herr genau das Richtige für mich?
„Ich schlage vor, wir kürzen das Ganze hier ab – ich bin auch schon auf dem Sprung meine Praxis abzuschließen.“
Ja!!! Wow, wie schnell das Leben plötzlich in die Hufe kommen konnte, wenn es wollte! Das versprach noch ein ereignisreicher Abend zu werden. Wo würde er mich wohl treffen wollen? Vielleicht wieder im Park, am Fluss, dem Ort unserer ersten Begegnung?
„Wenn Sie Zeit haben – vorhin hat ein Klient abgesagt, der morgen Nachmittag um 16:00 Uhr einen Termin bei mir hat. Die Sitzung können Sie haben!“
Stille, dieses Mal allerdings meinerseits.
Siegbert fuhr fort: „Ich nehme auch Kassenpatienten. Das macht bei mir keinen Unterschied. Bringen Sie einfach Ihre Karte mit. Die Überweisung von Ihrem Hausarzt können Sie auch später nachreichen.“
Wodurch ich erkannte, dass mein Leben depressiv war
Ich weiß nicht, wie ich erklären soll, dass ich nach diesem Telefonat nicht aus dem Küchenfenster meiner Zwei-Zimmer-Altbau-Wohnung in den Hinterhof gesprungen bin, sondern tatsächlich am nächsten Tag um 15:59 Uhr an der Tür eines zu einer Gemeinschaftspraxis umfunktionierten, zweistöckigen Wohnhauses am Stadtrand klingelte. Vielleicht lag es an meiner Wohnung, die in der dritten Etage und damit nicht besonders hoch gelegen war – der Ausgang der Angelegenheit war mir zu ungewiss. Schließlich hatte vor ein paar Tagen mein erster, mehr oder weniger unfreiwilliger Versuch, aus dem Leben zu scheiden, ja auch nicht in den Himmel, sondern nur ins Klinikum geführt, und mit dem Ergebnis war ich nicht zufrieden gewesen!
Ich hatte die dem Telefonat folgende Stunde mit einer Abfolge emotionaler Abgründe verbracht, wie ich sie in dieser Intensität noch nicht gekannt hatte. Zunächst war da die Schockstarre gewesen, die ich minutenlang, immer noch mit dem Hörer in der Hand, auf meinem Sofa zugebracht hatte, obwohl Siegbert – oder in Zukunft wohl doch eher Herr Dr. Gärtner – längst aufgelegt hatte, nachdem er mir noch einen schönen Abend gewünscht hatte. Ich hatte mich gefühlt, als wäre ich von einer Dampfwalze überrollt worden, und war unfähig gewesen zu begreifen, dass sich das, was ich zuvor erlebt hatte, tatsächlich abgespielt hatte. Nachdem ich begann, das Erlebte wenigstens für möglich zu halten – schließlich hielt ich den Telefonhörer noch in meiner Hand – wurde meine Empörung darüber geweckt, wie das Leben, dieses unaussprechlich hintertücksche Luder, mir so einen grausamen Streich hatte spielen können. Wie sehr wollte es mich denn noch demütigen? War ich nicht bereits ausreichend am Boden zerstört? Meine Empörung wanderte vom Leben weiter zu Herrn Dr. Gärtner, der durchaus, wie ich fand, schon etwas früher seinen Teil dazu hätte beitragen können, das Missverständnis aufzulösen. Anschließend überfiel mich siedend heiß die Scham über meinen unter diesen Umständen unsagbar peinlichen Monolog, der auf der Annahme gründete, ich hätte es mit einem heimlichen Verehrer und nicht mit einem altruistischen Menschenversteher zu tun. Und schließlich quälte ich mich mit der Frage, wie unendlich jämmerlich und verzweifelt ich am vorherigen Freitag gewirkt haben musste, wenn der einzige Mann, der mich hatte kennenlernen wollen, ein Psycho-Pate war, der Mitleid mit einer total kaputten Existenz hatte!
An dieser Stelle hatte ich mir einen weiteren Aperol Spritz gemixt, dem Universum zugeprostet und mich für das aufmunternde Selbstbildnis, das es mir gerade großzügig beschert hatte, bedankt. Mehr brauchte es meiner Meinung nach nicht, um mich tief in den schauderhaften Sümpfen der gnadenlosen Realität zu versenken und daran zu verzweifeln. Und hier schloss sich der Reigen und ich begann von vorne, das Leben, das unaussprechlich hintertücksche Luder, zu verfluchen.
Nachdem ich diese Abfolge von Einsichten in mein zweifellos groteskes Schicksal einige Male mithilfe weiterer Prosecco-Mischungen durchexerziert hatte, kam ich zu dem Schluss, dass ich – wenn ich schon in den Augen anderer eine bemitleidenswert kaputte Existenz war – diesen Zustand auch mit Würde tragen konnte. Und das bedeutete, dass eine Klarstellung der Situation gegenüber Herrn Dr. Gärtner unbedingt nötig war! Zumindest sollte mir das dabei helfen können, dieses traumatische Telefonat zu verarbeiten. Da ich glücklicherweise noch krank geschrieben war und mich nicht gleich am nächsten Tag zurück in die vom Wahnsinn umjubelten Hallen meiner Arbeitsstelle begeben musste, war auch der vom Herrn Doktor vorgeschlagene Termin um 16 Uhr für mich realisierbar.
Nachdem ich diesen Entschluss gefasst hatte, hatte ich endlich ein wenig entspannen und recht angetüdelt auf meinem Sofa einschlafen können.
Und nun stand ich um 15:59 Uhr vor dem Eingang dieses quietschgelb gestrichenen Hauses und wartete. Während ich wartete, sah ich mich um: Oberhalb der Tür war ein JingundJang-Zeichen angebracht, das mich durchdringend musterte. Links von mir, an einem Balken des Vordachs, hing ein Windspiel, welches wegen Flaute gerade nicht spielte. Rechts vom Eingang plätscherte Wasser über ein paar Keramikkugeln und verschwand in einem kleinen Becken.
„Aha“, dachte ich, als ich mit Befremden diese Anzeichen esoterisch geprägter Gestaltungskultur wahrnahm.
Ich warf einen Blick auf das Schild links neben der Tür, welches das Haus als „Zentrum für ganzheitliche Heilkunst“ auswies. Darunter waren Namen von Therapeuten sowie eine beeindruckende Anzahl von unterschiedlichen Professionen vermerkt: Von Ayurveda über Basenfasten, Energiearbeit, Focusing, Heilsingen und Kerala Fußmassage bis hin zu Ohrakupunktur, Schröpfen, Tarot-Beratung und Zungendiagnostik – um nur eine bescheidene Auswahl zu nennen – war alles vertreten, was ich nicht mit mir in Verbindung bringen konnte. Ich nahm es entsprechend distanziert zur Kenntnis.
Unter diesem aufwändig gestalteten Schild war noch ein sehr viel kleinerer, im Gegensatz zu dem obigen auffallend schmuckloser Hinweis angebracht, welcher auf meinen Lebensretter hinwies: Dr. Siegbert Gärtner, Psychotherapie und Hypnose, 1. Stock. Ich fand, dass selbst Hypnose im Zusammenhang mit den oben genannten Aktivitäten geradezu spießig wirkte.
Ich hatte meinen Lebensretter bei unserem ersten Zusammentreffen nur als dunkle Gestalt mit einem hellen Schein um den Kopf herum wahrgenommen. Auch das Telefonat hatte keinerlei Aufschluss darüber gebracht, wie dieser Mann tatsächlich aussah, dem ich gleich gegenüberstehen würde. Nicht einmal sein Alter konnte ich schätzen. Meine diesbezügliche Annahme beruhte einzig und allein auf seinem Vornamen „Siegbert“, und demnach musste er mindestens hundert sein. Dass er mir darüber hinaus unsympathisch sein würde, wusste ich seit unserem gestrigen Telefonat.
Angesichts von Windspiel, Heilsingen und Co. entstand nun in meiner Fantasie das Bild eines kleinen, dicken, einen verwanzten Wollpullover tragenden Mannes mit Nickelbrille, ausgebeulter Cordhose und komplett abgelatschten Gesundheitsschuhen, der einen selbstgetöpferten Becher mit Tee vor sich hertrug, aus dem es ab und zu tropfte, weil er ihn in Ermangelung ausreichender Aufmerksamkeit und Körperspannung ständig gefährlich schräg hielt. Herr Dr. Gärtner wurde mir mit jeder Sekunde, die ich vor der Tür wartete, unsympathischer!
Ich schärfte mir erneut ein, mich auf gar keinen Fall auf eine Therapie oder Ähnliches einzulassen. Zwar hatte mein Lebensretter das gestern Abend ziemlich uncharmant so verfügt, doch ich zog es vor, einfach nur das durch meine Fehleinschätzung entstandene Missverständnis auszuräumen, mich dafür zu bedanken, dass er mich aus dem Wasser gezogen hatte, und dann wieder zu verschwinden. Das Ganze war mir zwar unangenehm, weil Herr Dr. Gärtner einen ganzen Termin für mich freigehalten hatte und sicher erwartete, neue Kundschaft akquiriert zu haben, doch ich plante in dieser Angelegenheit hart zu bleiben. Und vielleicht sollte ich jetzt, solange auf mein Klingeln noch keine Reaktion erfolgte, einfach die Gelegenheit nutzen und wieder verschwinden? Ich hatte es versucht – ehrlich! Aber wenn niemand öffnete – was konnte ich dafür?
Kaum hatte ich das gedacht, da ertönte auch schon der Türsummer. Es war Punkt 16:00 Uhr. Ich seufzte. Schade! Hätte das Schicksal nicht einmal etwas unkompliziert in meinem Sinne regeln können? Aber vermutlich hätte mich dann doch irgendwann das schlechte Gewissen gepackt, weil ich einen verabredeten Termin nicht ordnungsgemäß wahrgenommen hatte. Also fügte ich mich der Vorsehung und drückte die Tür auf. Was hatte ich noch gleich sagen wollen? Ach ja: „Guten Tag, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Wie, Sitzung? Nein, nein, das ist wohl ein Missverständnis ...“
In dem kleinen, orangefarben gestrichenen und mit Terracotta-Fliesen ausgelegten Eingangsbereich fiel mir zunächst ein rotes Etwas aus Ringen, Puscheln und Federn auf, das von der holzgetäfelten Decke hing. Vielleicht ein Fliegenfänger, nur ohne Fliegen? Hm. Ich berührte es vorsichtig mit den Fingerspitzen, doch es schien nicht klebrig zu sein. Seltsam. Oder sollte es möglicherweise böse Geister fernhalten? Ich grinste. Dann könnte ich so ein Gerät bei mir im Büro ausprobieren und schauen, ob es auch gegen meinen Chef wirkte!
Unter dem seltsamen Etwas, gleich neben der Tür, die weiter in das Hausinnere führte, stand ein Regal mit Schuhen. Altmodische, ausgeblichene rote Damenstiefel aus Wildleder – wann waren die denn mal modern gewesen? – standen neben klobigen, ausgetretenen Herrensandalen. Darunter befanden sich ein Paar Turnschuhe und dunkelblaue Ballerinas mit Schleifchen. Gleich daneben bemerkte ich ein Schild: „Bitte ziehen Sie die Schuhe aus, um keine schmutzigen Energien in den inneren Raum zu tragen. Danke!“
Ich stutzte. Galt das auch für Besucher? Solche wie mich? Sollte ich wirklich meine Schuhe ausziehen, oder machte ich mich damit in den Augen des Psychotherapeuten, den ich aufzusuchen gedachte, erneut verdächtig, weil sich diese Aufforderung natürlich nur an den Heilsing-Kreis richtete und nicht an normale Menschen? Und würden meine Schuhe noch dort stehen, wenn ich die Praxis wieder verlassen wollte? Wer garantierte das? Wie sollte ich im Falle eines Falles ohne Schuhe nach Hause kommen? Ich überlegte einen Moment lang, ob ich es ohne Aufsehen zu erregen schaffen könnte, auf Socken bis zu meinem Auto zu gelangen. Zumindest theoretisch schien mir das möglich zu sein, wenn es auch Überwindung kosten würde!
Nachdem ich abgewogen hatte, ob es nun unangenehmer wäre, den Hinweis falsch zu deuten und irrtümlich auf Socken durch die Praxis zu rennen oder von einem empörten Insassen auf meine Dreistigkeit hingewiesen zu werden, das Haus durch schmutzige Energien entweiht zu haben, entschied ich mich schließlich dafür, mich vorübergehend von meinen Schuhen zu trennen. Sie waren sowieso nicht mehr ganz neu.
Beim Ausziehen stellte ich erleichtert fest, dass ich morgens ein Paar verhältnismäßig neue Socken erwischt hatte. Zwar achtete ich gemeinhin sehr auf meine Garderobe, doch zugegebenermaßen vernachlässigte ich meine Strümpfe, weil ich normalerweise nicht in die Verlegenheit geriet, diese der Öffentlichkeit präsentieren zu müssen.
Schon ein wenig stolz auf meine zufälligerweise ansehnliche Fußbekleidung verließ ich den Eingangsbereich durch die angelehnte Tür, die in einen großen Flur führte, und stieg die mit grober Naturfaser bespannten Treppenstufen empor. Auf einem Absatz in mittlerer Höhe begegneten mir auf einem kleinen Rattan-Tisch große rosafarbene Salzkristalle, die hinter einer goldfarbenen Statue drapiert waren, die vermutlich Buddha darstellen sollte, aber ich kannte mich da nicht so aus. Gab es noch andere dicke, sitzende Heilige, von denen Statuen gefertigt wurden?