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Im Grunde genommen müsste man die Musik dazu hören. Aber für jemanden, der in der europäischen Musiktradition aufgewachsen ist, ist hier eigentlich keine Musik zu hören. Nur ein Grunzen, Stöhnen, Kreischen der „Shouter“ genannten Sänger, begleitet von wahnsinnig schnell hämmernden Rhythmen, in einer Lautstärke (live) von 100 Dezibel und mehr. In der Industrial-Musikszene werden gerne auch Geräte wie Hämmer oder Kreissägen zur Begleitung eingesetzt. Das sind für mich Geräusche aus der Hölle.
Was ist das alles? Der Reiz des Verbotenen? Die Faszination durch eine dunkle, mysteriöse Welt? Das Spiel mit den Tabus? Das Vergnügen am Schock? Die Lust am Horror? Oder einfach die Auswirkung einer Musikindustrie und ihrer Abnehmer, die mit Nervenkitzel um Marktanteile kämpft und in sich eine Dynamik zur immer weiteren Steigerung des Horrors erzeugt? Von allem sicher etwas, und doch: Irgendwie äußert sich hier auch eine echte Wahrnehmung. Hier werden Mächte erfahren, deren Ausdruck von selbst zur Gestalt des Satanischen und Dämonischen drängt – und darum ist diese Szene zur Engelreligion hinzuzunehmen.
„They know something is wrong. They don’t feel comfortable in their given setting in live“52, so charakterisiert der Leader der Band Misery Index, Jason Netherton, die Stimmung bei den „Metal People“.53 Etwas, das sie falsch finden, ist offensichtlich schon das Verschweigen und Verdrängen des Todes aus der Gesellschaft. Die Gothic-Leute54 tragen schwarz, behängen sich mit Symbolen des Todes, feiern in ihrer Musik die Macht des Todes; sie verleihen dem Tod Präsenz. Womöglich lieben sie den Tod sogar. Dies jedenfalls legt der Name der Berliner Band Thanateros nahe. Ihr Texter und Sänger Benjamin Richter erklärt: „Ich denke, dass der Tod und die Liebe von zentraler Bedeutung für den Menschen sind. Der Tod als der große unbekannte Gegenspieler des Lebens, das Unfassbare, Dunkle. Aber ohne Tod kein Leben. Unsere westliche, moderne Kultur versucht gerade alles zu tun, um den Tod […] zu verdrängen. Die Alten werden aus dem Blickfeld geräumt; man hat ewig jung und fit auszusehen; Todkranke werden an Maschinen angeschlossen, um sie um jeden Preis noch für ein paar Tage länger am Leben zu erhalten.“55 Richter, der Religionswissenschaft und Ethnologie studiert hat, versteht sich als Anhänger des Schamanismus. Mit diesem, einer uralten religiösen Tradition, begreift er die Einheit von Leben und Tod in einem zyklischen, natürlichen Ablauf, in einem „Circle Of Life“, wie ein Album von Thanateros von 2003 heißt. Seinen religiös fundierten Naturalismus stellt Richter bewusst gegen das westlich säkularisierte und auch gegen das christliche Weltbild, mit Recht übrigens, denn der christliche Glaube kann der natürlichen Wahrnehmung des Todes nicht beistimmen. Richter bezieht sich auf vorchristliche, vor allem keltische Traditionen und versteht sich als praktizierender Heide. Die Anknüpfung an heidnische Religion ist ein typisches Merkmal der Gothic-Culture. Thanateros und ein der Band angeschlossener, von Benjamin Richter mitbegründeter magisch-schamanischer Adarga-Orden (zusammen mit einem Adarga-Institut) beschränken sich nicht auf die Kritik unserer todvergessenen Gesellschaft, sie wollen auch einen Weg in die Zukunft weisen: „Thanateros versuchen […] das scheinbar verlorene Erbe einer vergangenen Ära, das Gestern mit dem modernen Geist, mit dem Heute zu verbinden und so einen möglichen Weg für das Morgen zu skizzieren.“56
Doch nicht nur die Todesvergessenheit, viel mehr noch die Todesverfallenheit, ja die Faszination durch den Tod in unserer Gesellschaft bewegt die Gothic- und Metal-Szene. Die Plattencover mit den Atomkraftwerken, den verödeten Fabriklandschaften, mit dem Sieg des Meisters Tod deuten schon darauf hin. Wir sind eine Zivilisation, die auf der Macht des Todes beruht, die sich weit mehr Tod leistet, als nach dem natürlichen Zyklus angemessen ist. Diese geheime, uneingestandene Liebe zum Tod wird bei Heavy Metal ausdrücklich! Mick Mercer, der Herausgeber eines Szene-Magazins, notiert über die Anfänge des Goth: „Leben und Tod waren die verbreitetsten Themen der frühen Achtziger, wo die nukleare Bedrohung über unseren Köpfen schwebte. […] Man musste nicht lange nach Inspiration suchen. Der Verfall der Gesellschaft umgab uns überall.“57 Die amerikanische Band Sacred Reich gibt in einem ihrer Songs zu Protokoll: „Our atmosphere clouded with poison. We’re killing ourselves to live filling the world with hate and dissention. […] Our ignorance means death.“58 Gegen die Ignoranz unserer Verbrüderung mit dem Tod geht nicht nur diese Band an, die vor allem den American Way of Life mit seiner Umweltschädigung und seinem Kriegstreiben aufs Korn nimmt. Nicht die Metal-Music verbreitet morbide Stimmung, sie verschafft ihr nur Ausdruck. Die Band Cannibal Corpse, angesprochen auf die Frage, ob sie mit ihren Covers und ihrer Musik die jungen Leute nicht zur Gewalt motiviert, antwortet: „We’re not out trying to teach your children about violence. I mean, all they have to do is watch the news if they want to learn about it.“59 Es genügt also, die Nachrichten zu sehen, dann weiß man genug über die Macht des Todes in unserer Zeit. Die industrielle Produktion, die Vorherrschaft einer leblosen kalten Technik, die Herabwürdigung der Menschen zu Bedienern der Maschine und der Natur zur Ressource, zum Materiallager eines überdimensionierten Wohlstands, das ist der Hintergrund der der Gothic-Culture oft vorgeworfenen Todesfaszination. Die US-amerikanische Band Cattle Decapitation, um auch dieses Beispiel noch zu erwähnen, macht mit ihren grauenerregenden Covers und ihren Texten auf unseren wahrhaft satanischen Umgang mit Tieren aufmerksam. In einem ihrer Songs versetzen sie die Menschen selbst als Vieh ins Schlachthaus: „AAAAHHHHH! Millions of human hung up hooks suspended in deep freeze Subzero, sterile environment keeps meat tender and lean choice cuts from the slaughter. Husband, mother, daughter. Dead families kept together.“60 Hier wird etwas gesehen, was sonst verborgen gehalten wird. Die Band will nicht predigen, will nicht überzeugen. „I think the shock value we use is preaching enough“, erklärt das Bandmitglied Ryan.61
Also ist Aufklärung die Sache des Metal, oder genauer: Aufwachen aus dem Traumschlaf unserer Zivilisation. „Punk war wie ein Faustschlag genau zwischen die Augen. Er haute dich aus den Socken, wenn du ihn das erste Mal hörtest, und auf einmal bedeutete der ganze Müll um dich rum überhaupt nichts mehr. Alles sollte sich verändern und entweder hast du das sofort und instinktiv begriffen oder nichts davon abgekriegt“, berichtet der Szenebeobachter Mick Mercer über die Anfänge der Goth-Bewegung.62 Man könnte sagen, dass die sich steigernde Brutalität und Härte dieser Musik darauf aus ist, immer neue solcher Faustschläge auszuteilen. Auch Gewalt kann aufklärerische Funktion haben, ohne Gewalt wird die kulturelle Vernebelung nicht zu durchbrechen sein (das wussten schon die Propheten der Bibel!). „In einem großen Umfang glaube ich fest daran, dass gewisse Formen der Gewalt positive Auswirkungen auf die Gesellschaft haben können. […] Gewalt ist ein Stellvertreter der sozialen Veränderung und ebenso eine gültige Form des künstlerischen Ausdrucks“, so war in einem Internet-Fanzine (Fan-Magazin) der Szene zu lesen.63 Die britische Band Grey Wolves, die sich, provozierend genug, in ihrer Namenswahl an die gleichnamige rechtsradikale türkische Terrorgruppe anlehnt, hat sich diesem Aufklärungsprojekt besonders verschrieben. Es gehe darum, „the dirt behind the dream“, den Dreck hinter dem Tagtraum, bewusst zu machen. Da aber das Bewusstsein dazu neigt, sich diesem Dreck gegenüber zu verschließen, ist nicht weniger als „cultural terrorism“ nötig, um es aufzuwecken. Die Gruppe übt ihren kulturellen Terrorismus durch bewussten Tabubruch, durch das Spiel mit unmoralischen und verbotenen Themen aus. Sie hat ein eigenes „Informationsministerium“, die Homepage „Open Wound Alliance“ begründet, um auf die offenen Wunden der Gesellschaft hinzuweisen. Dort findet man verwirrende, widersprüchliche, unkorrekte und provokative Informationen, die dazu dienen, die Benutzer zu irritieren und zu medienkritischen Menschen zu machen. Man sieht sich in einen „information war“ verwickelt und kämpft in diesem Krieg mit allen Mitteln.64
Damit wird vollends deutlich, dass die Gothic- und Metal-Szene nicht nur anprangert, sondern auch auf Gegenstrategien zum miserablen Zustand unserer Gesellschaft sinnt. Dass diese Gesellschaft scheinbar so alternativlos daherkommt, „that there are no alternatives or dissenting ideas being discussed“65, das regt Jason Netherton von der Band Misery Index auf. Der Name der Band kommt von einer Art Armutsbericht in den USA, und dieser fällt Jahr für Jahr katastrophal aus. Der studierte Ökonom Netherton kämpft gegen Neoliberalismus, Turbokapitalismus und Globalisierung. Für ihn ist unsere Wirtschaftsform ein Programm zur Zerstörung des Planeten. Menschen werden zu Sklaven „der Maschine“ erniedrigt, werden zur Mordlust gegeneinander angeregt. „What remains here …? Bowing to the dollar in their selfish church of capital, where wealth encrusts their bodies, yet cancer fills their hearts? Brother will kill brother in this stained-glass abattoir called Earth“66, heißt es in dem Song „Retaliate“ in Anspielung auf das „stahlharte Gehäuse“ Max Webers. Netherton möchte die Ideen des Anarchismus und des Sozialismus wach halten, nicht als einzigen Ausweg aus der Krise, sondern um über Alternativen überhaupt nachdenken zu können. Die Rolle des Musikers ist für ihn die, Menschen eine Stimme zu geben, die sonst keine Möglichkeit haben sich auszudrücken.67
Einen viel radikaleren Weg geht die Band Dissection, die der Black-Metal-Richtung angehört. Und hier stoßen wir auch zum ersten Mal auf den vielbeschworenen Satanismus der Gothic-Szene.68 Die Band steht im Umkreis des „Misanthropisch-luziferischen Ordens“, der sich auf der Grundlage neognostischen, altgermanischen und sozialdarwinistischen Gedankenguts zu einem antikosmischen Satanismus bekennt. Das heißt, die Menschheit muss abgeschafft („misanthropisch“) und die Welt ins Nichts zurückgestoßen werden („antikosmisch“). Die Energien, die dazu nötig sind, kommen von Luzifer/Satan. „Anti-Cosmic has he function of bringing disharmonic Chaotic energies into Cosmos, this way speeding up the evolution that leads the creation back to the formless chaos that descends it from“69,so die Philosophie des „Ordens“ in einem Selbstzeugnis. Im Hintergrund steht eine gewisse politisch-religiöse Radikalisierung der skandinavischen Gothic-Szene, in deren Gefolge es zu Brandstiftungen an Kirchen und zu Morden – auch innerhalb der Szene – gekommen war.70 Von hier aus wird auch erkennbar, warum die Gothic-Szene anfällig ist für die Infiltration mit nationalsozialistischem und neofaschistischem Gedankengut. Kirche, Christentum und Demokratie sind die gemeinsamen Feindbilder. Wilde Zerstörungswut, gepaart mit der sozialdarwinistisch motivierten Hoffnung, dass eventuell die Über- oder Herrenmenschen die neue Welt regieren werden, das sind Verbindungslinien zwischen satanistischem Black Metal und der Neonazi-Szene. Rob Darken, der Frontmann der polnischen Band Graveland, erläuterte in einem Interview die Absichten der unter dem Banner NS-Black Metal zusammengeschlossenen rechten Gruppierungen wie folgt: „Der deutsche Kriegsgeist muss erwachen! Wir sollten menschenfreundliche Ideen zerstören! Aber wir tun nichts und viele Leute aus der Türkei, Neger und andere Subkulturen kommen in unsere Länder und mischen unser Blut! Sie zerstören unsere Kultur und Traditionen! Zerstören die Demokratie, das Christentum, die amerikanische Kultur. Es ist höchste Zeit, aufzuwachen und einen neuen Krieg zu beginnen!“ Die Ablehnung einer todverfallenen Kultur führt hier selbst zu Hass- und Gewaltfantasien. Oder anders: Wenn man Satan als den Herrn der Welt anerkennt, gerät man auch unter seine Gewalt.
Das Thema Neofaschismus und Metal-Kultur erfordert sicher eine differenziertere Betrachtung, als sie an dieser Stelle möglich ist. In den Texten der deutschen Gruppe Death in June entdecke ich andere Töne, die vielleicht gehört zu werden verdienen. Mit ihrem Namen erinnert die Gruppe, die in Kampfanzügen und Masken auf der Bühne erscheint und Nazi-Symbole auf ihren Covers führt, an den 30. Juni 1934, als Hitler den so genannten Röhm-Putsch niederwarf, d. h. die SA vernichtete und 200 seiner treuesten Anhänger ohne Gerichtsurteil exekutierte. In ihrem Album „Brown Book“ – der Name ist einem DDR-Dossier zur Dokumentation der Gräueltaten der Nazis entlehnt – gibt es die Zeilen:
„Wird er meine Seele halten?
Wird er mein Herz herausreißen?
Wird er, wird er
Mich zerreißen?
Eine Rose zu ertränken
[…]
Liebe ist jetzt leer
Für immer unvollständig
Ein Stich ins Herz der Hoffnung […]
Wir beten für das Ende
Wir fordern die Hinrichtung
Eines zerstörten Glaubens, der fehlt
Einer sterbenden Liebe, die vergeht“71
Ist dies vielleicht ein Stück „Poesie nach Auschwitz“, die laut Adorno zu schreiben barbarisch wäre? Wer gedenkt der missbrauchten Liebe, der zerstörten Hoffnung der damaligen jungen Generation? Und ist nach einem solchen Missbrauch von Liebe, Treue, Glaube und Hoffnung nicht die Liebe überhaupt gestorben? Was bedeutet diese historische Lektion für die jungen Menschen heute? Können sie noch lieben und hoffen? Nach Richard Leviathan, selbst ein Angehöriger der Gothic-Kultur, handelt es sich bei den Songs von Death in June um „Kunstwerke, die tief in das finstere Herz unseres historischen Gewissens eintauchen“.72 Solche Finsternis mit einem schwachen poetischen Licht zu erhellen ist auch eine Arbeit an der Todverfallenheit unserer Gesellschaft.
Doch zurück zu Satan und dem Satanismus, die natürlich in unserem Zusammenhang vor allem interessieren. Was ist darunter zu verstehen? Viele Deutungen sind möglich, so wie der Teufel ja auch viele Namen hat. Nik Page, ein deutscher Gothic-Sänger, der mit mehreren Bands zusammengearbeitet hat, steht dem Satanismus nahe.73 Er versteht unter dem Satan aber nicht „den Teufel, den die Kirche selbst erschaffen hat, um das niedere dumme Volk noch besser kontrollieren zu können“, auch nicht den „Gott der Bosheit“ oder einfach „eine Art negative Energie, die in jedem von uns steckt“, sondern, viel raffinierter, die Kraft der Versuchung, die es auf unsere Schwäche abgesehen hat, um sie in eine Stärke zu verwandeln, die uns schließlich selbst zerstört. „Mephisto [so nennt er ihn im Anschluss an Goethes Faust] beweist uns Tag für Tag, dass der Mensch jede großartige Erfindung früher oder später in ein Instrument der Zerstörung verwandelt … und dennoch haben wir ihm den luxuriösen Alltag unserer Konsumgesellschaft zu verdanken, den niemand freiwillig missen will.“ Es ist also der Teufel, der im Kapitalismus steckt und dem alle tatsächlich dienen. In genialer Umdichtung erzählt Nik Page den Mythos vom Engelssturz neu: Die drolligen kleinen Engel und ihr weißbärtiger Super-Opi leben in Harmonie und Langeweile auf einer Wolke, bis eines Tages Luzifer „mit großen Kulleraugen und Schmollmund“ um Einlass bittet. „Es dauerte jedoch nicht lange, bis das Miststück seinen wahren Charakter offenbarte. Sie war nicht nur der schönste, sondern auch der intelligenteste aller Engel.“ Bald hatte sie alle Engelknaben um den Finger gewickelt und „Opis tugendhaftes Paradies in eine lasterhafte Partyhöhle verwandelt“. Zwar wurde die „undankbare Partygöre“ aus dem Himmel verstoßen, aber nun, auf Erden, treibt sie es umso schlimmer. Im Song „Mephisto“ besingt Nik Page den teuflischen Gott der Lust und der Bedürfnisse ganz in diesem Sinne:
„Du bist der Gott der Maschinen
Der Schöpfer der Lust
Hast uns die Augen geöffnet
Bist der sündige Kuss
Hast die Erleuchtung versprochen
Uns Zerstörung geschenkt
Hast uns die Unschuld genommen
Unser Karma gelenkt
Tief in meiner Seele brennt ein Feuer nur für dich …
Mephisto.“
Es ist also unsere Lust selbst, die die Maschine antreibt, die uns Zerstörung bringt. Und dieser Mechanismus funktioniert in mephistophelischer Kraft. Der Satanismus, der der Gothic-Culture zur Last gelegt wird, ist der einer auf grenzenlose Bedürfnisse, auf ewige Lust getrimmten Kultur. Dass damit beileibe nicht nur die sexuelle Lust gemeint ist, entnehme ich einem auffälligen Moment, das sich wie ein roter Faden durch die Selbstzeugnisse der Gothic-Kulturwelt zieht: der Hass auf die Musikindustrie. „Fuck the Industry!!“74, so oder so ähnlich heißt es immer wieder. Man schimpft auf die Musikindustrie, auf Kommerzialisierung und Verflachung – und kann ihr doch nicht entkommen. Denn sie allein macht das Überleben der Bands möglich, sie verschafft ihnen bisweilen erheblichen Erfolg und Wohlstand. Versuche, die eigenen Produktionen in selbst gegründeten, nicht kommerziellen Labels zu vertreiben, müssen wohl sämtlich als gescheitert gelten.75 Man bleibt dem teuflischen System ausgeliefert, man dient ihm selbst – und da haben wir den Grund für den Satanismus der Szene.
5. Die beiden Seiten der Engelreligion
Die Engelreligion ist, das habe ich zu zeigen versucht, so recht die Religion unserer Zeit. Sie kennt keine Dogmen, keine Hierarchie und keine institutionelle Gestalt. Sie stellt keine Forderungen und hat keine Gebote. Sie baut auf Erfahrung und nicht auf Glauben. Sie schränkt Freiheit nicht ein, verlangt keine Bekenntnisse und verzichtet auf religiöse Abgrenzungen. Sie entspricht dem Individualismus und der Suche nach eigenem persönlichem Ausdruck. Sie vermittelt gegen alle Vereinzelung ein Gefühl von Ganzheitlichkeit, allseitiger Verbundenheit und Geborgenheit. Sie schafft Ordnung im Weltbild und im eigenen Inneren. Sie vermittelt Heil und Heilung für die kleinen und großen Nöte des Daseins. Sie antwortet auf die unendliche Sehnsucht nach Liebe. Es ist, als wenn ein genialer Religionsstifter die gesamte Religionsgeschichte auf ihre guten und bewährten Elemente hin durchgemustert und diese auf die Bedingungen der Moderne adaptiert hätte, dabei alles Überlebte, Schwierige und Unangenehme beiseite lassend. Aber so ist es ja nicht gewesen. Diese Religion hat sich vielmehr aus den spontanen religiösen Bedürfnissen von Leuten entwickelt, die sich in den etablierten Religionen nicht zu Hause fühlten oder erstmals ihren Weg zum Himmel entdeckten. Die Engelreligion ist ganz und gar eine Religion der Bedürfnisse, aus Bedürfnissen entstanden und auf die Erfüllung von Bedürfnissen ausgerichtet. Sie passt in eine Welt, in der die Erfüllung von Bedürfnissen der fraglos höchste Wert und überdies der Motor der wirtschaftlichen Dynamik ist.
Nun hat diese Religion, wie gezeigt, ihre zwei Seiten, eine helle und eine dunkle – die übrigens sicher nicht zufällig im Blick auf ihre Akteure auch als weibliche und männliche Seite zu erkennen sind. Beide Seiten fügen sich zu der Kennzeichnung „Religion der Bedürfnisse“, aber sie bilden gewissermaßen die Vor- und Rückseite. Während auf der lichten Seite die Befriedigung unserer Wünsche und Bedürfnisse gepredigt wird, ist die dunkle Seite für die diabolische Verkehrung der Bedürfnisse – „Lust“ – in Zerstörung aufmerksam, ja, sie treibt sie selbst voran. Was bei den „Kindern des Zorns“ (so will ich sie einmal mit Eph 2,3 nennen) an Kapitalismuskritik, an Beobachtung der verhängnisvollen Auswirkungen unserer Industriekultur, an „Todesfaszination“ vorhanden ist, verweist auf die Paradoxie der Bedürfnisse. Sie sind gut und sie sind schlecht. Gut sind sie, weil der Hunger gestillt werden will und weil es Freude macht, ihn zu stillen, und sei es der Hunger nach Anerkennung, Liebe, Geborgenheit und Sicherheit. Schlecht sind sie, weil sie von sich aus kein Maß kennen. In ihrer Maßlosigkeit bewirken sie Zerstörung – so wie die ,bröckelnden‘ Atomkraftwerke auf maßlosen Energiebedarf reagieren, der grausame Umgang mit Tieren auf maßlosen Fleischbedarf. Vor dieser Problematik bleiben die Versuche Doreen Virtues, zwischen den Wünschen des höheren und des niederen Selbst zu unterscheiden, ebenso hilflos stehen wie die Unterscheidung von Jana Haas zwischen weißer und schwarzer Magie oder die von Helga Schaub zwischen positiver und negativer Energie. Denn wie soll hier unterschieden werden? Was für den einen als ,weiß‘ erscheint, kommt beim anderen ,schwarz‘ an, und leicht kann man um eines höheren Zwecks willen auch das niedere Bedürfnis als höheres erleben. Zumal in einer Zeit, für die die ständige Steigerung der Bedürfnisse zur Notwendigkeit einer zum unablässigen Wachstum gezwungenen Wirtschaft geworden ist. Ist es denn da nicht ,positiv‘, ,negative‘ Dinge zu tun, z. B. zur Schaffung von Arbeitsplätzen die Wirtschaft anzukurbeln, noch mehr überflüssige Dinge und damit zukünftigen Abfall zu produzieren, noch mehr zu konsumieren, noch mehr Geld anzulegen? Bedenklich ist, dass die lichte Seite der Engelreligion ihre Beispiele und ihre Anschauung nur aus dem persönlichen, privaten Leben nimmt. Der politische und ökonomische Bereich sind völlig ausgeblendet. Und doch hängt beides zusammen. Der Slogan „Gott sorgt für die Erfüllung all unserer Bedürfnisse. Wir brauchen nie zu befürchten, dass uns irgendetwas vorenthalten wird“ (Virtue) scheint doch geradezu einem ökonomischen Imperativ zu gehorchen. Grenzenlose Bedürfnisbefriedigung – jetzt auch religiös legitimiert und ermöglicht. Autofahren – jetzt ohne Parkplatzprobleme. Energieaufwändige Reisen in die Südsee – jetzt auch zur Begegnung mit den Delfinengeln, die sehnsüchtig nach dir rufen. Partnerwechsel – durch den Engel-Raben selbst angezeigt. Warum hören wir nie von Engeln, die zum Öffentlichen Nahverkehr raten? Oder zur Treue in der Partnerschaft? Und weiter: Die Religion verlängert die Bedürfnisse ins Unendliche, ins Transzendente. Nun sollen wir gar das Göttliche in uns selbst entdecken, mit dem ganzen Universum verbunden sein, in jeder Lebenslage Trost und Beistand erfahren, das ganze Wissen der Welt in Himmelsbüchern lesen können. Das ist in etwa das, was die Schlange der Eva im Paradies versprochen hat. Die Maßlosigkeit der Bedürfnisse greift nach der Unendlichkeit des Himmels. Die Engelreligion überträgt insoweit die Logik der grenzenlosen Steigerung, die dem Kapitalismus eigen ist, ins Religiöse. Was Wunder, dass sich auch viele Wirtschaftsgrößen zum Glauben an die Engel bekennen.76
Von Ferne erinnern die beiden Seiten der Engelreligion an die früheren Darstellungen des Jüngsten Gerichts. Zur rechten Seite des Weltenrichters – zur Linken des Betrachters – die Seligen, die von lichtvollen Engeln ins Paradies geführt werden. Zu seiner Linken die Verdammten, die von Teufeln gequält und in die Hölle gebracht werden. In der Engelreligion fehlt jedoch die Figur des Weltenrichters, der nach Gottes Maß und Gesetz richtet. So schieben sich beide Seiten übereinander. Das alte Bild ist zerstört. Beide Seiten richten sich nach derselben Logik. Wir werden verdammt durch das, was uns selig machen soll. Die Seligen sind schon die Verdammten, sie wissen es nur noch nicht.
6. Der Himmel ist wieder offen!
Trotz dieser Zweideutigkeit der Engelreligion, die nur christlich-theologisch aufzulösen sein wird – dazu später mehr –, die gute Nachricht lautet: Es gibt in unserer Zeit wieder eine richtige Religion!77 Der Himmel ist wieder offen! Die himmlischen Mächte, die guten wie die bösen, werden wieder wahrgenommen, und es werden wieder die Beziehungen zwischen der Erde und dem Himmel geregelt, wie es eben in Religionen geschieht. Denn dies ist ja eigentlich die Aufgabe von Religion: dass sie die Verhältnisse zwischen dem Vertrauten und dem Unvertrauten, dem Empirischen und dem Numinosen, dem „Natürlichen“ und dem „Übernatürlichen“, letztlich zwischen der Erde und dem Himmel beobachtet und behandelbar macht. Religion gibt dem Unvertrauten einen Platz im Vertrauten. Sie benennt heilige Orte und Zeiten, sie liefert Bilder des Unsichtbaren, entwickelt Rituale für den Verkehr mit dem Göttlichen und schafft auf diese Weise Formen des Umgangs mit dem Bereich der Welt, der der direkten Beobachtung unzugänglich ist.78 Genau dies geschieht in der Engelreligion – bis hin zur Angabe von konkreten Methoden, von Orten und Zeiten zur Kontaktaufnahme mit den Engeln.
Die Engelreligion hat den Bann gebrochen, der mehr als 200 Jahre über der ,aufgeklärten‘ Welt lag. Gemäß der Aufklärung sollte sich die Erkenntnis auf das Empirische, Nachprüfbare und Berechenbare beschränken, und daraus ist unser Begriff von Wissen und auch von Wissenschaft entstanden. Der Himmel mit seinen Mächten war von diesem Begriff des Wissens ausgeschlossen und folglich auch aus der Wissenschaft. Der Himmel, der Bereich übermenschlicher Kräfte und Mächte, wurde dem mythologischen Weltbild zugeordnet, das aus der Kraft menschlicher Vernunft zu überwinden die Philosophie der Aufklärung angetreten war. Religion im beschriebenen Sinn wanderte in die Esoterik und den Okkultismus ab. Das Christentum, insoweit es in der Moderne noch geduldet werden wollte, sah sich gezwungen, sich von seinen ,mythologischen‘ Elementen zu reinigen. In der weltweit verbreiteten Engelreligion ist nun dieser Bann gebrochen. Das esoterische Wissen schickt sich an exoterisch zu werden, wie Jana Haas richtig bemerkt. Und von Seiten der Philosophie her mehren sich die Stimmen, die erklären, dass die Aufklärung ihr Ziel nicht erreicht hat, dass sie in ihrer eigenen „Dialektik“ verfangen geblieben ist. Die Moderne hat die mythologischen, naturgeschichtlichen Zwänge nicht durchbrechen können, die sie überwinden wollte, diese sind vielmehr in der Gestalt der alles beherrschenden Markt- und Warengesellschaft wiedergekommen.79 So ist auch von dieser Seite her wieder Raum für die Religion in der Moderne geschaffen worden. Das Christentum wird diese Wiederkehr der Religion mit Freude begrüßen können, denn ohne das Wissen um die himmlischen Mächte ist ein Weltbild unvollständig und blind.






