Träume - Spiegel der Seele, Krankheiten - Signale der Seele

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Vertrauen nicht aufzugeben,
im Glauben Zuversicht zu praktizieren,
zu kämpfen, um den Siegespreis zu erlangen,
die Seligkeit zu schaffen,
auf das Ziel zu schauen usw.
Adler nennt seine Psychologie eine Gebrauchspsychologie, im Gegensatz zur Besitzpsychologie.
Die Besitzpsychologie stellt fest, was ein Mensch mit auf die Welt bringt. Aus dem Besitz wird alles Seelische abgeleitet. Die Gebrauchspsychologie verdeutlicht, was ein Mensch mit seinen Anlagen, Gaben und Möglichkeiten anfängt,
wie er sie benutzt,
was er damit bezweckt,
wie er sie in Dienst stellt.
Im Umgang mit Christen und Nichtchristen und in der Seelsorge mit Ratsuchenden wird deutlich, wie ein Mensch seine Gaben, Anlagen und von Gott geschenkten Möglichkeiten ausnutzt.
Redet er sich auf seinen »Besitz« heraus? Gebraucht er seine vererbten Anlagen als Alibi? Ist er bereit, über seine Verantwortung nachzudenken, darüber,
was er aus Anlage und Umwelteinflüssen gemacht hat?
wie er seine Gaben in Dienst gestellt hat?
wie er Gaben und Talente vergraben oder für Gott und andere Menschen eingesetzt hat?
Im Wachen wie im Traum kommen diese Deutungsmuster zur Sprache.
Die Traumdeutung nach Adler versucht daher schwerpunktmäßig, zwei Fragen zu beantworten:
a) Was ist das Ziel des Traumes?
Was soll damit bezweckt werden?
Welche Lebens-Grundeinstellungen (menschlich oder geistlich) offenbart der Träumer?
b) Wie ist die Stellung des Träumers zur Gemeinschaft?
Handelt er gemeinschaftsfreundlich?
Handelt er partnerschaftsfeindlich?
Handelt er kooperativ oder destruktiv? Das Beispiel eines Flugtraumes soll beide Aspekte beleuchten.
Ein Manager eines mittelgroßen Betriebes, Zulieferer für ein großes Autowerk, kommt mit folgendem Problem in die Seelsorge: »Mein Leben verläuft im Prinzip erfolgreich. Man beneidet mich um meinen geschäftlichen Fortschritt. Aber es macht mir zu schaffen: Ich verstehe die Menschen nicht. Die Menschen verstehen mich auch offensichtlich nicht. Ich denke prinzipiell sachlich und pragmatisch, die anderen haben Beurteilungskriterien, die mir fremd sind. Helfen Sie mir, es muss doch Kompromisse geben!«
Der Mann ist ein ausgesprochener Einzelgänger. Frau und Kinder distanzieren sich von ihm. Die Frau scheint sogar zu signalisieren, dass sie sich trennen will. In der dritten Beratungsstunde bringt er einen Traum mit.
»Ich sehe vor mir ein unbegehbares felsiges Etwas, einen zerklüfteten Hügel. Rechts davon läuft ein kleines Wesen weg. Es kann ein Mensch sein. Ich sehe, wie ich den Kopf schüttele. Einen Augenblick überlege ich, wie ich diesen schwierigen Hügel bezwingen kann. Dann nehme ich einen Anlauf, hebe ab und fliege wie im Gleitflug über das Hindernis hinweg. Auf der anderen Seite komme ich gut an und stehe fest auf der Erde. Ich schaue mich um und lächele. Dann wache ich auf.«
Meine Fragen lauten:
»Was ist Ihr Hauptgefühl an der dichtesten Stelle des Traumes?«
Antwort: »Ich wache auf und bin stolz. Ich habe das Problem gemeistert!«
»Wie sehen Sie sich selbst im Traum?«
»Ich spüre, das bin ich. So gehe ich das Leben an. Vor mir ein dickes Problem. Es sieht unlösbar aus. Man hat den Eindruck, es gibt keinen Weg.«
»Wie sehen Sie die anderen, soweit sie im Traum vorkommen?«
»Ja, das ist eine Schwierigkeit bei mir. Die anderen kommen nicht vor. Es sei denn, das flüchtende Wesen war ein Mensch. Leider ist das meine Schwachstelle im Leben. Die Firma interessiert mich, nicht die Menschen. Der Erfolg interessiert mich, nicht die Mitarbeiter. Mein Ehrgeiz frisst mich auf. Da bleiben nicht selten andere auf der Strecke.«
»Wenn das fliehende Wesen ein Mensch war, was sagt Ihnen das Bild?«
»Es könnte meine Frau sein, aber auch die Kinder. Vielleicht sogar Mitarbeiter der Firma, die vor den Problemen kapitulieren. Aber das reizt mich besonders. Ich fliehe nicht, ich will das Unbegehbare gangbar machen.«
»Was tun Sie im Traum?«
»Offensichtlich lasse ich sie laufen. Ich bleibe ja stehen und nehme mir wieder das riesige Problem vor. Mich befriedigt die Arbeit. – Ja, und abends und am Wochenende bin ich allein. Es stimmt tatsächlich, die anderen fliehen vor mir.«
»Welche versteckten Ziele verfolgen Sie? Was wollen Sie erreichen?«
»Ich will komplizierte Sachen meistern. In der Regel weiß ich, wenn ich einen Anlauf nehme, die Ärmel hochkrempele, dann komme ich darüber weg. Unüberwindliches hat für mich einen wahnsinnigen Reiz. Was andere nicht schaffen, das reizt mich besonders.«
»Welche unausgesprochenen Absichten verbergen sich dahinter?«
»Gut sein ist nicht genug. Ich sage es ungern, aber ich will besser als die anderen sein. Und dieses Ziel verleiht mir ungeahnte Kräfte.«
»Mit welchen Mitteln und Methoden verfolgen Sie Ihr Ziel?«
»Mit Wagemut gehe ich an die Sache heran, mit großem Ehrgeiz, das versteht sich von selbst. Ich denke nach, ich denke vorher wirklich gründlich nach. Leider übersehe ich die anderen dabei. Wenn es sein muss, mobilisiere ich alle Kräfte. Ich stecke so leicht nicht auf.«
»Was wollen Sie verändern, wenn der Traum Dinge offenbart, die problematisch sind?«
»An meiner Lebensauffassung will ich nichts ändern. Was mich erheblich stört, sind meine Schwierigkeiten mit Menschen. Mit meiner Frau, mit meinen Kindern und mit Mitarbeitern gibt es laufend Konflikte. In der Regel gehen die mit Gefühl an alles heran. Gefühle haben bei mir aber einen geringen Stellenwert. Mit Gefühlen löst man keine Probleme.«
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Zielgerichtetheit des Traumes wird deutlich. In allem, was der Mensch träumt, verfolgt er Zwecke und Ziele, die er selbst nicht versteht. Aber auch die Beziehungsfähigkeit wird im Traum offenbar.
Nach Adler ist das Gemeinschaftsgefühl ein Barometer für seelische Gesundheit oder Krankheit. Dieser tüchtige und erfolgreiche Manager ist nicht wenig gestört. Der Traum signalisiert ihm, dass die Menschen vor ihm fliehen. Im Spiegel seiner Selbstaussagen werden ihm die Mängel seiner Lebensgestaltung bewusst. Er spürt, dass er sich in die Isolierung hineinmanövriert hat. Die Veränderung seiner Lebens-Grundüberzeugungen braucht viel Zeit. Besonders der Traum hilft ihm, die Bremse zu ziehen, um sein Lebenskonzept zu revidieren. Es ist typisch für ihn, dass er nun wie ein Manager neue Wege im sozialen Bereich strategisch angeht.
Der Traum und das Unbewusste
Träume steigen aus dem Unbewussten hoch. Was heißt das eigentlich? Die Tiefenpsychologen sprechen übereinstimmend vom Unbewussten, doch es gibt Unterschiede in der Bewertung dieses menschlichen Bereichs. Die meisten gehen davon aus,
dass das Unbewusste durch Verdrängung entstanden ist;
dass verdrängte sexuelle Impulse, die dem Über-Ich (dem Gewissen) unangenehm sind, ins Unbewusste gerutscht sind;
dass diese verdrängten Impulse dem Bewusstsein entrissen, aber noch in der Erinnerung vorhanden sind. Sie sind nicht ausgelöscht und können in Träumen, verkleidet in Bildern und Symbolen, wieder an der Oberfläche erscheinen;
dass eine Grenzziehung zwischen Bewusstem und Unbewusstem fast unmöglich ist.
Die Vorstellung der Individualpsychologie Adlers ist eine andere. Er grenzt das Unbewusste nicht scharf gegen das Bewusste ab. Aufbauend auf Adler lässt sich über das Unbewusste Folgendes sagen:
Der Mensch ist eine unteilbare Einheit. Seelisches und Körperliches, Unbewusstes und Bewusstes gehen nahtlos ineinander über. Die Aufspaltung wird dem Menschen nicht gerecht. Auch die Bibel lässt diese künstliche Aufteilung nicht zu.
Das Unbewusste ist kein Ort, kein unheimlicher Dschungel, kein gefüllter Raum mit verdrängten und abgestellten Gedanken und Wünschen.
Der Mensch denkt, fühlt und handelt im Sinne seines Lebensstils. Das heißt, er lässt Dinge, die ihm angenehm erscheinen, vor dem Bewusstsein zu, andere Dinge, die ihm unlieb sind, denen er ausweicht, lässt er im so genannten Unbewussten verschwinden.
Wir haben uns so an die Unterscheidung zwischen Bewusstem und Unbewusstem gewöhnt, dass wir in der Tat an zwei verschiedene Bereiche glauben. Im Prinzip gibt es sie nicht. Nach Freud ist das Unbewusste das Verdrängte. Da für Adler im Gegensatz zu Freud das Ich keine Instanz neben Es und Über-Ich ist, sondern gleichbedeutend mit der Person, lehnt er den Gegensatz zwischen bewusst und unbewusst ab. Das Unbewusste meint nach unserer Sicht nicht versteckte Winkel unserer Seele, sondern Teile des Bewusstseins, die wir nicht verstanden haben.
Das Unbewusste ist also das Nicht-Zugelassene, das Vergessene, das Ausgeblendete, das dem Lebensstil nicht entspricht. Das Unbewusste ist die unverstandene Seite unseres Lebensstils; die unverstandenen Lebens-Grundüberzeugungen, Selbstannahme, Beziehungs- und Umgangsmuster verkörpern den Lebensstil. Dieser Lebensstil bleibt den meisten Menschen unbewusst bzw. unverständlich.
Der Lebensstil als unbewusster Lebensplan verfolgt Zwecke und Ziele, die dem Bewusstsein weitgehend unbekannt sind. Der Mensch verhält sich so, als ob er über seine Ziele bestens informiert ist.
»Der Mensch weiß mehr, als er versteht!« (Dies war ein Lieblingssatz Adlers.) Der Mensch weiß unermesslich viel über sich zu berichten, auch im Traum. Aber er versteht es nicht. Seine verborgenen Absichten sind ihm unbewusst. Er kann dieses Wissen verstehbar machen. Mithilfe eines Seelsorgers oder Beraters kann er diese verborgenen Schätze ins Licht des Bewusstseins heben.
Das Unbewusste ist also das Unerkannte, Unverstandene, Unverdaute und Ungeklärte. Das Unbewusste ist nicht die schweinische Rumpelkammer unserer Persönlichkeit, wo beschämende Wünsche und unsaubere Begierden verstaut werden.
Traumassoziationen
Die meisten Berater, Therapeuten und Seelsorger, die sich mit Traumdeutungen beschäftigen, benutzen die Methoden der Assoziation (freie Verknüpfung von Gedanken, von denen einer den anderen hervorruft), um die Bilder, Symbole und Geschehnisse im Traum zu verstehen. Diese Methode wurde von Sigmund Freud in die Traumdeutung eingeführt und von den meisten Autoren übernommen. Freud schreibt darüber:
»Dieses Verfahren ist leicht zu beschreiben, wenngleich seine Ausführung Unterweisung und Übung erfordern dürfte. Wenn man es bei anderen, etwa einem Kranken mit einer Angstvorstellung in Anwendung zu bringen hat, so fordert man ihn auf, seine Aufmerksamkeit auf die betreffende Idee zu richten, aber nicht, wie er schon so oft getan, über sie nachzudenken, sondern alles ohne Ausnahme sich klarzumachen und dem Arzt mitzuteilen, was ihm zu ihr einfällt … Es mag also die Aussage genügen, dass wir bei jeder krankhaften Idee ein zur Lösung derselben hinreichendes Material erhalten, wenn wir unsere Aufmerksamkeit gerade den ›ungewollten‹, den unser Nachdenken störenden, dem sonst von der Kritik als wertlosen Abfall beseitigten Assoziationen zuwenden … Es müsste jedes Traumbeispiel sich in gleicher Weise dazu eignen.«8
Freud zerlegt den Traum in seine Teile, geht einzeln an alle Bruchstücke heran und fragt den Träumer nach seinen Assoziationen.
Selbst kritische Einwände, die der Träumer gegen seine eigenen Einfälle vorbringt, kommen zur Sprache. In diesen kritischen Einwänden wird laut Freud der Widerstand des Träumers deutlich, verdrängte Elemente zu offenbaren.
Auch Adler und andere Psychologen haben diese Technik grundsätzlich anerkannt und praktiziert. Sie birgt zudem folgende Vorteile:
In den Gedankenassoziationen kommen die zielgerichteten Vorstellungen des Träumers zur Sprache, denn der Träumer kann ja nichts anderes in seinen frei strömenden Einfällen beisteuern, als was in ihm angelegt ist.
In den Gedankenassoziationen kommt der Lebensstil dieses Menschen zum Tragen; ohne dass er sich darüber im Klaren ist, geben seine Einfälle das Bewegungsgesetz und die Grundüberzeugungen wieder.
In den Gedankenassoziationen kommen also keine objektiven Vorstellungen zur Sprache, sondern die Mittel, Ziele und Methoden dieses einmaligen Menschen.
Wie sieht die Assoziations-Methode praktisch aus?
Eine Frau träumt. Die ersten zwei Sätze dieses Traumes lauten:
»Es ist Winter. Ich gehe von zu Hause allein eine eisig glatte Straße hinauf.«
Der Berater und Seelsorger kann alle Traumelemente eingehend befragen.
»Sie sprechen vom Winter. Was fällt Ihnen dazu ein?«
»Sie gehen von zu Hause weg. Was empfinden Sie dabei?«
»Sie sind allein. Wie fühlen Sie sich?«
»Sie befinden sich auf einer eisig glatten Straße. Was löst das in Ihnen aus?«
»Sie gehen eine eisige glatte Straße hinauf. Was hat das alles mit Ihrem Leben und Empfinden von heute zu tun?«
Schon die beiden ersten Sätze sind eine gekonnte Verdichtung der gegenwärtigen Befindlichkeit dieser Frau. Der Traum präzisiert Gefühle, Gedanken und das Handeln der Träumerin. Die Assoziationen bringen ihren kompletten Lebensstil zur Sprache.
KAPITEL 5
Nackt- und Entblößungsträume
Kleider haben eine Bedeutung. Sie schützen den Menschen, sie verdecken ihn. Menschen, die sich eine Blöße geben, die entblößt werden, schämen sich. Entblößungsträume sind also Träume, die eng mit dem Schamgefühl des Menschen und mit seinen Schuldgefühlen verbunden sind. Menschen, die schnell und gern Dinge auf sich beziehen und Schamgefühle als bedrückend erleben, träumen häufiger von Entblößungen.
Die Freud’sche Psychoanalyse hat uns deutlich zu machen versucht, dass Nacktträume in der Regel mit sexuellen Gefühlen oder mit Schuldgefühlen wegen Sex zu tun haben. In Wirklichkeit geht es um die Frage, in welcher Weise der Ratsuchende sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nackt, enthüllt, verletzt, bloßgestellt oder ungeschützt vorkommt. Die Deutung der Entblößungsträume kann deshalb verschieden sein:
Die einen fühlen sich nackt und möchten am liebsten im Boden versinken,
die anderen sind unsicher, fühlen sich nicht richtig angezogen; die Kleidung symbolisiert eine starke Selbstwertstörung,
wieder andere haben sich nicht recht benommen und kleiden den Traum in eine Entblößung,
die Entblößung kann ein unmoralisches Verhalten symbolisieren; der Träumer fühlt sich ertappt und bloßgestellt,
die Unordentlichkeit der Kleider kann einen unordentlichen Lebenswandel widerspiegeln,
die Entblößung kann das Unpassende ins Bewusstsein heben. Jemand fühlt sich in einer Gesellschaft fehl am Platz.
Ich gehöre da nicht hin
Ein Chemiker, der im Forschungslabor eines großen Werkes beschäftigt ist und von seiner Frau zur Beratung gedrängt wurde, hat folgenden Traum:
»Die Firma hat alle leitenden Mitarbeiter eingeladen. Die anwesenden Männer und Frauen sind überaus festlich gekleidet. Alle Frauen tragen lange Gewänder. Die meisten Männer haben sogar eine Fliege umgebunden. Sie stehen zusammen und unterhalten sich angeregt. Ich sehe mich an einem Fenster stehen, mache mir an einer Pfeife zu schaffen und entdecke plötzlich, dass ich nur eine Unterhose anhabe. Einige Herren schauen mich an und schütteln den Kopf. Ich hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst.«
Wir gehen gemeinsam diesen Traum durch.
»Was ist Ihr Eindruck an der dichtesten Stelle des Traumes?«
Der Ratsuchende sagt: »Ich gehöre da nicht hin! Das ist nicht meine Welt.«
Im Traum bringt der Mann sein Lebensproblem zur Sprache. Die Frau leidet unter seiner Sprachlosigkeit. Der Mann flieht zu Hause in den Keller, in dem er sich ein großes Privatlabor eingerichtet hat. Vor der Tür hängt ein nicht zu übersehendes Schild: »Eintritt verboten!«
Der Chemiker ist ein Einzelgänger und Einsiedler. Partys sind ihm zuwider. Er hasst das oberflächliche Geschwätz der Menschen. Er hasst aber auch das »Aufgeputzte« und »Aufgemotzte«. Für ihn bedecken die langen Kleider der Frauen nur ihre Geistlosigkeit.
Er selbst steht im Traum als Einziger abseits. Die anderen können sich gut unterhalten. Sie haben Gesprächsstoff. Er macht sich an seiner Pfeife zu schaffen.
»Wie erleben Sie diese Szene im Traum?«
Der Chemiker lächelt: »Schon als Student habe ich das Pfeiferauchen angefangen. Ich sehe nur einen Grund: Wenn ich an der Pfeife hantiere, muss ich nicht reden. Ich bin beschäftigt. Ich falle nicht auf.«
»Plötzlich sehen Sie sich in der Unterhose. Was geht in Ihnen vor?«
Der Mann sagt: »Du bist anders als die anderen. Hier hast du nichts zu suchen. Elegante Anzüge und Unterhosen vertragen sich nicht.«
»Und die Herren, die den Kopf schütteln?«
»Die kennen mich. Ich bin als Querdenker verschrien. Sie schütteln den Kopf und lassen mich laufen. Keiner wagt es, mich umzustimmen. Keiner redet mir gut zu.«
An dieser Stelle geht die Frau des Chemikers dazwischen. Bis dahin hat sie ruhig zugehört. »Du gibst dir für dein unfreundliches Verhalten die passenden Erklärungen. Du glaubst, die anderen respektieren deine Frechheit. Nein, sie schütteln den Kopf. Und ich schüttele ihn auch. Du bist verheiratet, und wir haben drei Kinder. Wir alle haben ein Anrecht auf deine Gegenwart. Aber du ziehst dich in deine Laborwelt zurück.«
Der Angriff der Frau ist gezielt und überlegt inszeniert. Sie will mich zur Stellungnahme herausfordern. Ich soll für sie gegen ihren Mann Position beziehen.
»Und welche Schlüsse ziehen Sie aus diesem Tun? Was will der Traum Ihnen sagen?«, frage ich.
Der Mann reagiert ganz anders, als die Frau es erwartet hat. Er verteidigt sich nicht und geht auch nicht zum Gegenangriff über. Er sagt: »Du hast mich in die Beratung geschickt, weil du unglücklich bist. Bisher wollte ich das nicht einsehen. Aber ich spüre, auch die Kinder ziehen sich von mir zurück. Ich fühle mich in meiner Forschungsarbeit wohl, da besteht kein Zweifel. Aber ich bin auch einsam. Manchmal sogar sehr einsam. Und ich will da raus. Der Traum hat mir klargemacht, ich bin nicht nur ein Querdenker, ich bin auch ein Querschläger.«
Der Traum wird der Einstieg für eine Reihe von Ehegesprächen zu dritt.
Wahrscheinlich ist der geschilderte Traum kein typisches Beispiel für Nacktträume, aber ein Hinweis, wie gründlich wir unsere Blöße oder unsere Schwächen preisgeben. Auch die Schuld wird vom Träumer so gründlich uminterpretiert, dass sein Lebensstil das Handeln rechtfertigt. Der Lebensstil dieses Mannes bedeutet aber eine verzerrte Wahrnehmung; er spiegelt ein unpartnerschaftliches Denken wider und rechtfertigt die »Ich-gehör-da-nicht-hin-Haltung«. Die therapeutische Seelsorge hat die Aufgabe, die Lebenslügen aufzudecken.
Ich schäme mich zu Tode!
Ein Traum, der deutlich Beziehungsprobleme zur Sprache bringt, sieht zum Beispiel so aus:
»Meine Freundin hatte zur Geburtstagsfeier eingeladen. Es kamen viele Freunde, die ich gut kannte. Mein Mann forderte die Gesellschaft auf, sich zu erheben und mit Sekt auf das Geburtstagskind anzustoßen. Und da passierte etwas Unangenehmes. Indem mein Mann das Glas anhob, rutschte ihm die Hose weg. Ich stand etwas im Hintergrund und kriegte das genau mit. Keiner der Anwesenden sah das aber, denn alle starrten auf das Geburtstagskind. Plötzlich drehten sich alle zu mir hin. Ich schaute betroffen an mir herunter und entdeckte, dass ich splitternackt war. Ich wäre am liebsten gestorben.«
Wie verstehen wir diesen Traum? Dazu einige Anmerkungen:
a) Traum und Problem gehören zusammen
Die Frau, die diesen Traum in die dritte Beratungsstunde mitbrachte, war ursprünglich gekommen, um Eheprobleme zu besprechen. Sie war mit ihrem Mann unzufrieden und hatte viele Punkte an ihm auszusetzen. Ich hatte mir an den Rand der Notizen aus der ersten Stunde geschrieben: »Sieht nur die Probleme beim andern!« Von ihren Schwächen und Anteilen war überhaupt nicht die Rede gewesen.
b) Wer kommt zur Party?
Eingeladen hatte die Freundin der Frau. Die Teilnehmer sind also in erster Linie der Familie und der Frau bekannt. Die Frau betont darum auch, dass sie selbst die Gäste gut kennt.
c) Die Unterhose des Mannes bemerkt keiner
»Haben Sie dafür eine Erklärung?«, frage ich die Frau. Sie selbst hat im Traum ihren Mann entblößt – um nicht zu sagen »ausgezogen«. Die Ratsuchende sagt: »Vielleicht kümmert sich darum keiner um die Unvollkommenheit meines Mannes, weil nur ich ihn in- und auswendig kenne.«
»Und woher?«
Die Ratsuchende lächelt und erzählt eingehend, wie oft sie sich im »Damenkränzchen« treffen und eingehend über ihre Männer »herziehen«. Die Frau bekennt, dass sie eine schlimme Kritikerin ist, die häufig vom Leder zieht und den Partner »entblößt«.
d) Plötzlich steht die Frau im Mittelpunkt des Interesses
»Wie verstehen Sie diesen Traumabschnitt? Alle wenden sich Ihnen zu?«
Die Träumerin schüttelt den Kopf, damit könne sie nichts anfangen. Sie sehe auch keinen Sinn in dem Ganzen. »Und warum wären Sie am liebsten gestorben?« Sie sagt: »Weil ich ganz nackt dastand. Das ist doch ein entsetzliches Gefühl.«
»Und warum entwerfen Sie einen Traum, in dem Sie sich selbst splitternackt zeigen? Warum schämen Sie sich? Was ist Ihnen so peinlich?«
Die Ratsuchende nimmt ihren Kopf in die Hände. Offensichtlich schämt sie sich. Nach einer Weile des Nachdenkens sagt sie: »Ich bin ja noch schlimmer dran als mein Mann.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich habe über ihn geredet und ihn angeschwärzt. Aber Sie wissen ja gar nicht, was ich auf dem Kerbholz habe!«
Ich warte, um sie nicht zu drängen. Und dann kommen eine Reihe ehebrecherischer Begebenheiten ans Licht.
»Ich bin eine Heuchlerin. Ich schäme mich zu Tode. Aber ich bin froh, jetzt ist es raus!«
Die Beichte setzt einen Gesinnungswandel in Gang. Heuchelei und raffinierte Ablenkungsmanöver haben ein Ende. Die Schuldverschiebung, ein beliebtes Versteckspiel seit Adam und Eva im Paradies, hört auf.
Es ist schon so: Im Traum bringen wir unsere geheimsten Wünsche, unsere Schwächen und Blößen zur Sprache. Wir zeigen uns nackt, wie wir sind. Gott reißt uns nicht gewaltsam die Maske vom Gesicht. In einsichtigen Bildern hält er uns einen Spiegel vor. Wir können die Entblößung akzeptieren oder den Spiegel zerschlagen. Wir haben es in der Hand. Verständlich, dass viele Menschen darum nicht an die »nackten Tatsachen« heranwollen. Auch die Ratsuchende ist erschrocken darüber, wie sie im Traum das, was sie mir bisher zielstrebig verschwiegen hat, unverhüllt offenbart.
Nackt auf der Kanzel
Ein Pfarrer, seit zwei Jahren im Amt, träumt eines Nachts einen kurzen, aber eindrücklichen Traum: