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Können wir den Augenblick genießen, den Kaffee Schluck für Schluck trinken, die Blüten in ihrer Pracht bewundern, die Vogelstimmen aufnehmen und ein Gedicht in seiner Tiefe bedenken? Wer in seinem Tun und Lassen einen Sinn spürt und wer sein Leben als sinnvoll wahrnimmt, kann zur Gegenwart Ja sagen, kann den Augenblick genießen, kann Stille aushalten, kann verweilen und muss nicht krampfhaft die Zeit ausfüllen.
Wer die Gewissheit hat: »Du zeigst mir den Weg zum Leben«, der schätzt den Augenblick und genießt die Gegenwart.
20. JANUAR
Ihr wisst auch, dass es heißt: »Liebe alle, die dir nahestehen,
und hasse alle, die dir als Feinde gegenüberstehen.«
Ich aber sage euch: »Liebet eure Feinde und betet für die,
die euch verfolgen.«
MATTHÄUS 5, 43 – 44
Ist diese Forderung Jesu nicht eine unmögliche Zumutung?
Als ich einmal nach Süddeutschland unterwegs war, las ich im Zug eine kleine Geschichte. Ein Mann besaß einen Tante-Emma-Laden im Städtchen. Er verdiente nicht schlecht, und er war zufrieden. Aber dann öffnete in der Nähe ein großer Supermarkt, und der Besitzer des Tante-Emma-Ladens geriet in Verzweiflung. Er war Christ, deshalb ging er zu seinem Seelsorger und offenbarte ihm seine Not. Am liebsten hätte er den Supermarkt angezündet, um die übermächtige Konkurrenz loszuwerden. Der Seelsorger riet ihm aber, jeden Tag zuerst für sein Geschäft und dann für den Supermarkt Gottes Segen zu erflehen. Durch diese Gebete änderte der Besitzer des Tante-Emma-Ladens seine destruktive Gesinnung vollkommen, ja er bekam sogar eine gute Beziehung zum Leiter des Supermarktes. Eines Tages musste er dann doch seinen kleinen Laden schließen, aber was passierte? Der Leiter des Supermarktes holte ihn als Filialleiter in sein Unternehmen.
In der Tat: Es ist mein Denken, das eine Sache positiv oder negativ macht. Wer negativ denkt, handelt negativ.
Wer positiv betet, ändert seine Denk- und Lebensweise. Wir können uns eine solche Gesinnung von Gott schenken lassen. Denn niemand kann aus eigener Kraft für seine Feinde beten, niemand kann von sich aus mit einer Handbewegung den Hebel von der Feindschaft zur Freundschaft umlegen.
21. JANUAR
Ihn ließ er sterben zu unserer Rettung. Unsere ganze Schuld
hat er uns vergeben, weil Christus sein Blut vergossen hat.
So zeigte uns Gott den ganzen Reichtum seiner Gnade.
EPHESER 1, 7
Können wir einem Todfeind vergeben?
Der Schriftsteller Dostojewski schrieb über zwei Brüder, die miteinander über Gott sprachen. Einer war ein Zweifler, der andere ein Mönch. Der Zweifler erzählte eine grausame Geschichte: »Ein böser Herr hatte einen Lieblingshund. Ihm hatte der kleine Sohn eines Leibeigenen aus Versehen einen Stein ans Bein geworfen. Aus Zorn ließ der Herr den Knaben vor den Augen seiner Mutter umbringen. Was soll man hier tun?«, fragte der Zweifler den gläubigen Mönch. »Den Herrn erschießen? Aber wem hilft das? Und wenn es Versöhnung geben soll: Wer darf eine solche Tat überhaupt verzeihen? Der Junge? Oder darf die Mutter dem Mörder ihres Jungen vergeben?« Und er forderte: »Hör auf, nach Sühne und Versöhnung zu suchen, die es im Himmel und auf Erden doch nicht gibt, weil es sie gar nicht geben kann!«
»Nein, dabei kann ich mich nicht beruhigen«, antwortete der Mönch. »Du sagtest: Ist denn auf der ganzen Welt auch nur einer, der verzeihen könnte und ein Recht dazu hätte? Aber dieser Eine lebt ja, und er kann alles verzeihen, allen und jedem, weil Er ja selbst sein unschuldiges Blut hingab für alle und alles. Du hast seiner vergessen.«
Mit unserer Kraft gelingt es uns nicht, einem Todfeind zu vergeben. Der Sohn Gottes betete am Kreuz für seine Mörder: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!« So etwas übersteigt unsere Kraft. Nur in Jesus können wir glühenden Hass und bittere Feindschaft überwinden. Nur in Jesus können wir die Spirale der Rache und der Gewalt stoppen.
22. JANUAR
Versöhne dich mit deinem Bruder, und als Dank komm
und opfere deine Gaben.
MATTHÄUS 5, 24
Die Versöhnung spielt in Ehen, Familien und unter Völkern eine wesentliche Rolle. Ohne Versöhnung bleiben Hass und Lieblosigkeit lebendig.
Jürgen Werth hat ein schönes Lied über die Versöhnung geschrieben:
»Wie ein Regen in der Wüste,
frischer Tau auf dürrem Land.
Heimatklänge für Vermisste,
alte Feinde, Hand in Hand.
Wie ein Schlüssel im Gefängnis,
wie in Seenot ›Land in Sicht‹,
wie ein Weg aus der Bedrängnis,
wie ein strahlendes Gesicht.
So ist Versöhnung.
So muss der wahre Friede sein.
So ist Versöhnung.
So ist Vergeben und Verzeihen.«
Vergebung und Versöhnung schaffen ein völlig neues Lebensgefühl. Hass und Feindschaft sind vorbei. Isolation, Gefängnis und Einsamkeit haben ein Ende.
Die Holländerin Corrie ten Boom, die selbst Feindschaft und Konzentrationslager erlebt hat, formuliert es so: »Wenn dir der Herr deine Sünden abnimmt, siehst du sie niemals wieder. Er wirft sie ins tiefste Meer, vergeben und vergessen. Ich glaube sogar, dass er ein Schild darüber anbringt: Fischen verboten!«
Jesus macht die Reihenfolge klar: Erst Frieden und Versöhnung mit deinem Bruder, mit deiner Schwester, mit deinem Nächsten, und dann gehe in den Gottesdienst. Der Gottesdienst ohne die Versöhnung im Zwischenmenschlichen wird zur Heuchelei.
23. JANUAR
Und derselbe (Jesus Christus) ist die Versöhnung
für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren,
sondern auch für die der ganzen Welt.
1. JOHANNES 2, 2
Kennen Sie die Geschichte von Claude Eartherly, einem der Piloten, der die Bombe auf Hiroshima abgeworfen hat? Er gab den Befehl. Nach seiner Entlassung aus der Armee unternahm er zwei Selbstmordversuche und landete in einer psychiatrischen Anstalt. Die Schuld raubte ihm den Verstand.
Dreißig Mädchen aus Hiroshima schrieben ihm: »Wir Mädchen sind zwar glücklicherweise dem Tod entkommen, aber durch die Atombombe haben wir Verletzungen in unseren Gesichtern und am ganzen Körper davongetragen. Nun hörten wir kürzlich, dass Sie nach dem Vorfall von Hiroshima mit einem Schuldgefühl leben und dass man Sie deshalb in ein Hospital für Geisteskranke gebracht hat. Dieser Brief kommt zu Ihnen, um Ihnen unsere aufrichtige Teilnahme zu überbringen und Ihnen zu versichern, dass wir jetzt nicht die geringste Feindseligkeit gegen Sie persönlich hegen … Wir haben gelernt, freundschaftlich für Sie zu empfinden in dem Gedanken, dass Sie ebenso ein Kriegsopfer sind wie wir. Wir wünschen, dass Sie sich bald erholen und sich denen anschließen, die sich dafür einsetzen, das barbarische Geschehen, Krieg genannt, durch den Geist der Brüderlichkeit zu überwinden!«
Dreißig Mädchen legen Hass, Feindseligkeit und Rachegefühle ab. Sie versöhnen sich mit einem Menschen, der unermessliches Elend über eine Stadt und ein Land mit einem Knopfdruck aus einigen Tausend Meter Höhe gebracht hat. Eartherly ist darüber verrückt geworden. Die Mädchen haben recht, nur die ausgestreckte Hand der Versöhnung beendet das barbarische Geschehen, den Krieg. Wer die Versöhnung in Christus annimmt, reiht sich ein in die Schar derer, die Versöhnung leben.
24. JANUAR
So bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott.
2. KORINTHER 5, 20
Versöhnung ist ein Urwort der Bibel und ein Kernwort der Reformation.
Der im Exil lebende ugandische Bischof Festo Kivengere, der das Buch »Ich liebe Idi Amin« geschrieben hat, erzählte in Zürich, dass er immer wieder von Journalisten gedrängt wurde, negative Aussagen über Idi Amin zu machen. Und er fuhr fort: »Ich habe jedoch als Christ keinen Auftrag zu verdammen. Ich habe den Auftrag zu versöhnen!« Die ganze Persönlichkeit dieses Bischofs ist geprägt von der Art jener Menschen, welche nicht nur »Vergebung sagen«, sondern das auch als Auftrag leben.
Idi Amin war in seinem Land ein Menschenverächter und Verbrecher. Der Bischof hat die Verbrechen hautnah erlebt und lässt sich dennoch nicht zu Rachegedanken verleiten. In der Tat: Wir haben keinen Auftrag zu verdammen. Wir haben den Auftrag, uns zu versöhnen. Versöhnte Menschen sind neue Kreaturen, neue Menschen. Sie sind nicht repariert, sie sind nicht renoviert, sie sind auch nicht restauriert, sie sind ganz neu geschaffen. Menschen werden aus der Egozentrik, aus der Mittelpunkthaltung herausgeholt und erfahren eine kopernikanische Wandlung.
Bischof Festo Kivengere macht nicht nur fromme Worte, er lebt die Versöhnung. Und mit welchen Menschen versöhnt sich Gott? Im Grunde sind wir Gottes Feinde. Aber Christus reicht uns, wer wir auch sind, die Hand der Versöhnung. Schlagen wir in die dargebotene Hand ein!
25. JANUAR
Denn wenn wir mit Gott versöhnt sind durch den Tod seines
Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wie viel mehr werden wir
selig werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind.
RÖMER 5, 10
Versöhnung ist das Gegenteil von Feindschaft. Versöhnung ist das Gegenteil von Hass. Versöhnung ist das Gegenteil von Zertrennung.
Ein schwarzer Pastor aus Tansania formulierte die Botschaft der Versöhnung so: »Ich möchte Ihnen an einem Bild zeigen, was Versöhnung bedeutet. Zeichnen Sie es doch mit Ihrem Herzen und Denken nach. In meiner Sprache, in Massai, hat das Wort ›Versöhnung‹ eine sehr tiefe Bedeutung. Im Bauch einer schwangeren Frau wächst ein Kind heran. Die Verbindung von Mutter und Kind, die Nabelschnur, heißt bei uns ›Osotwa‹. Dasselbe Wort wird gebraucht, wenn Menschen, die Feinde waren, sich versöhnen und zueinanderfinden. Die Nabelschnur sorgt dafür, dass das Kind Nahrung und Luft von der Mutter bekommt … Genauso ist es mit uns. Das Wort der Versöhnung, das Jesus Christus ist, ist diese Nabelschnur zwischen uns und unserem himmlischen Vater. Solange diese Nabelschnur uns verbindet, leben wir.«
Versöhnung ist Leben. Feindschaft, Tod und Trennung haben ein Ende. Versöhnung ist »Osotwa«. Wir brauchen diese geistliche Nabelschnur zum Vater, durch die unser Leben garantiert ist. Diese Nabelschnur wird durchschnitten, wenn wir anderen Menschen nicht vergeben, wenn wir Mauern aufrichten und Zwietracht säen. Wir zerreißen diese Nabelschnur zum Leben, wenn wir Kränkungen nachtragen, wenn wir die Hand zur Vergebung und Versöhnung ausschlagen.
26. JANUAR
Selig sind die Barmherzigen;
denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
MATTHÄUS 5, 7
Barmherzigkeit ist keine große menschliche Tugend. Sie ist ein Geschenk Gottes. Paulus nennt Gott sogar den »Vater der Barmherzigkeit«. Die Suren im Koran beginnen jeweils mit den Worten »Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers«.
Barmherzigkeit liegt uns nicht im Blut. Wir urteilen, kritisieren und verurteilen. Darum schreibt Kurt Marti in einem Gedicht mit dem Titel »Wünsche«: »Ach, dass ich, wenn´s drauf ankommt, im Gegner den Bruder, im Störer den Beleber, im Unangenehmen den Bedürftigen, im Süchtigen den Sehnsüchtigen, im Säufer den Beter, im Prahlhans den einst Gedemütigten, im heute Feigen den morgen Mutigen, im Mitläufer den morgen Geopferten, im Schwarzmaler den Licht- und Farbenhungrigen, im Gehemmten den heimlich Leidenschaftlichen erkennen könnte … Auch das, auch das gehört zur Liebe, wie Jesus sie lebte.«
Kurt Marti bringt die Sache auf den Punkt.
Wir sehen oft nur den Fehler und nicht die Not im Hintergrund.
Wir sehen die Sucht und nicht die Sehnsucht.
Wir sehen das Negative und nicht den Wunsch nach Veränderung.
Wir sind fehlerorientiert und nicht liebeorientiert.
Barmherzigkeit ist keine Tugend, die wir einfach nur aus der Anstrengung eines guten Willens erreichen können. Sie ist ein Geschenk des Heiligen Geistes. Wenn wir uns an Christus binden, ändert sich unser Denken, wir bekommen positive Augen. Wir sehen nicht mehr in erster Linie das Versagen, wir sehen die falschen Schritte eines unglücklichen Menschen.
Barmherzig ist, wer ein Herz hat für die Armen, für die Verwaisten und Unglücklichen, für die Einsamen und Bemitleidenswerten. Barmherzigkeit üben heißt aber auch, barmherzig mit uns selbst umzugehen.
27. JANUAR
Denn Christus ist mein Leben,
und Sterben ist mein Gewinn.
PHILIPPER 1, 21
Können wir diesen Satz glauben und mit Überzeugung sagen? Der ehemalige Hamburger Theologieprofessor Thielicke fasste unsere Vorbehalte und Zweifel in Worte: »Vielleicht werden wir einmal, wenn wir von Gottes Thron aus am Jüngsten Tag zurückblicken, voller Staunen und Überraschung sagen: ›Ja, wenn ich das geahnt hätte, als ich an den Gräbern meiner Lieben stand und alles zu Ende schien; wenn ich das geahnt hätte, als ich das Gespenst des Atomkrieges auf mich zukriechen sah; wenn ich das geahnt hätte, als ich vor dem sinnlosen Geschick einer endlosen Gefangenschaft oder einer tückischen Krankheit stand; wenn ich das geahnt hätte, dass Gott durch alle diese Wehen seine Entwürfe, seine Pläne vorantreibt, dass mitten in meinem Sorgen und Mühen und Verzweifeln seine Ernten reifen und dass alles auf seinen letzten königlichen Tag zutreibt und zudrängt – wenn ich das gewusst hätte, dann wäre ich stiller und getrösteter, ja, dann wäre ich wohl auch heiterer und von größerer Gelassenheit gewesen.‹«
Den Satz aus dem Philipperbrief möchte ich auch gerne ohne jegliche Einschränkung sagen können. Ich glaube an den Auferstandenen – und doch stellt diese irdische Welt noch viele Ansprüche und traktiert uns mit Skepsis und Bedenken, die unsere Gewissheit erschüttern. Helmut Thielicke hat recht, wenn er sich zu unserem Sprecher macht und unsere Zweifel und Fragezeichen formuliert. Zweifel machen unruhig, rauben unsere Heiterkeit und Gelassenheit. Zweifel lassen uns hektisch und geschäftig werden. Wir fliehen in die Zerstreuung. Wir verdrängen die Gedanken an Tod und Sterben.
Noch ist uns der Blick aus dem Raum der Ewigkeit verwehrt. Und doch machen wir die Erfahrung: Er ist unser Leben.
28. JANUAR
Als Johannes am nächsten Tag sah, dass Jesus auf
ihn zukam, sagte er: »Dieser ist das Opferlamm Gottes,
das die Schuld der ganzen Welt wegnimmt.«
JOHANNES 1, 29
Gott kann Schuld nicht einfach ignorieren. Seine Gerechtigkeit fordert Wiedergutmachung. Der amerikanische Prediger Josh McDowell veranschaulicht diese Gerechtigkeit Gottes anhand einer Begebenheit, die sich in Kalifornien zugetragen hat: Eine junge Frau wurde wegen eines Verkehrsdeliktes vor Gericht geladen. Der Richter verlas die Anklageschrift und fragte: »Erklären Sie sich schuldig oder nicht schuldig?« Die Frau bekannte sich schuldig. Der Richter fällte das Urteil. Es lautete auf hundert Dollar Geldstrafe, ersatzweise zehn Tage Haft. Doch dann geschah etwas Überraschendes. Der Richter erhob sich, legte seine Amtstracht ab, verließ seinen Platz, zog seine Brieftasche hervor und zahlte die Strafe. Wie lässt sich das erklären? Ganz einfach: Der Richter war der Vater der Verurteilten. Er liebte seine Tochter, war aber auch ein gerechter Richter. Seine Tochter hatte das Gesetz übertreten, und er konnte nicht einfach zu ihr sagen: »Weil ich dich liebe, verurteile ich dich nicht. Du kannst gehen.« Dann wäre er kein gerechter Richter gewesen, hätte sogar selbst das Gesetz gebrochen.
Die Bibel macht deutlich, dass wir alle gesündigt haben. Die Strafe für unsere Sünde ist der Tod, und Gott muss das Todesurteil verkünden. Aber seine Liebe zu uns ist so unvorstellbar groß, dass er seinen Sohn als Opferlamm ausgewählt hat, um die Sünde der Welt zu sühnen.
Der Ausdruck »Lamm Gottes« ist so wunderbar, dass er zu einem der kostbarsten Titel Jesu Christi wurde. In diesem einen Ausdruck ist alle Liebe, das ganze Opfer, das gesamte Leiden und der großartige Sieg Jesu Christi zusammengefasst.
29. JANUAR
Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt
mich nicht aufgenommen.
MATTHÄUS 25, 43
Eine fremde Stimme oder eine fremde Hautfarbe erscheinen vielen Menschen verdächtig. Sie haben das Gefühl, Fremde stehen ihnen im Weg und nehmen ihnen die Arbeit weg, weshalb sie sie ablehnen.
Die Dichterin Elisabeth Langgässer erzählte einmal eine Begebenheit. Am Eingang eines schönen Bergdorfes wollten Arbeiter einen Pfahl aufstellen, an dessen Spitze ein großes Schild genagelt werden sollte. Sie suchten sorgfältig nach dem günstigsten Platz, um ihr Schild anzubringen, denn es sollte »gewissermaßen als Gruß, den die Ortschaft jedem Fremden entgegenschickte«, dienen. Nach langem Suchen stellten sie ihr Schild unmittelbar neben ein Wegkreuz mit dem gekreuzigten Christus. Das schien ihnen der beste Platz zu sein, denn hier konnte jeder die Inschrift lesen. Und sie hatten recht, viele Menschen kamen vorbei und lasen, was auf dem Schild geschrieben stand. Langgässer schreibt: »Auch der sterbende Christus, dessen blasses, blutüberronnenes Haupt im Tod nach der rechten Seite geneigt war, schien sich mit letzter Kraft zu bemühen, die Inschrift aufzunehmen, sie ging ihn gleichfalls an … « Und wie lautete die Inschrift? »In diesem Kurort sind Juden unerwünscht.«
Für Fremde ist hier kein Zuhause. Damals waren es die Juden, heute sind es Türken, Afrikaner, Übersiedler, Asylbewerber … Menschen, die eine andere Religion, andere Sitten und Gebräuche, andere Eigenarten haben. Aber gerade in ihnen begegnet uns Jesus, in den Fremden, den Heimatlosen, den Vertriebenen, den Verfolgten. Jesus hat sich immer für Ausgestoßene und Abgelehnte stark gemacht. Wer sie antastet, tastet auch ihn an. Wie schrieb der katholische Theologe Romano Guardini: »Das ist aller Gastfreundschaft tiefster Sinn, dass einer dem anderen Rast gebe auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause.«
30. JANUAR
Denk an deinen Schöpfer in der Jugend, ehe die bösen
Tage kommen und die Jahre sich nahen, da du wirst sagen:
»Sie gefallen mir nicht.«
PREDIGER 12, 1
»Altwerden ist das schwerste Examen, das Gott uns zumutet«, hat ein weiser alter Mensch geschrieben.
Der Schriftsteller Edgar Allan Poe ist für seine spannenden, oft gruseligen Geschichten bekannt. Eine handelt von einem Gefangenen, der in einer Zelle sitzt und das unbarmherzige Gefühl hat, dass sich die vier Wände langsam, aber unaufhaltsam auf ihn zubewegen. Der Häftling muss erkennen, dass sein Lebensraum von Stunde zu Stunde kleiner wird und ihm allmählich die Luft ausgeht. Schließlich kann er die Tage berechnen, die ihm noch bis zum Ende verbleiben, bevor ihn die Wände grausam zermalmen werden. Er sieht keinen Ausweg, es gibt keine Tür, kein Fenster, keine andere Öffnung.
Solche Panikattacken können auch uns befallen, wenn unsere Erwartungen auf diese Weltzeit beschränkt bleiben. Ich denke zum Beispiel an einen Mann, der von Selbstmordgedanken geplagt wurde, weil er im Leben keinen Ausweg mehr sah. Auch für ihn gab es keinen Lichtblick, kein Schlupfloch, seine Welt war »mit Brettern zugenagelt«, wie wir zu sagen pflegen, wenn wir es mit Menschen ohne Hoffnung und ohne Zukunft zu tun haben.
Der Prediger hat recht: »Denk an deinen Schöpfer in der Jugend, ehe die bösen Tage kommen.« Das Alter wird gern mit den Jahreszeiten Herbst und Winter verglichen. Die Kraft der Sonne hat dann nachgelassen. Die klare Luft ist mit weiter Fernsicht verbunden. Das Reifen der Früchte und die Beeren an den Sträuchern sind eine letzte wunderbare Hymne an den lebendigen Gott. Aber Resignation und Verzweiflung müssen nicht das letzte Wort behalten, denn das Leben hat kein schreckliches Ende. Vielmehr heißt das Ziel Ewigkeit bei Gott. Wer aber von diesem irdischen Leben alles erwartet, der wird »böse Tage« doppelt schmerzlich empfinden.
31. JANUAR
Noch im Greisenalter gedeihen sie, sind saftvoll und grün.
PSALM 92, 1 – 5
Von den Alten ist hier die Rede. »Sie werden sprossen wie Palmen und Zedern. Sie werden grünen in den Vorhöfen unseres Gottes.« So heißt es im Textzusammenhang.
Albert Schweitzer, der bekannte Arzt und universelle Denker, hat wunderbare Sätze über den alternden Menschen geschrieben: »Niemand wird alt, weil er eine Anzahl Jahre hinter sich gebracht hat. Man wird nur alt, wenn man seinen Idealen Lebewohl sagt. Mit den Jahren runzelt die Haut, mit dem Verzicht auf Begeisterung aber runzelt die Seele. Sorgen, Zweifel, Mangel an Selbstvertrauen, Angst und Hoffnungslosigkeit, das sind die langen, langen Jahre, die das Haupt zur Erde ziehen und den aufrechten Geist in den Staub beugen. Ob siebzig oder siebzehn, im Herzen eines jeden Menschen wohnt die Sehnsucht nach dem Wunderbaren. Du bist so jung wie deine Hoffnung, so alt wie deine Verzagtheit. Solange die Botschaften der Schönheit, Freude, Kühnheit, Größe, Macht von der Erde, den Menschen und dem Unendlichen dein Herz erreichen, solange bist du jung. Erst wenn die Flügel nach unten hängen und das Innere deines Herzens vom Schnee des Pessimismus und vom Eis des Zynismus bedeckt sind, dann erst bist du wahrhaft alt geworden.«
Wer dem Herrn vertraut, lässt die Flügel und die Mundwinkel nicht hängen. Wer sich vom Herrn begeistern lässt, egal wie alt er ist, der wird nicht vom Pessimismus und vom Zynismus, von Sorgen und Zweifeln in den Staub gebeugt. Der Psalmist sagt es: Noch im Greisenalter gedeihen diese Menschen, sie sind saftvoll und grün.
Wer sich gehen lässt, geht rückwärts. Wer alle Hoffnung fahren lässt, lebt hoffnungslos. Wer Pläne und Wünsche in Gottes Namen realisiert, bleibt häufiger als andere kraftvoll, frisch und im Saft.
1. FEBRUAR
Du, Herr, hast deine Vorschriften gegeben, damit man sich
mit Sorgfalt danach richtet. Ich wünsche mir noch mehr
Entschiedenheit, mich deinen Ordnungen zu unterstellen.
PSALM 119, 4 – 5
Wenn Gottes Ordnungen einfach über den Haufen geworfen werden, dann baden Mensch und Tier dies aus. Die Folgen sehen wir überall: Die heutige westliche Gesellschaft wird von den Konsequenzen solcher Unterlassungen geprägt. Der Journalist und Politiker Peter Gauweiler kennzeichnet das Drama so: »Das sind Erosion und Verwahrlosung, Aids, Rinderwahnsinn und Creutzfeld-Jakob-Krankheit. Jetzt die Maul- und Klauenseuche, die wie ein großes Steppenfeuer ausgebrochen ist. Ist es ein Zufall, dass diese Debakel jetzt auftreten? … Der Rinderwahnsinn (BSE) ist besser bekannt als Fütterungswahnsinn. Dahinter steckt der perfide Vorgang, zur Optimierung der Milchproduktion von Hochleistungskühen Tierkadaver zu verfüttern.«
Die Zahlen sprechen für sich. Millionen Tiere mussten wegen BSE-Verdachts geschlachtet und vernichtet werden. Noch einmal Peter Gauweiler: »Aber hinter diesem Unglück steckt mehr, eine übergreifende Verblendung: Es ist der rücksichtslose Wille, Grenzen zu beseitigen. Ein ›Fortschritt‹, der über Leichen rollt.«
Der lebendige Gott hat uns Vorschriften, Gebote und Ordnungen gegeben. Wer sie beiseiteschiebt, schadet sich und der Gemeinschaft. Nur wir selbst können – mit noch mehr Entschiedenheit, wie der Psalmist es für sich fordert – daran arbeiten, uns Gottes Ordnungen zu unterstellen.
2. FEBRUAR
Was meint ihr? Wenn ein Mensch hundert Schafe hätte und
eins unter ihnen sich verirrte: Lässt er nicht die neunundneunzig






