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„Ist absolut notwendig“, meinte Lead lapidar, „Sie werden schon sehen!“
Er klopfte auf den Tisch, aber er hatte auch ohne diese Geste die Aufmerksamkeit der anderen drei Gesprächsteilnehmer. „Mr. Sanders, Ihren Bericht bitte.“
Horacio Sanders räusperte sich. Er war der neue Direktor der SAD, der Special Activities Division, jener geheimen Abteilung der CIA, die verdeckte Operationen in aller Welt ausführte und im Bedarfsfall über paramilitärische Einheiten verfügte, was der Öffentlichkeit und sogar dem Kongress weitgehend unbekannt war, weil die Kosten meist aus anderen, völlig unverdächtigen Etats abgezogen wurden.
Sanders war der einzige Farbige in diesem Kreis, im Dienst ergraut, von schlanker, hoher Gestalt. Seine hohe Stirn und seine goldene Nickelbrille verliehen ihm etwas Professorales und sein scharfer Intellekt bestätigte den äußeren Eindruck nachdrücklich.
Er war ursprünglich Analyst gewesen, kein Agent, was seiner Beförderung einen gewissen Überraschungseffekt verlieh. Er hatte nie im Militär gedient, nie eine Pistole in der Hand gehabt, nie einen Gegner getötet. Seine Waffen waren Computer und ein messerscharfer Verstand und wenn seine Finger wie rasend über die Tastatur flogen, schauten die Umstehenden mit offenen Mündern zu. Vor kurzem war es ihm gelungen, gewaltige Finanzströme von Saudi Arabien zu einigen Terrororganisationen aufzudecken, was dem arabischen Ölstaat einigen Ärger und ihm erhebliche Meriten eingetragen hatte.
Einige dieser Ströme hatte er sogar auf Offshore-Konten der Agency umgeleitet, was die Saudis gehörig geärgert und dem Präsidenten ein Schmunzeln abgerungen hatte.
Da aber für die Saudis auch ein zweistelliger Millionenbetrag kaum mehr als Peanuts bedeutet und die guten Beziehungen zu den USA den Scheichs sehr viel wichtiger waren als ein paar Gelder, die ohnedies weg gewesen wären, hielt man sich im Wüstenstaat mit Nachforschungen oder verärgerten Reaktionen zurück und ließ die Sache auf sich beruhen.
Nicht zuletzt diese Erfolge hatten zu seiner überraschenden Beförderung beigetragen, bei der der Präsident persönlich mitgewirkt hatte.
Sein Vorgänger Philipp McAllister war vor kurzem über eine Affäre, insgeheim Marschbefehl-Operation genannt, gestolpert, die das Missfallen des Präsidenten erregt und McAllister einen vorzeitigen Ruhestand eingebrockt hatte, freilich bei vollen Bezügen. Und statt Agenten mit dubiosen Aufträgen durch die Welt zu schicken, stand er jetzt mit Vorliebe am Potomac River und angelte nach Barschen.
Sic transit gloria mundi!
Sanders sonore Stimme erfüllte den Raum.
„Nun Sir, wir haben mehrere ungeklärte Todesfälle unter unseren Agenten.“
„Ja, und ich möchte wissen, wer unsere Agenten jagt! Berichten Sie!“
„Beim ersten Fall handelt es sich um die nach wie vor ungeklärte Ermordung der Agentin Cathy Meywether in Bern. Obwohl wir hart daran arbeiten, haben wir immer noch keine Ahnung, was da passiert ist.“
„Die schwarze Cathy“, murmelte Lead, „Operation Marschbefehl, oder?“
„Ja, Sir.“
„Weiter!“
„Der zweite Fall betrifft die Tötung unseres Stationschefs in London.“
„Tom Brendan, nicht wahr? Und haben wir da wenigstens irgendwelche Erkenntnisse?“
„Nein Sir, wir sind auch da noch keinen Schritt weitergekommen, aber die Umstände lassen vermuten, dass der Täter ein Insider war. Der Täter kannte den Code und hat gewartet, bis die Sekretärin in ihre Mittagspause ging. Er kannte also die Abläufe dort genau.“
„Insider, ja? Ärgerlich, sehr ärgerlich. Aber das sind Altlasten, die Sie von Ihrem Vorgänger übernommen haben. Trotzdem, ich erwarte, dass das so schnell wie möglich aufgeklärt wird. Weiter!“
„Der dritte Fall betrifft den Feldagent Second Grade Phil Peterson. Er wurde vor drei Wochen in Ostberlin ermordet, in seinem Hotel erschossen. Wir arbeiten mit der deutschen Polizei zusammen, haben aber keinerlei Hinweise auf den Täter, aber immerhin konnte die Liste sichergestellt werden, die er von einem russischen Informanten besorgt hatte.“
Leads Augen blickten zornig, im Geist sah er vor sich, wie ein weiterer, goldener Namensstern an die Marmortafel im Eingangsbereich seines Gebäudes angebracht wurde.
„Was nutzt mir die Scheißliste, wenn sie einen weiteren Agenten gekostet hat. Der Mann war verheiratet, hatte ein Kind. Wie soll man das der Frau beibringen?“
„Nun, mit Verlaub, Sir, das gehört zum Berufsrisiko und die Frau wird es verstehen. Sie kriegt schließlich eine ansehnliche Witwenpension.“
„Sanders, werden Sie nicht zynisch!“
Lead bemühte sich, seinen Abteilungsleiter empört anzublicken. In Wahrheit teilte er dessen Meinung – jedenfalls bis zu einem bestimmten Grad.
„Weiter!“, sagte er mürrisch.
Sanders war nicht aus der Ruhe zu bringen. Er fuhr sachlich fort.
„Der vierte Fall betrifft den Tod des Agenten Second Grade Gordon Rush. Er wurde vor einer Woche in Köln erschossen, das liegt in Deutschland …“
„Ich weiß, wo Köln liegt“, meinte Lead unwirsch, „den Kölner Dom kennt ja schließlich jeder!“
Sanders ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen.
„Natürlich, Sir. Und genau vor diesem Kölner Dom wurde er erschossen. Die Umstände sind noch ungeklärt, die Kölner Polizei hat noch keine Erkenntnisse über Täter oder Motiv weiß aber, dass das Opfer einer von uns war.“
„Weil …?“
„… er seinen Ausweis in der Tasche hatte!“
Lead nickte. Das war nicht ungewöhnlich und verstieß gegen keine Regel, solange er nicht verdeckt arbeitete. Das Bild des toten Agenten tauchte vor seinen Augen auf.
Sein volles schwarzes Haar, sein markantes Gesicht, seine kräftige Statur, seine offenen, ehrlichen blauen Augen. Erst seit drei Jahren bei der Agency, aber bald wäre eine Beförderung zum First Grade fällig gewesen.
Er hatte Rush gut gekannt und ihn wegen seiner sorgfältigen und gleichzeitig dezenten Arbeitsweise geschätzt. Eine dezente Arbeitsweise ist für eine Agency wie die ihre von höchster Bedeutung, egal, ob es sich dabei um eine Observierung oder eine angeordnete Liquidierung handelt.
Jetzt musste man seiner Frau Nancy und den beiden Kindern diese Nachricht beibringen – ein Scheiß-Job.
Okay, das würde Sanders machen, der kann so was. Eine angemessene Beisetzung in Arlington, kaum zwei Meilen von hier, mit Trompete, Salutschüssen und eingerollter, übergebener Fahne. Eine Pension für die Witwe und ein weiterer Name auf dem Messingschild im Eingangsbereich, auf der die im Einsatz umgekommenen Agenten verewigt waren. Das war alles, was von ihm bleiben würde.
Er zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren.
„Woran hat Rush gearbeitet?“
Tim Bernardini, sein Nebenmann, hob die Hand. Er war noch recht jung, ein untersetzter Mitdreißiger mit leichtem Bauchansatz, einer spitz gebogenen Nase und einer Schildplattbrille, die er gerne auf der Hand balancierte. Die Kollegen verglichen ihn gerne mit dem verstorbenen Schauspieler Robin Williams, ein Vergleich, den er gerne zur Kenntnis nahm. „Rush war zusammen mit Agent Wills auf eine Gruppe von Waffenhändlern angesetzt, die von Westdeutschland über Belgien und Holland Waffen in den Nahen Osten verschiebt, Adressat vermutlich IS-Gruppen im Libanon und in Syrien.“
„Wo ist Wills?“
„Noch in Köln.“
„Haben wir Kontakt zu ihm?“
„Ja, Sir!“
„Okay. Soll erst mal da bleiben. Hat die Ermordung von Rush mit seinem Auftrag zu tun?“
„Eher nicht, Sir“, antwortete Bernardini. „Die beiden Agenten waren erst seit vier Tagen unten und hatten noch keinen Kontakt zu der Gruppe geknüpft. Sie waren noch bei den Vorermittlungen. Von daher glaube ich nicht …“
„Okay!“
Lead unterbrach ihn unwirsch.
„Was ist mit Warschau?“
„Warschau ist noch mysteriöser, unser … äh … fünfter Fall“, Sanders sonore Stimme füllte den Raum.
„Barbara Dudek, Agentin First Grade. Erfahrene Agentin, seit mehr als zwölf Jahren bei uns. Sie war in Warschau auf Urlaub. Wie Sie sicher wissen, stammen ihre Großeltern aus Krakau in Polen. Sie leben noch dort und Agentin Dudek hatte sie besucht. Sie war auf dem Rückweg und machte für zwei Tage Station in Warschau.“
„Also hatte sie dort keinen Auftrag?“
„Nein, Sir, wie schon gesagt, sie war dort auf Urlaub. Hätte gestern zurückkehren müssen. Auch die Polizei in Warschau tappt noch im Dunklen. Allerdings gibt es zwischen den beiden Taten einen erheblichen Unterschied.“
„Nämlich?“
Nun meldete sich der dritte Teilnehmer, der bisher schweigend dabei gesessen hatte.
Agent Herbert Collins war erst seit zwei Jahren bei der Agency, ein schlanker, aber kräftiger, gut aussehender Mann mit vollem schwarzem Haar, energischem Kinn und ausdrucksvollen Gesichtszügen. Er lehnte sich nach vorne, als wolle er die Aufmerksamkeit des Direktors gewinnen, die er ohnehin hatte. „Rush wurde mit einem großkalibrigen Gewehr aus relativ kurzer Entfernung erschossen, Peterson mit einer 9 mm Pistole, aber Dudek wurde vergiftet.“
„Ich habe es in der Akte gelesen. Aber vergiftet? Wie? Weiß man Näheres?“
„Ja, Sir. Mir liegt der Obduktionsbericht aus Warschau vor, die Kollegen waren sehr kooperativ. Bei der Obduktion hat man eine winzige Kapsel aus Platin und Iridium gefunden, die das Gift Rizin freigesetzt hat. Rizin gewinnt man aus dem Samen des Wunderbaums, man kann es aber auch chemisch herstellen. Es gehört zur Gruppe der Lektine, die aus einer zellbindenden und einer giftvermittelnden Komponente bestehen. Seine tödliche Wirkung wird auf eine Hemmung der eukaryotischen Proteinbiosynthese zurückgeführt.“
„Mensch, Collins. Können Sie das auch etwas einfacher darstellen?“
Lead verzog seine Mundwinkel mürrisch nach unten und klopfte mit seinem Füller auf den Tisch.
„Natürlich, Sir. Ich werde mich bemühen, aber es handelt sich um einen durchaus komplexen Vorgang.“
„Also?“
„Bei der Proteinbiosynthese handelt es sich um die Neubildung von Proteinen in Zellen, das ist der für alle Lebewesen zentrale Prozess der Genexpression, durch den die Proteine der Erbinformation gebildet werden. Wird dieser Prozess nachhaltig gestört oder gar verhindert, tritt der Tod ein.“
„So schnell?“
„Normalerweise tritt der Tod erst nach Stunden ein“, ergänzte Sanders nüchtern, „wenn der Tod so schnell eintritt, muss es sich um eine besonders hohe Dosierung gehandelt haben.“
„Dazu kommt, Sir, dass solche Mittel gewöhnlichen Kriminellen nicht zur Verfügung stehen, man kann so etwas weder im Drogeriemarkt kaufen noch im Internet noch nicht einmal im Darknet. Mit diesen Mitteln arbeiten nur wenige Geheimdienste. Wir haben äh … auch schon damit gearbeitet.“
„Welche Geheimdienste arbeiten sonst noch mit … Rizin?“, wollte Lead wissen.
„Nun, soweit wir wissen, waren das der FSB und sein Vorgänger KGB, früher die ostdeutsche Stasi, der bulgarische Geheimdienst DANS, der israelische MOSSAD und zu Zeiten Ghadaffis der libysche Geheimdienst Amn Al-Jamahirya, aber das ist vorbei. In Libyen gibt es, wie Sie wissen, keinen nennenswerten Geheimdienst mehr, nur noch Chaos.
Vom Einsatz bei anderen Diensten ist uns nicht bekannt. Vielleicht arbeiten auch die Chinesen …“
„Bloße Vermutungen bringen uns nicht weiter“, raunzte Lead. „Fassen wir zusammen: Zwei unserer Mitarbeiter wurden in Bern und in London ermordet, das ist ein halbes Jahr her und wir haben keine Ahnung, wer die Täter waren. Das ist höchst unbefriedigend! Wenn der Senat davon erfährt, haben wir ein Problem. Oder besser, ich habe ein Problem. Und dann wurden drei weitere unserer Agenten im Abstand von jeweils einer Woche ermordet, in Köln und in Polen und in Berlin, mit unterschiedlichen Methoden. Zwischen den Opfern und ihren Tätigkeiten scheint kein Zusammenhang zu bestehen und trotzdem glaube ich nicht an einen Zufall. Zudem weist die Tötungsart zumindest in einem Fall auf die Verwicklung eines anderen Dienstes hin. Wer will uns hier an den Karren pissen?“
Keine Antwort, die Männer schwiegen.
Lead schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
„Verdammte Scheiße. Wir müssen das aufklären, und zwar bald. Dass Agenten im Dienst umkommen, ist normal, Berufsrisiko. Dass sie aber gezielt ermordet werden, ist nicht hinnehmbar, absolut nicht. Und die Öffentlichkeit ist auch schon informiert.
Hier, steht schon was in einer regionalen deutschen Zeitung, dem äh … Kölner Stadtanzeiger und es nur eine Frage der Zeit, bis sie das in der Post auch finden.
Er nahm eine Zeitung aus der Akte und knallte sie auf den Tisch:
Mysteriöser Mord auf der Domplatte
In den frühen Stunden des gestrigen Abends wurde auf der Domplatte ein mysteriöser Mord begangen. Ein Mann, etwa Mitte Dreißig, wurde aus kurzer Entfernung erschossen. Seine Identität ist der Polizei bekannt, wird aber aus ermittlungstaktischen Gründen noch verschwiegen. Wie wir aber aus gut informierten Kreisen erfahren haben, soll es sich bei dem Opfer um einen Mitarbeiter der amerikanischen CIA gehandelt haben. Was macht ein CIA-Agent am Dom und wer hat ein Interesse, ihn zu ermorden? Die Polizei tappt noch im Dunkeln. Zeugen werden gebeten, sich bei der Polizei unter 0221/ 229-0 zu melden.
„Die Sache hat höchste Priorität, meine Herren. Wir werden unter Ihrer Führung, Collins, eine Gruppe von fünf Agenten zur hausinternen Ermittlung daran setzen. Das alles schmeckt nach einem Maulwurf in unseren Reihen, das Schlimmste, was uns passieren kann. Ich höre schon, wie der Kongressausschuss mir seine peinlichen Fragen stellt, daran darf ich gar nicht denken!“
Er machte eine kurze Pause, um seine Worte wirken zu lassen, bevor er fortfuhr: „Also, höchste Geheimhaltungsstufe und ich erwarte sehr bald Ergebnisse. Berichte unmittelbar an mich und nur an mich! Außerdem werden wir dem Agenten Wills in Köln Verstärkung schicken. Prüfen Sie, Sanders, wer dafür in Frage kommt.“
Er machte eine kurze Pause und griff nach dem Teeglas, das er immer vor sich stehen hatte.
„Wo treibt sich eigentlich Agent Donelli rum?“
„Er ist zurzeit in Mailand und observiert eine Gruppe von Salafisten“, sagte Sanders.
„Ziehen Sie ihn ab, ich will ihn auch in Köln haben, soll was Ordentliches für sein Geld tun. Nehmen Sie für die Observation ein paar junge Nachwuchsagenten.“
„Okay, Sir.“
Lead fixierte seine Mitarbeiter mit einem scharfen Blick, was Komplikationen bedeutete und erhöhte Alarmbereitschaft hervorrief.
„Im Übrigen ist die NSA bereits involviert und wird ihre Kontakte zu anderen Diensten einsetzen und da ein terroristischer Hintergrund nicht auszuschließen ist, hat auch das FBI erste Ermittlungen aufgenommen. Und damit nicht genug, auch der Stabschef vom Weißen Haus sitzt mir im Nacken! Ich habe den Eindruck, die halbe Welt steht hier in Langley vor der Tür und wartet darauf, wie wir das Problem lösen. Die Sache bläht sich auf wie Ballon und wir müssen aufpassen, dass wir nicht mitten drin sitzen, wenn er platzt.
Fünf tote Agenten aus unserer Firma!
Ein Albtraum!
In zwei Tagen habe ich ein Meeting mit den zuständigen Abteilungsleitern von NSA und FBI und dem Stabschef. Und dann möchte ich nicht als nackter Mann dastehen.“
Die drei Mitarbeiter nickten. Das war verständlich, diese Peinlichkeit mussten sie ihrem Direktor ersparen.
Aber schon fuhr Lead fort:
„Und noch etwas, Kollegen: Der Präsident persönlich ist beunruhigt, für ihn ist die Sache eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit. Sie wissen, was das bedeutet, meine Herren, also ab an die Arbeit!“
6. Kapitel
Köln/Südstadt
Viele, die bei Kindern sind, tun ihre Pflicht, aber das Herz ist nicht dabei. Das merkt das Kind. (Wilhelm von Humboldt)
Die Merowingerstraße liegt in der Kölner Südstadt, unweit vom mittelalterlichen Severinstor, das im Gegensatz zum Pantaleonstor den Abrisswahn überstanden hat und zum Mittelpunkt der Südstadt wurde. Die Straße verfügt über eine gemischte Bebauung, bei der schöne alte Häuser aus der Gründerzeit neben hastig errichteten, schmucklosen Bausünden aus der Nachkriegszeit stehen. Der türkische Dönerladen findet sich hier ebenso wie die alte kölsche Eckkneipe, der Kramladen neben der Edelboutique, und zu den vielen Wohneinheiten gehören auch etliche Sozialwohnungen für weniger solvente Mieter.
In einer solchen Sozialwohnung saß Pfarrer Markus Bassler am frühen Nachmittag und nippte an einem dünnen Kaffee. Nach einem langen Gespräch mit Frau Mundorf hatte er die Einladung angenommen und versprochen, mit Anne, dem Sorgenkind, zu sprechen.
„Ich kann nichts versprechen, aber ich will es versuchen.“
Frau Mundorf hatte ihm dankbar die Hand gedrückt.
Die Wohnung empfing ihn mit einem durchdringenden Nikotingeruch, ergänzt durch die letzte Mittagsmahlzeit, wahrscheinlich Erbseneintopf.
Bassler saß auf einer Couch, die schon bessere Zeiten gesehen hatte und eher zum Sperrmüll als in ein Wohnzimmer gepasst hätte und betrachtete die kitschigen, in goldene Kunststoffrahmen gepressten Bilder, die im Original vor langer Zeit von Spitzweg gemalt worden waren. Der „Arme Poet“ hing neben dem „Eremit“, daneben der „Sonntagsspaziergang“ und der „Antiquar“, offenbar liebte man in diesem Haus den Münchener Maler. Aber daneben hing auch ein Hochzeitsfoto der Wohnungsinhaber, auf dem zumindest die Braut einen weniger glücklichen Eindruck machte, und das Foto eines hübschen jungen Mädchens im Konfirmationskleid. Anne in besseren Zeiten.
Couch und Sessel waren ordentlich mit leicht vergilbten Spitzendecken verziert, die bunte Tapete mit großblättrigem Blumenmuster war auch in den 70er Jahren schon sehr beliebt gewesen und der kleine Wohnzimmertisch aus rustikaler Eiche mit Delfter Kachelmuster wies zahlreiche Kerben auf. Auf dem Tisch eine aufgeschlagene Fernsehzeitschrift und ein überquellender Aschenbecher.
Im Hintergrund lief im großformatigen Fernseher eine belanglose Talk-Show, der Ton war abgestellt. Die Teilnehmer schrien sich gerade lautlos an.
Gegen die ungeputzten Fenster klatschten dicke Regentropfen, die wir kleine Perlen herunterliefen, ansonsten beherrschte eine penible Sauberkeit den Raum.
Gegenüber saß schweigend das Ehepaar Mundorf. Eduard, der Mann, Mitte fünfzig, fast zwei Meter groß, grobschlächtig mit zauseligem Bart. Die Schultern breit, aber nicht weniger breit die Hüfte, ein ausgeprägter Bierbauch wölbte sich unter dem T-Shirt.
Zähne und Finger nikotingelb, eine dominante und kompromisslose Erscheinung.
Jemand, mit dem man eigentlich keinen Streit haben möchte. Er trug ein verblasstes T-Shirt mit dem Aufdruck Fortuna Köln und eine alte Jogginghose, die an mehreren Stellen geflickt war. Seine Füße steckten in nagelneuen Adidasschlappen.
Bassler musste an das Zitat des Modeschöpfers Lagerfeld denken, das er vor kurzem beim Friseur in einer Frauenzeitschrift gelesen hatte. (Wo, wenn nicht beim Friseur liest ein Geistlicher auch schon mal in der Freundin):
Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.
Vielleicht war das übertrieben, aber bei Mundorf schien es zuzutreffen und Bassler, der keine einzige dieser Hosen sein Eigen nannte, schüttelte sich innerlich bei dem Gedanken, so etwas tragen zu müssen.
Abrupt rief er sich zurück in die Gegenwart und fixierte Mundorf.
Seine kleinen Augen wirkten tückisch und drückten deutlich Missfallen aus, Missfallen über die Situation – und den Besucher. Seine narbige, rote Nase zeugte von erheblichem Alkoholkonsum.
Vor langer Zeit muss er einmal ganz gut ausgesehen haben, aber die Zeit und die Umstände haben ihn zu diesem Wrack gemacht, dachte Bassler. Mitleid regte sich in ihm. Es ist schon manchmal tragisch, wie das Leben den Menschen mitunter mitspielt. Wenn der Mann seine Arbeit nicht verloren hätte …
Mundorf drückte gerade seine Zigarette so intensiv aus, als wolle er eine lästige Fliege für alle Zeit beseitigen und warf immer wieder sehnsuchtsvolle Blicke auf den stummen Fernseher.
Daneben seine schmale, ängstlich wirkende Frau. Sie machte auf Bassler einen devoten Eindruck, schien ständig gebückt herumzulaufen und sich für ihr Dasein zu entschuldigen.
Gemeinsam warteten sie auf Anne, die „sich noch schnell fertig machen wollte“.
Und dann erschien sie – und Bassler erkannte sie nicht wieder.
Er hatte extra zu Hause ein Konfirmationsbild von vor zwei Jahren zur Hand genommen und Anne Mundorf herausgesucht, ein lebensfrohes Mädchen mit langem, braunem Haar, blitzenden, schalkhaften Augen und einer für ein vierzehnjähriges Mädchen gut entwickelten Figur.
Und jetzt?
Herein kam ein blasses Etwas mit grauem Kopftuch, darunter trug sie eine wald-grüne, bis auf den Boden reichende Shirt-Tunica, die den Körper und seine Formen völlig verhüllte, aber doch den Grad ihrer Abmagerung ahnen ließ. Nur die Augen blitzten noch so lebhaft wie vorher, allerdings weniger schalkhaft, mehr aggressiv.
Bassler reichte ihr die Hand, aber der Gruß wurde nicht erwidert.
Anne setzte sich auf den letzten freien Sessel und brachte etwas wie ein verkrampftes Lächeln zustande.
„Sicher sind Sie hier, um mich wieder auf den richtigen Weg zu bringen, oder?“
„Anne, sei nicht frech!“, polterte Eduard Mundorf und verzog angewidert seinen Mund.
Bassler hob seine Hand.
„Nein, Anne. Ich bin hier, weil mich deine Eltern darum gebeten haben und ich mich auch um meine Konfirmanden nach der Konfirmation zu kümmern pflege. Es kann mir nicht egal sein, wie sich meine Schützlinge weiter entwickeln. Wie ich sehe, machst du gerade eine Entwicklung durch, eine Entwicklung, die deine Eltern betrübt und die auch mich nachdenklich macht. Vielleicht kann ich helfen, dir und deinen Eltern.“
„Schützling? Helfen? Ich brauche keine Hilfe, meine Eltern vielleicht, ich nicht. Ich habe meinen Weg gefunden.“
In diesem Augenblick kam ein kleiner Junge herein, in der Hand trug er ein Schulheft.
„Kann mir jemand bei den Rechenaufgaben helfen?“
„Guido, lass uns bitte allein und geh wieder spielen.“
Kaum hörbar hauchte die Mutter das, aber es genügte, den kleinen Burschen sofort wieder verschwinden zu lassen.
„Was meinst du, wenn du sagst, du hättest deinen Weg gefunden, Anne?“, wollte Bassler wissen. Sein Ton war betont freundlich.
„Den Weg, den Gott mir gezeigt hat. Der einzig wahre Gott, Allah, der Allmächtige!“
„Blödsinn“, fauchte Vater Mundorf, „das haben wir alles dieser kleinen Moslemschlampe Samira zu verdanken. Das war kein Umgang für dich! Hab ich dir tausend Mal gesagt.
Jetzt ist sie abgehauen und bringt Schande über ihre ganze Familie.“
Elke Mundorf versuchte, ihren Mann zu beruhigen und legte ihre Hand auf seinen kräftigen, behaarten Arm, aber der Mann war nicht mehr zu bremsen und schüttelte die Hand ab.
„Und glaub nur ja nicht, dass du uns das auch antun kannst. Eher stecke ich dich in die Fürsorge, als dass ich so was zulasse.“
Anne hatte keine Ahnung, was die Fürsorge war, ein Begriff aus dem vorigen Jahrhundert, und schwieg. Sie blickte ihren Vater nur an. Aus ihren Augen sprach bodenlose Verachtung.
Mundorf nahm einen kräftigen Schluck aus der Bierflasche, die vor ihm stand. Es war 15.00 Uhr, genau die richtige Zeit für das dritte Bier. Er rülpste und sein saurer Atem verteilte sich im Raum.
„Wir sollten die Angelegenheit etwas sachlicher angehen“, versuchte Pfarrer Bassler vermittelnd einzugreifen. „Wie kommt es, dass du auf einmal so denkst. Ich habe dich im Konfirmationsunterricht anders kennengelernt, ganz anders.“ „Mag sein“, antwortete Anne und zupfte ihr Kopftuch herunter. Kein Haar war mehr zu sehen.
„Manchmal ist es eben so, dass sich die Augen für das Wahre erst später öffnen. Ja, es stimmt, Samira hat mir dabei geholfen. Aber sie ist keine Schlampe, sondern sie hat ihre Erleuchtung schon erhalten. Und sie hat mir geholfen zu erkennen, dass alles, was ich bisher getan habe, nichtig und ohne Sinn ist, oberflächlich, eitel, sinnlos. Der wahre Grund, weshalb wir hier sind, besteht darin Gott zu dienen.“