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Thyburn ignorierte den Aufzug und stieg die wenigen Treppen in den ersten Stock hinauf. Dieses Stockwerk ist wichtig, weil es neben den üblichen Wegen einen weiteren Fluchtweg durch den Garten ermöglicht, falls, na ja, falls das Haus doch nicht so sicher ist. Der Garten selbst verdiente diesen Namen eigentlich nicht.
Ungepflegt und ohne Blumenschmuck, zwei in die Jahre gekommene Liegestühle standen auf dem mit Unkraut durchsetzten Boden, der sonst kaum Grün aufwies. In der einen Ecke verdorrte eine Hortensie, in der anderen befand sich ein verrosteter Container, der mit Gartenabfällen gefüllt war und den Eindruck erweckte, dort schon seit Baubeginn zu stehen.
Ein lachender Peter Wills empfing den Ankömmling.
„Mirinda! Ich freue mich ehrlich, dich zu sehen.“
Der Agent strahlte und nahm seine Kollegin herzlich in die Arme. Die beiden Agenten hatten vor einem halben Jahr in München erfolgreich zusammengearbeitet und im Auftrag der Firma einem Altnazi ein wichtiges Dokument abgenommen. Mirinda Thyburn war auch damals ihrem Kollegen zur Hilfe geschickt worden, weil die ursprüngliche Kollegin, Cathy Meywether von einem Mossad-Agenten getötet worden war. Nach erfolgreicher Mission hatten sie eine kurze, aber stürmische Liebesaffäre und sich danach aus den Augen verloren. Die Agency hatte sie in ganz verschiedene Teile der Welt geschickt und nun sahen sich seit einem halben Jahr zum ersten Mal wieder.
Wills führte sie in das behagliche kleine Wohnzimmer und sie setzten sich auf die beiden Sessel gegenüber dem Fenster.
„Gut siehst du aus, Kollegin!“
Er hielt ihre Hand und betrachtete sie von oben bis unten.
„Du hast deinen Charme auch nicht verloren, Peter“, entgegnete Thyburn.
„Denkst du manchmal noch an München?“
„Woran? An den alten Hackler, den wir hochgenommen haben?“
„Ja, an das und das, was nachher passiert ist? Ich fürchte, wir haben uns da äh …wenig professionell verhalten. Gut, dass Langley davon nichts mitbekommen hat.“
„Ich bereue das nicht Peter. Es war … schön.“
„Ja, Mirinda, war es. Wir standen nach der gefährlichen Sache in München unter Adrenalin und haben ein Ventil gesucht. Sex ist eines der Ventile in solchen Situationen.“
Thyburn sah ihn überrascht an.
„So hast du das damals gesehen. Ich war dein … Ventil?“
Wills lachte laut auf und schüttelte den Kopf.
„Sei nicht albern. Ich wollte es genau wie du und ich habe es nie bereut. An diesem Abend hatte ich plötzlich Gefühle für dich entwickelt, die mir vorher fremd waren. Ernste Gefühle, nicht oberflächlich. Es ging mir nicht um … Sex!“
„Nicht?“
„Nein, und wer weiß …?“
Er vollendete den Satz nicht und schlug sich gegen die Stirn. „Sorry, was bin ich für ein lausiger Gastgeber. Du hast bestimmt Durst? Wasser oder was Stärkeres? Und was zu essen?“
„Gegessen habe ich was im Flieger, aber Wasser wäre prima.“ Er stand auf, holte eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und zwei Gläser aus dem Schrank. Er goss die Gläser ein und holte seine Zigaretten raus.
„Du rauchst? Seit wann rauchst du denn?“
Thyburns Miene drückte mittleres Entsetzen aus.
„Seit unserem Einsatz in München. Nur ein paar am Tag. Stört es dich?“
Mirinda Thyburn schüttelte den Kopf, obwohl sie Rauchen hasste.
„Geht schon!“
„Prima! Aber jetzt sollten wir uns unserer neuen Aufgabe widmen.“
„Okay, was liegt an?“
Wills blies den Rauch in kleinen Wolken zur Decke und brachte sie in kurzen Worten auf den neuesten Stand.
Thyburn brachte ein verlegenes Hüsteln zustande und wedelte den Rauch mit grimmiger Miene von ihrem Gesicht weg.
„Und auf dich wurde geschossen? Hast du eine Ahnung von wem?“
Aus Thyburns Stimme klang echte Sorge.
Wills fasste sich an den Kopf. „Donnerwetter, das weißt du auch schon.“
„Klar, glaubst du, ich komme unvorbereitet?“
Er schüttelte den Kopf. „Beiger Anzug, Sommerhut. Das ist alles.“
Er drückte seinen Glimmstängel aus.
Es war dunkel geworden. Wills stand auf und knipste eine kleine Stehlampe an.
Thyburn bemühte sich, ein Gähnen zu unterdrücken.
„Du bist müde! Gott, was bin ich für ein Gastgeber. Du wirst müde sein und bestimmt hast du Hunger.“
„Nein!“
Thyburns Stimme klang entschieden.
„Ich habe im Flugzeug genug geschlafen und gegessen. Alles gut! Wie geht es weiter?
Ich denke, die Agency erwartet von uns, dass wir diesen Typ mit dem Sommerhut finden, oder? Kann es sein, dass er auch für die beiden anderen getöteten Agenten in Warschau und Köln verantwortlich ist?“
Wills nickte. „Ja, in Langley wird das vermutet.“
„Aber wer könnte das sein? Offenbar hat es ja nichts mit eurem Auftrag hier zu tun.“
„Nein, wohl kaum. Dazu kommt: Wer immer das ist, er muss Informationen haben, die eigentlich nur ein Insider hat, und zwar Insider ganz oben.“
„Du meinst einen Maulwurf in der Agency? In der … Chefetage?“
„Überleg mal! Wer kann wissen, dass Peterson in Berlin aktiv war, Rush und ich hier eingesetzt sind und die Agentin Dudek in Warschau Urlaub machte? Wer hat solche Informationen? Ich nicht und du auch nicht.“
Sie machte eine kurze Pause
„Kanntest du Peterson oder Dudek übrigens?“
„Nein, nur dem Namen nach. Aber du hast Recht. Das kann nur jemand wissen, der über unsere Einsatzlisten verfügt.“
„Und den werden wir finden, Ich hab auch schon eine Idee.“ Er griff nach seinem Handy und gab eine bestimmte Tastenfolge ein.
12. Kapitel
Langley/Virgina CIA-Zentrale
Spionieren ist eine schöne Sache, man verschafft sich die Genüsse des Diebes und bleibt dabei ein ehrlicher Mann. (Nestroy)
„Guten Tag. Central Intelligence Agency, Langley. Zentrale. Was kann ich für Sie tun?”
Eine weibliche, etwas rauchig klingende Stimme meldete sich aus der fernen Heimat.
Zu viele Zigaretten und zu viel Whiskey, wahrscheinlich blond wie Marilyn mit leicht verlebten Zügen und einem grell rot geschminkten Mund lautete Wills Schnelldiagnose.
Er musste ein guter Menschenkenner sein, denn wenn er sie gesehen hätte, hätte er seine Diagnose voll und ganz bestätigt gefunden.
„Feldagent Peter Wills.“
„Ihren Code bitte!“
Keine Verbindung ohne den persönlichen Code, mit dem ein Feldagent seine Authentizität nachwies.
„Code 27476-G.“
Kurze Stille, der Code wurde in der Liste der Feldagentengesucht.
„Ihr Anliegen, Agent Wills.“
„Ich möchte SAD-Direktor Sanders sprechen.“
„Einen Augenblick, Agent Wills.“
Es knackte in der Leitung und wenig später füllte die sonore Stimme von Horacio Sanders den Hörer.
„Agent Wills, Sie leben also noch?“
„Ja, Sir, wieso äh …“
„Ich habe natürlich von dem Mordversuch an Ihnen gehört.“
„Aber das habe ich erst gestern Abend Agent Bernardini gemeldet.“
„Und zehn Minuten später wusste ich es. Er hat mich zu Hause angerufen und beim Barbecue gestört“, das Schmunzeln war durch den Hörer zu ahnen.
„Sie sollten wissen, Agent, dass in meiner Abteilung nichts passiert, was ich nicht zehn Minuten später weiß. Ob der Hausmeister furzt, die Sekretärin neue Brüste oder die Telefonistin ihre Tage hat, ich weiß es.“
Wills grinste. Der Alte hatte prinzipiell Recht. So war er. Aber in diesem Fall schien er doch nicht alles zu wissen, und das war gut so!
„Und, ist Ihre Verstärkung schon eingetroffen?“
„Jawohl, Sir, Agentin Thyburn sitzt neben mir.“
„Gut, gut! Wenn nötig, werde ich Ihnen noch jemanden schicken. Was kann ich für Sie tun?“
„Sir, ich brauche eine Liste aller Personen in der Agency, die Zugang zu unseren Einsatzplänen haben.“
„Zugang zu den Einsatzplänen?“
Sanders räusperte sich. „Agent Wills, Sie wissen, dass Sie dazu keine Zugangsberechtigung haben, das liegt weit über Ihrer Gehaltsklasse. Wozu beim Allmächtigen brauchen Sie die denn?“
Wills schilderte in kurzen Worten seine Vermutung und wartete die Reaktion ab.
In Langley herrschte zunächst Schweigen.
„Ein Maulwurf? Ehrlich gesagt, der DCI hat so etwas angedeutet“, sagte Direktor Sanders, „aber es ist eine beschissene Vorstellung zu glauben, dass hoch oben in unseren Reihen jemand ist, der mit dem Killer zusammenarbeitet und unsere Leute zum Abschuss freigibt.
Und was für ein Motiv sollte der Mann haben? Geld, Rache, Ideologie?“
„Mann? Es könnte auch eine Frau sein, oder?“
„Natürlich, Agent Wills, natürlich.“
„Und das Motiv? Ich weiß es nicht, Sir, aber ich habe in meinen Jahren bei der Agency gelernt, dass es die abenteuerlichsten Motive für Schurkereien dieser Art gibt und dies scheint mir im Augenblick der einzige Weg zu sein das herauszufinden.“
„Gut, Mann, ich will eine Ausnahme machen und hoffe, dass es nicht meinen Kopf kostet.
Sie sollen Ihre Liste kriegen, auf dem üblichen Weg über unser Konsulat in Düsseldorf. Sie dürfen sie einsehen, aber das Konsulat verlässt sie nicht. Ich vertraue auf Ihre absolute Diskretion und Ihr Gedächtnis. Wenn die Liste in die falschen Hände gelangen würde, nicht auszudenken“, dröhnte Sanders.
„Und wie gesagt, ich werde Ihnen weitere Hilfe schicken.“
„An wen haben Sie gedacht?
„Weiß ich noch nicht!“
„Okay, danke.“
Wills dachte an die Liste, die bald vor ihm liegen würde.
Nur anschauen, nicht anfassen!
Wills versprach es und das Gespräch, das wie üblich auf einer abhörsicheren Leitung geführt worden war, war beendet.
13. Kapitel
Köln-Sülz
Verrat ist immer eine Frage der Definition (Talleyrand)
Wills blickte Thyburn triumphierend an.
„Wir kriegen die Liste.“
„Sanders?“
„Ja!“
„Kriegen sie?“
„Na ja, zumindest darf ich einen Blick drauf werfen. Und wahrscheinlich kriegen wir noch jemanden zur Unterstützung.“
„Aha! Kann nicht schaden.“
„Ich werde mir alle Namen in mein phänomenales Gedächtnis einprägen.“
„Und dann?“
„Dann werden wir Namen für Namen durchgehen und hinter jedem Namen ein Motiv notieren, wenn uns eins einfällt. Wir sortieren die aus, die wir ausschließen können und irgendwann werden wir bei einem hängen bleiben. Und den schnappen wir uns und Gott sei ihm gnädig!“
„Wenn ein Maulwurf in der Firma diese Liste hat, dann weiß er auch, dass ich jetzt hier bin, oder?“
„Natürlich, aber worauf willst du hinaus.“
„Ich werde der Lockvogel sein.“
„Lockvogel?“
„Dich hat der Killer schon versucht umzubringen, ohne Erfolg. Dann wird er es jetzt bei mir versuchen. Aber …“
„Pscht!“
Wills legte seine Finger plötzlich auf den Mund. Er deutete zum Fenster.
„Jemand im Garten! Leg dich auf den Boden, vom Garten aus kann man dich nicht sehen“, flüsterte er. Thyburn glitt augenblicklich auf den Boden.
Er stand auf, ging in die Hocke und schlich sich zum Fenster. Draußen war es fast stockdunkel, ein blasser Mond erhellte den Garten schemenhaft.
Eine Gestalt war mehr zu ahnen als zu sehen, ganz in schwarz, den Kopf mit einer Sturmhaube verhüllt. Sie stand auf dem Container und hielt etwas Längliches, Glänzendes in der Hand.
Und dann ging alles ganz schnell.
„Deckung“, schrie Wills und warf sich hin.
Thyburn nahm Deckung hinter dem Sessel und griff nach ihrem Pistolenhalfter. Keinen Moment zu früh! Sekunden später peitschte eine Serie von Schüssen durch die Luft und durchschlug das Fenster. Die Projektile gruben sich in Wand und Möbel oder prallten ab. Ihre Querschläger sausten unheilvoll durch die Luft.
„Kalaschnikow!“, schrie Wills.
Er robbte über den Boden und griff nach seiner SIG Sauer Scorpion. Obwohl der Kugelhagel andauerte, hob er die Hand über den Fensterrand und gab in schneller Folge vier Schüsse ins Dunkle ab. Ein Schmerzensschrei verriet, dass zumindest eine der Kugeln ihr Ziel gefunden hatte. Der Kugelhagel endete abrupt. Ein Geräusch, als sei jemand von dem Container gesprungen, dann wurden auch schon Fenster geöffnet und Schreie tönten durch die Nacht.
„Was war das?“
„Welches Arschloch ballert hier rum? Silvester ist doch vorbei!“
„Idiot, das waren Schüsse!“
„Ruft die Polizei!“
„Bist du verletzt?“ Wills robbte hinter den Sessel, wo Thyburn kauerte. Sie war blass und zitterte leicht.
„Nein, alles gut!“ Sie deutete auf den Sessel, der zahlreiche Kugeln abgefangen hatte.
„Aber du blutest!“, aus Wills Stimme klang echte Besorgnis.
„Querschläger, nichts Besonderes“, murmelte die Agentin und wickelte sich ein Tuch um den Arm.
„Wir müssen abhauen. Sofort! In fünf Minuten sind die Cops da und ich möchte ihnen nicht erklären müssen, warum wir offensichtlich das Ziel des Anschlags waren.“
Thyburn hatte ihre Tasche noch gar nicht ausgepackt, Wills aktivierte sein GPS, raffte in aller Eile die wichtigsten Sachen zusammen und Minuten später hasteten sie die Treppe hinab und drängten sich durch die Mitbewohner, die im Treppenhaus standen und das Geschehen aufgeregt diskutierten. Zwischen Hysterie und Neugier waren hier alle Reaktionen zu finden.
In dem Durcheinander fiel es gar nicht auf, dass es zwei Mitbewohner besonders eilig zu haben schienen, den Tatort zu verlassen.
Und keine Sekunde zu früh!
Die Polizeiwache Rhöndorfer Straße war vom Ort des Geschehens nur fünf Minuten entfernt, und länger dauerte es auch nicht, bis zwei Streifenwagen mit Blaulicht und durchdringender Sirene vor dem Haus hielten. Da standen die beiden Agenten schon auf der anderen Straßenseite und beobachteten aus sicherer Entfernung das Geschehen.
Fünf Beamte, darunter zwei Frauen mit langen blonden Zöpfen sprangen heraus und trafen auf eine Schar aufgeregter Hausbewohner, die ihnen in wildem Durcheinander einen verworrenen Ablauf schilderten. Und während zwei Beamten sich anschickten, den Garten mit Taschenlampen zu durchsuchen, begannen die anderen, die verworrenen Zeugenaussagen aufzunehmen.
„Wir haben genug gesehen“, sagte Wills lakonisch, „wir hauen ab!“
„Das war knapp“, flüsterte Thyburn. „Gut, dass deine Ohren in Ordnung sind.“
„Nicht nur meine Ohren“, grinste er etwas anzüglich.
„Aber das beweist meine Theorie. Der Unbekannte kennt nicht nur unseren Aufenthaltsort, sondern er weiß auch, dass du hier bist. Er wollte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, aber der Bursche wird langsam unvorsichtig. Das war jetzt schon der zweite Anschlag, der ihm misslungen ist. Und ich schwöre, den dritten wird er nicht überleben!“
Aber darin sollte sich der gute Agent irren!
14. Kapitel
Köln/Innenstadt
Seit jenem Tag, an dem der erste Schuft seinen ersten Dummkopf fand, gibt es Quacksalber. (Voltaire)
Dr. Klaus Marquardt galt in Köln als einer der Experten im Bereich der Inneren Medizin.
Seine Praxis auf dem Hohenstaufenring war klein, aber exquisit und nur Privatpatienten zugänglich. Marquardt war überdurchschnittlich groß und sehr schlank, fast schon hager. Sein volles Haar war weiß und lockig, seine randlose Brille betonte ein asketisches, aber freundliches Gesicht. Ein gepflegter Oberlippenbart verlieh ihm einen Hauch von Jugend und das kräftige, weiße Gebiss zeugte von besonderer Pflege. Ein Mann, der Kompetenz und Vertrauen ausstrahlte und dazu ausgesprochen gut aussah.
Daran änderten auch die mehr als sechzig Jahre nichts, die er schon hinter sich gebracht hatte.
Sein gestärkter blütenweißer Kittel verstärkte nachhaltig den Eindruck von Würde und Kompetenz. Er würde nie, wie manche andere Kollegen, ohne Ärztekittel auftreten. In Jeans und Buschhemd vielleicht? Gruselige Vorstellung!
„Ein Polizist trägt auch seine Uniform“, pflegte er zu sagen, wenn er darauf angesprochen wurde.
Doris Bassler hatte sich wieder angezogen und wartete auf das Ergebnis. Sie war nervös und nestelte mit fahrigen Händen an ihrer Tasche. Ihr Mann wusste nichts von dem Arztbesuch. Vielleicht war die Diagnose doch nicht so schlimm, und sie wollte ihm eine sinnlose Beunruhigung ersparen.
Das Ergebnis des Blutbildes lag jetzt ebenso vor wie der Befund des Ultraschalls und der Computertomographie. In den letzten Tagen war ein MRT veranlasst worden, sogar eine endoskopische Darstellung von Pankreasgang und Gallenwegen durch eine Röntgenaufnahme unter Kontrast. Nichts war ausgelassen worden, was gut, teuer und hilfreich war. Die Krankenkasse würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.
Der Arzt musterte seine Patientin nachdenklich. Er legte seine Hände zu einer Pyramide zusammen, wie er es immer unwillkürlich zu tun pflegte, wenn er schlechte Nachrichten zu überbringen hatte. Vielleicht sollte die Pyramide ein Schutzdach für den Patienten darstellen.
„Frau Bassler, es hat wenig Zweck, um die Sache herumzureden. Sie haben eine sehr gefährliche Krankheit, und sie ist in einem ziemlich fortgeschrittenen Zustand.“
Doris Bassler guckte ihn fragend an. Erste Tränen sammelten sich in ihren Augen.
„Vielleicht sollten wir zuerst Ihren Mann dazuholen.“
Bassler schüttelte den Kopf. „Weiter“, hauchte sie tonlos.
„Ein Pankreaskarzinom oder um es für Sie verständlicher zu machen Bauchspeicheldrüsenkrebs!“
Bassler schlug die Hände vor den Mund. Ein Todesurteil! Von diesem Krebs hatte sie schon gehört und er zählte zu den schlimmsten. Ihre Mutter war daran gestorben. Damals hatten zwischen Diagnose und Tod fünf Monate gelegen!
Dr. Marquardt stand auf und goss ihr ein Glas Wasser ein.
Wieso glauben eigentlich alle Menschen, selbst Ärzte, dass in einer solchen Situation ein Glas Wasser helfen konnte, dachte Bassler und stieß das Glas unwirsch zur Seite.
Wasser schwappte über und versah den dunklen Schreibtisch mit einem Kranz.
Vorsichtig legte der Arzt seine Hand auf die zitternde Schulter seiner Patientin.
„Eigentlich gehören Sie nicht zu der Gruppe von Menschen, die eine Disposition für diese Erkrankung haben.“
„Was wäre denn typisch als Disposition“, sagte Bassler leise. „Riskante Lebensgewohnheiten wie Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum, Übergewicht und fett- und fleischreiche Ernährung, alles Dinge, die ich bei Ihnen ausschließe.“
Er machte eine kurze Pause und sah seine Patientin nachdenklich an.
„Hat es in Ihrer Familie diese Krankheit schon gegeben?“
„Meine Mutter ist daran gestorben“, kam es kaum hörbar.
Dr. Marquardt nickte einfühlsam.
„Die genetische Disposition ist in der Tat eine erhebliche Komponente. Das Problem dieser Krankheit ist, dass es weder geeignete Früherkennungsmaßnahmen gibt noch rechtzeitige Warnzeichen. Bei anderen Krankheiten gibt es Vorsorgeuntersuchungen. Bei Brustkrebs, Prostata, Darmkrebs, das kennen Sie. Aber bei Pankreaskarzinom“, er machte wieder eine kurze Pause und spielte mit seinem Kugelschreiber, „wenn man wie Sie schon erhebliche Beschwerden hat, ist es schon etwas … spät.“
Bassler atmete tief ein.
„Sie meinen, zu spät?“
Dr. Marquardt ersparte sich die Antwort, die nur Ja hätte lauten können.
Doris Bassler griff jetzt doch nach dem Wasser und leerte das Glas in einem Zug.
„Welche Behandlung gibt es und wie erfolgreich sind sie?“
„Nun, da gibt es durchaus viel Hoffnung …“
„Die Wahrheit, Herr Doktor! Reden Sie nicht um den heißen Brei herum, sondern sagen Sie mir die Wahrheit. Ich will sie hören und ich kann sie vertragen!“
Ihre Hände verkrampften sich.
Marquardt legte den Kugelschreiber weg und kehrte zu seiner Händepyramide zurück, seine Stimme senkte sich.
„Die erste Option ist eine Operation. Dabei werden das Tumorgewebe und die umgebenden Lymphknoten möglichst weitgehend entfernt. Aber …“, er machte eine kurze Pause und es fiel ihm offensichtlich schwer weiter zusprechen, „das geht bei Ihnen nicht.“
„Warum nicht?“
„Der Tumor ist zu groß, und er hat bereits Metastasen in Leber und Lunge gebildet.“
Bassler nickte. Ihr Mund war trocken geworden und neue Tränen trübten ihre Sicht. Sie fuhr hastig mit einem Taschentuch über ihre Augen. Aber jetzt wollte sie alles wissen.
„Gar keine Hoffnung mehr?“
„Doch, doch“, wiegelte der Arzt ab. „Wir werden eine Chemotherapie durchführen und die kann sehr erfolgreich sein.“
Bei seiner Aussage fühlte er sich äußerst unwohl, denn er wusste genau, dass er nicht die Wahrheit sagte. Bei diesem Stand der Krankheit konnte eine Chemotherapie bestenfalls eine kurzzeitige Lebensverlängerung bringen. Nein, er wusste genau, dass die liebenswerte Patientin, die vor ihm saß, unweigerlich einem baldigen Tod geweiht war.
„Ich würde Ihnen gerne die Einzelheiten und Folgen dieser Therapie erläutern und …“
Bassler winkte ab.
„Nicht jetzt, Herr Doktor, ich werde das in aller Ruhe mit meinem Mann besprechen und dann entscheiden, wie es weitergeht. Vielen Dank!“
Sie verabschiedete sich und verließ die Praxis.
Im Treppenhaus brach sie zusammen.
15. Kapitel
Meschenich bei Köln
„Sie mögen in diesem Augenblick ein triumphierendes Machtgefühl empfinden. Aber sie sollen sich nicht täuschen. Der Terrorismus hat auf die Dauer keine Chance. Denn gegen den Terrorismus steht nicht nur der Wille der staatlichen Organe. Gegen den Terrorismus steht der Wille des ganzen Volkes. Dabei müssen wir alle trotz unseres Zorns einen kühlen Kopf behalten.“ (Helmut Schmidt, 1977)
Im Süden von Köln liegt der Ortsteil Meschenich, ein gutes Stück von der Innenstadt entfernt und dem Städtchen Brühl eigentlich näher als Köln. Das ehemals idyllische Dörfchen hat sich stark verändert – und nicht zu seinem Vorteil.
Grund ist der 1973 erbaute Hochhauskomplex aus neun Hochhäusern, die bis zu 26 Etagen haben und mehr als dreizehnhundert Wohneinheiten aufweisen. Hier leben mehr als viertausend Menschen aus über sechzig Nationen. Was als hochwertiges Immobilienprojekt mit Schwimmbad, Saunabereich, Tennisplatz, Fußballplatz, Tiefgarage und Kindergarten im Rahmen eines Bauherrenmodells konzipiert worden war, endete als multikulturelle Bausünde, als Ghetto, als Musterbeispiel für städtebauliche Fehlplanung mit erheblichem Kriminalitätspotential.
Der zunehmende Zuzug finanzschwacher Migranten führte zu eklatanten sozialökonomischen Unterschieden und dazu, dass die ursprünglich vorgesehene Zielgruppe das Gebiet fluchtartig verließ. Dazu kam, dass in der Nähe Prostituierte und ihre Beschützer in erheblicher Zahl ihrem Gewerbe nachgingen mit all den unerfreulichen Begleiterscheinungen, die das Gewerbe mit sich zu bringen pflegt.
Wer dort lebt, kann nicht anders und lebt nach der Devise: Wenn ich nicht haben kann, was mir gefällt, muss mir eben das gefallen, was ich habe!
In einem dieser Hochhäuser, einem ziemlich verwahrlosten Zimmer des 18. Stocks mit zugegeben interessanter Fernsicht bis auf den Dom saßen Samira Darashi und Anne Mundorf, die sich jetzt Aabidah nannte, zusammen und überlegten das weitere Vorgehen.
Samira war einen Kopf kleiner als ihre Freundin, ihre langen schwarzen Haare verbarg sie unter einem gemusterten Kopftuch. Ihre Gesichtszüge waren kaum hübsch zu nennen, eher herb und bestimmend und ihre kleinen Augen weckten kein Vertrauen. Über der Jeans trug sie einen schwarzen Umhang, der bis zum Knöchel reichte.
Das Zimmer wies außer drei Matratzen, einem Tisch mit vier verschlissenen, mit Brokat bezogenen Sesseln und einem Schrank, dem sämtliche Türen fehlten, keine Möbel auf und hatte den Charme einer verlassenen Turnhalle in Aleppo. Auf dem Tisch standen noch die Reste eines kargen Frühstücks.