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„Ich komme. Geben Sie mir zehn Minuten!“
„Der Herr segne Sie“, tönte es leise aus dem Hörer.
Ich sprang aus dem Bett. Einen Augenblick überlegte ich, ob ich meinen einzigen Mitbewohner, den greisen Subsidiar Dr. Meschelbach wecken sollte, aber ich verwarf den Gedanken sofort. Der alte Mann brauchte den Schlaf noch nötiger als ich selbst.
Hastig fuhr ich mir mit einem Waschlappen durch das Gesicht, spülte meinen Mund aus, kämmte mich und zog meinen schwarzen Anzug mit Priesterkragen an, den ich täglich zu tragen pflegte. In Windeseile warf ich meinen Mantel über, griff nach meiner schmalen Stola, steckte sie in die Manteltasche und verließ eilig das Haus.
Meine Züge waren vom abrupt unterbrochenen Schlaf wohl noch geprägt und die tiefgrauen Augen wollten nicht wach werden.
Bis zum Hause von Sendermann war es nicht weit, er wohnte im Pantaleonswall, unweit der Kirche. Hier hatte ich auch meine Kindheit verbracht, keine fünfhundert Meter von der Kirche entfernt. Hier war ich Messdiener gewesen und hatte schon als Kind davon geträumt, Priester zu werden, und am liebsten hier, in der Pfarrkirche St. Pantaleon. Oft war ich während des Spielens an der Kirche vorbeigekommen und hatte einen nachdenklichen Blick auf die schöne Basilika geworfen. Meine Freunde hatten das nicht verstanden und mich gedrängt weiterzuspielen. Aber ich hatte nur gelächelt und war meiner Wege gegangen.
Und während die Freunde draußen herumtollten, hatte ich im nahen Humboldtgymnasium Latein und Griechisch gebüffelt, hatte mich später mit Kirchenvätern auseinandergesetzt, deren Namen meine Freunde nicht einmal gehört hatten. Denen standen Littbarski oder Rummenigge wesentlich näher als Augustinus oder Hieronymus. Zielstrebig war ich meinen Weg gegangen. Das war nicht immer einfach gewesen, aber in meinen Eltern hatte ich große Unterstützung. Dann Studium in Bonn, Universität und Priesterseminar, und nach einem Umweg über zwei Pfarreien in Düsseldorf und Euskirchen war ich an meinem Ziel angelangt, am Ziel meiner Kindheitsträume. St. Pantaleon, der Allerbarmer, jener spätantike, griechische Märtyrer aus dem vierten Jahrhundert … Das alles ging mir durch den Kopf, als ich über den dunklen Vorplatz der Kirche hastete.
Unwillig griff ich nach meinem Schirm, als ich den Regen wahrnahm, der prasselnd auf das Pflaster schlug. Mein Blick richtete sich zum nachtdunklen Himmel, in dem sich Gebirge gleich massive Regenwolken türmten. Viel zu warm und viel zu nass für Oktober, das Wetter schlug schon arge Kapriolen. Mürrisch öffnete ich meinen Regenschirm. Gedanken an ein warmes Bett in meinem gemütlichen Zimmer begleiteten mich, umhüllten mich wie einen warmen Kokon, der im nächsten Augenblick jäh zerstob, als mir der nasskalte Wind ins Gesicht fauchte. Meine Augen fielen auf den Kirchturm, dessen Glocke soeben drei Uhr anzeigte.
St. Pantaleon ist die älteste romanische Kirche Kölns – und eine der schönsten zudem, eine glänzende Perle im sakralen Geschmeide der Stadt. Um ihrer Schönheit auch in der Dunkelheit den nötigen Glanz zu verschaffen, wird sie mit beginnender Dämmerung angestrahlt. Punkt Mitternacht erlischt die Beleuchtung automatisch. Dann versinkt die ehrwürdige Basilika und mit ihr das gesamte Kirchengelände in nachtschwarzer Dunkelheit.
Vor drei Stunden ist die Beleuchtung ausgegangen und das Gelände um die Kirche, das von einer Mauergroßräumig eingefasst, aber durch einen großen Torbogen jederzeit zu betreten war, atmete völlige Verlassenheit. Auf dem Parkplatz vor der Kirche standen einige Fahrzeuge von Anwohnern, die es sich angesichts der großen Parkplatznot längst zur Gewohnheit gemacht haben, nachts ihr Fahrzeug hier abzustellen.
Ich verließ das stockdunkle Kirchengelände. Ich war jetzt völlig allein – kein Passant außer mir, der noch durch das Pantaleonsviertel hastete, ein Innenstadtviertel, das im Krieg großen Zerstörungen ausgesetzt war und jetzt überwiegend durch den begrenzten Charme der Fünfziger- und Sechzigerjahre geprägt wird. Nur wenig der schönen Vorkriegsarchitektur ist erhalten geblieben, eine Erblast des unseligen Krieges. Es regnete in Schnüren und der warme Herbstregen durchnässte mich trotz meines Schirms in kürzester Zeit. Zarter Mondschein verwandelte die Pfützen in kleine, silberne Seen, die in regelmäßigen Abständen die Wege und Straßen säumten und das Licht der wenigen Sterne zu sammeln schienen. Es dauerte kaum fünf Minuten, bis ich vor dem repräsentativen Jugendstilbau stand, einem der wenigen Häuser, das der Krieg verschont hatte.
Wie ich wusste, gehörte das Haus Sendermann, er hatte es von seinen Eltern geerbt und schon als Kind darin gelebt. Der Vater war ein erfolgreicher Bauunternehmer gewesen und hatte sich in der Nachkriegszeit eine goldene Nase verdient. Und nicht nur dieses Haus gehörte ihm. Mindestens fünf weitere im Viertel gehörten dem alten Sonderling, mit dem es jetzt zu Ende ging. Trotz seines Reichtums wohnte der Alte allein, leistete sich nur eine Putzfrau und eine Pflegekraft, die beide abends das Haus verließen. Sendermann musste also jetzt ganz allein sein.
Ich zögerte einen Augenblick, dann stieß ich die Tür auf. Die Tür ließ sich schon seit langem nicht ordnungsgemäß schließen, aber der Eigentümer hatte im Augenblick wohl anderes zu tun, als sich um solche Defekte zu kümmern, auch wenn das angesichts drohender Einbruchsgefahren wichtig gewesen wäre.
Hätte ich nur gewusst, was mir in nächster Zeit bevorstehen würde, ich hätte vielleicht auf dem Absatz kehrtgemacht. Aber so …
2. Kapitel
Köln
Ich betrat ein Treppenhaus, das mit feinem Stuck verziert war, auch wenn der Stuck an manchen Stellen gebrochen war. Treppen aus Marmor, auf denen die Tritte vieler Besucher ihre Spuren hinterlassen hatten, und ein reich dekoriertes Geländer in schwarzem Gusseisen, das einen neuen Anstrich nötig gehabt hätte. Die Treppe führte mich in den ersten Stock, in dem Sendermann wohnte. Die Tür war nur angelehnt.
Ich klopfte, und als sich nichts rührte, betrat ich zögernd die Wohnung. Das Erste, was ich wahrnahm, war ein störender Geruch. Ein Geruch, der aus Einsamkeit, vernachlässigter Pflege, Ausdünstungen eines alten Mannes und verflüchtigten Kochdünsten bestand.
Ein krächzender Laut verriet mir den Weg.
August Sendermann lag in seinem Bett, eine trübe Lampe auf einer Kommode spendete ein karges, warmes Licht. Darüber ein Regal, gefüllt mit Medikamenten aller Art. Auf der Kommode stand ein Glas Wasser und daneben lag ein Zettel mit meinem Namen, meiner Telefonnummer und einem großen Ausrufezeichen.
„Herr Pfarrer, ich … ich danke Ihnen sehr, dass Sie … dass Sie meiner … äh … Einladung gefolgt sind.“
Ein mühseliges Lächeln spielte um die spröden Lippen des Sterbenden, als er mir mit matter Hand zuwinkte.
Sein eingefallenes Gesicht, der ausgezehrte Körper, den man unter dem dünnen Laken wahrnahm, die dünnen, pergamentartigen Hände, das alles atmete Verfall und baldigen Tod.
Die wenigen schlohweißen Haare umgaben den Kopf des Mannes wie einen verwelkten Lorbeerkranz, nur die blauen Augen sprühten noch vor Leben, listig und lebendig zugleich. Filmkenner würden ihn für einen Doppelgänger von Dr. Mabuse halten, den unheilvollen Greis aus dem Horrorfilm.
Ich zog meinen durchnässten Mantel aus und setzte mich auf den prachtvollen Brokatsessel, der neben dem Bett stand. Von meinem Mantel tropfte es beharrlich auf den teuren Teppich, aber das war jetzt ohne Belang.
Behutsam ergriff ich die Hände des alten Mannes.
„Beichten! Ich möchte beichten, Herr Pfarrer“, kam es mühsam aus dem Mund des Mannes, aber seine Augen blitzten, als wolle er ein letztes Mal dem Tod ein Schnippchen schlagen. Ich holte schweigend aus meinem Mantel eine violette Stola, küsste sie und legte sie mir um.
„Ich kenne Sie jetzt seit vielen Jahren, Herr Sendermann. Sie haben aktiv in unserer Gemeinde gearbeitet, haben ihre Anliegen großzügig gefördert. Sie sind mir als guter, gläubiger Christ bekannt. Was also sollte es sein, was …“
Sendermann unterbrach meine wohlgemeinten Ausführungen mit einer unwirschen Geste seiner dürren Finger.
„Das war nicht immer so“, krächzte er. „Ich habe … gestohlen, geraubt und … gemordet! Ich habe Unrecht getan, gesündigt …!“
„Gestohlen? Was haben Sie geraubt, Herr Sendermann? Und gemordet? Das … das kann ich nicht glauben.“ Ich schüttelte ungläubig den Kopf.
Sendermann deutete auf ein Wasserglas und ich reichte es ihm. Mit zittrigen Händen versuchte der Alte zu trinken, aber die Hälfte des Wassers rann aus seinen Mundwinkeln und benetzte den verschlissenen blauen Schlafanzug.
„Im Krieg … im Krieg, Herr Pfarrer, da galten andere Gesetze.“ Mühsam tastete er nach der Schublade seines Nachttisches und öffnete sie. Die Schublade war voller Erinnerungen an Sendermanns Kriegszeit. Fotos, Dokumente, Orden. Obenauf lag ein Foto, das ihn als smarten, jungen Wehrmachtsoffizier im Range eines Hauptmanns zeigte. Die Mütze keck zur Seite verschoben, was ihm etwas Verwegenes verlieh, aber damals wohl keinesfalls korrekt war. Darunter ein strahlendes Lächeln, als ob ihm die Welt gehöre und nur darauf warte, von ihm in Besitz genommen zu werden.
Doch nichts von dem, was da sterbend und mühsam keuchend im Bett lag, erinnerte noch an den strahlenden, jungen Offizier von 1942, wie es die Bildunterschrift angab.
„Wir waren in Polen, meine Einheit … wir lagen …“, ein erneuter Hustenanfall unterbrach ihn, seine Finger umklammerten seine Kehle und die Augen traten aus ihren Höhlen. Behutsam umfasste ich seine Schultern und flößte ihm etwas Wasser ein.
Erschöpft ließ sich Sendermann in sein Kissen fallen. Seine krallenartigen Hände umklammerten meinen Arm.
„Lemberg, wir lagen in Lemberg, das gehörte damals zu Polen.“
Sein Gesicht verzerrte sich.
„Und wir hatten, unter Federführung der SS, den Auftrag, die Stadt judenfrei zu machen, wie es damals hieß. Schöngarth hieß er, ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen.
SS-Oberführer Karl Eberhard Schöngarth war ein fanatischer Mann, völlig beseelt von dem Wunsch, den Führerbefehl möglichst perfekt umzusetzen. Er leitete die ganze Aktion. Und dann war da noch einer von der Gestapo, Engler oder so. Die gaben die Befehle, und wir … wir haben gehorcht, einfach gehorcht, wie es ein Soldat tut, ohne Widerrede. Doch wir haben uns … schuldig gemacht!“
Der Sterbende unterbrach seine Rede und versuchte, mit einem Tuch den Mund abzuputzen, aus dem Speichel floss. „Anhand vorgefertigter Listen mit Namen und Adressen wurde die Suche in der Stadt durchgeführt. Die Namen der Professoren hatten wir ja von den Studenten. Die ukrainischen Nationalisten, unter anderem das ukrainische Bataillon … äh … Nachtigall, ja so hieß es, haben kräftig geholfen. Und wir von der Wehrmacht auch! 3. Bataillon! Aber sie hatten uns immer einen Mann von der SS mitgegeben, damit wir es auch … äh … richtig machten.“
Das todgeweihte Gesicht verzog sich zu einem schmerzlichen Lächeln.
„Anhand von detaillierten Listen durchkämmten wir die Stadt, die unsere Luftwaffe vorher sturmreif gebombt hatte.“
Rasselnder Atem, Stöhnen. Mühsam versuchte der Alte, sich aufzusetzen. Seine Augen verloren sich in weiter Ferne, spürten das Grauen noch einmal, und wie eine schwarze Wand legte sich dieses Grauen auch über mich, den Zuhörer, der betroffen lauschte.
„Eines Tages waren wir in einem Vorort von Lemberg, einer Gegend voller schöner Häuser, meistens Villen, so Jugendstil und so. Reiche Juden wohnten hier, sehr reiche. Anwälte, Ärzte, Apotheker, Richter, Professoren. Wir hatten auf Befehl die Häuser geräumt – von den Bewohnern, meine ich“, er hustete erneut und die Erinnerung an jene furchtbaren Tage ließ ihn spürbar erschauern, „im Juli 1942 war das, etwa vierzig Professoren, Anwälte und Ärzte hatte meine Einsatzgruppe an diesem Tag verhaftet, vielleicht waren es auch mehr, verhaftet und auf Lastwagen abtransportiert. Sie wurden zunächst in einem Viertel interniert.“
Er schwieg einen Augenblick und schloss die Augen. Offensichtlich durchlebte er die Situation noch einmal, seine Hände zuckten unkontrolliert. Ich hörte gebannt zu, das war eine ganz neue Seite an meinem ehemaligen Gemeinderatsmitglied. Ab und zu nippte ich an dem Rotwein, den Sendermann mir angeboten hatte. Jedenfalls war meine Müdigkeit gänzlich verflogen.
„Da stand ich jetzt in der Villa eines jüdischen Rechtsanwalts ganz allein. Meine Mannschaft war mit den Lastwagen weg, niemand mehr da. Ich begann … äh … mich in der Villa umzusehen, nach etwas … äh … Brauchbarem. Vielleicht eine Flasche Cognac oder … Ich war jung und mir keiner Schuld bewusst, und ich war neugierig, wie die so lebten, wissen Sie? Die reichen Juden, wir hatten so viel von ihnen gehört.“ Seine Stimme wurde immer leiser, am Schluss nur noch ein Flüstern, das ich kaum noch verstand. Ich rückte noch näher. „Bücher waren es, Bücher und wertvolle Bilder, wohin man schaute. Die Bücher waren alt, sehr alt, aber in bestem Zustand, als wären sie ständig gepflegt und gelesen worden. Die Ledereinbände mit ihren goldenen Frakturtiteln glänzten, als wären sie gestern noch behandelt worden. Ich nahm mir einige Bücher, setzte mich an den verwaisten Schreibtischstuhl und begann zu blättern. Bücher waren immer meine Leidenschaft, wissen Sie? Sie sind treuer als Menschen!“
Seine zitternden Hände wiesen auf die Wände. Selbst im Halbdunkel war deutlich zu erkennen, dass die Wände des Schlafzimmers mit Bücherregalen bedeckt waren, die vom Boden bis zur Decke reichten.
Sendermann sank erschöpft nach hinten und schloss die Augen. Voller Teilnahme blickte ich den Sterbenden an. Das war mehr als eine Beichte, das war eine abenteuerliche Lebensgeschichte, die vor langer Zeit begann und sehr bald ihr Ende finden würde.
Minuten lang verharrten wir beide schweigend, bis der alte Mann stockend fortfuhr.
3. Kapitel
Babi Jar bei Kiew September 1941
Weiberschlucht!
Niemand wusste, warum diese Schlucht in der unwirtlichen Umgebung von Kiew diesen Namen trug, jedenfalls musste sie schon seit mehr als tausend Jahren so heißen. So erzählen es jedenfalls die Alten. Ein sandiges Kalksandsteingebiet mit dürren Nadelbäumen und karger Vegetation, wenig Grün, viel Grau. Selbst die Vögel schienen diesen trostlosen Ort zu meiden, kein Gezwitscher war zu hören, kein buntes Gefieder saß auf den Zweigen. Das wenige Getier, das hier hauste, huschte lautlos zwischen den grauen Felsen hin und her.
Hierher kamen die Einwohner von Kiew nicht zum Spazieren, obwohl die Schlucht in unmittelbarer Nähe lag und man kaum mehr als vierzig Minuten gebraucht hätte. Der Ort galt schon immer als mystisch und abweisend und Eltern aus der Stadt pflegten mitunter ihren ungezogenen Kindern anzudrohen, dass sie in die Schlucht kämen, was häufig eine spontane Besserung ihres Verhaltens nach sich zog. Aber das eigentliche Grauen stand diesem Landstrich noch bevor und würde für Jahrzehnte andauern, als ewiges Mahnmal erbärmlicher Schuld.
Hauptmann August Sendermann war das, was man gemeinhin einen gut aussehenden Mann nannte. Von hoher, schlanker Gestalt, in der Schulter breiter als in der Hüfte, mit schwarzem Haar, das er an den Seiten kurz trug, nur eine Tolle schlängelte sich in sein ebenmäßiges Gesicht. Arischen Vorstellungen entsprach er freilich nicht, aber er war mit sich zufrieden. Ein markantes Kinn mit hohen Wangenknochen, die die slawische Herkunft seiner Großeltern verrieten, verlieh ihm eine fast geheimnisvolle Aura. Zwar war die Nase etwas zu groß geraten und die großen Ohren waren schon in der Kindheit gerne Zielscheibe des Spotts Gleichaltriger gewesen, aber insgesamt eine stattliche Erscheinung, die in der Wehrmachtsuniform eines Hauptmanns gut zur Geltung kam. Er trug die Schirmmütze gerne etwas schief, was ihm etwas Verwegenes verlieh, aber bei Vorgesetzten nicht immer gut ankam.
Seine blauen Augen schienen immer spöttisch zu gucken, und manche, die sich mit ihm unterhielten, wussten nicht, ob sie gerade veralbert wurden oder nicht. In dieser Ungewissheit ließ Sendermann seine Umwelt gerne.
Hauptmann Sendermann hatte an diesem Septembertag mit seiner Kompanie am jüdischen Lukjanowski-Friedhof in Kiew Stellung bezogen. Sein Auftrag war es, die Juden, die sich an diesem Sammelpunkt einfanden, zusammen mit anderen Einheiten zur Schlucht zu eskortieren, wo sie – so nannte es der Befehl – zur Deportation in den Osten vorbereitet wurden. Aus diesem Grund hatten die Menschen auch alles bei sich, was sie im Leben in den neuen Gebieten brauchen würden, und der Platz quoll über von Koffern und Taschen, auch Pferde und Wagen fanden sich in größerer Zahl ein. Schon seit Tagen hatten Plakate in der Stadt auf die bevorstehende Evakuierung hingewiesen und am frühen Morgen waren die Lautsprecherwagen der deutschen Besatzer noch einmal durch die Stadt gefahren und hatten die jüdische Bevölkerung aufgefordert, sich umgehend an diesem Sammelplatz einzufinden, und die Juden, die vielfach schon unter den Repressionen der Besatzer gelitten hatten, taten es und hofften auf ein neues, besseres Leben. Vielleicht im Osten oder gar in Palästina? Mutmaßungen und Hoffnungen gab es viele und sie machten die Runde, jedenfalls unter den Zuversichtlichen.
Aber Sendermann wusste es besser. Es ging nicht um Evakuation, hier ging es um Vernichtung, das war in der Einsatzbesprechung, die drei Tage zuvor in den Diensträumen von Generalmajor Eberhard stattgefunden hatte, mehr als deutlich geworden.
An dieser Einsatzbesprechung hatten neben Wehrmachtsoffizieren wie Sendermann auch Pionieroffiziere, Angehörige des SD, der Polizei, der Geheimen Feldpolizei und der Einsatzgruppe C, die für die sogenannten „Exekutivmaßnahmen“ gegen die Zivilbevölkerung zuständig war, teilgenommen. Ihnen allen hatte der Generalmajor die Situation erklärt:
„Durch die heimtückischen Aktionen jüdischer Partisanen haben hunderte von deutschen Wehrmachtsangehörigen ihr Leben verloren. Jetzt wird es die gerechte Vergeltung für diese tückischen Anschläge geben. Befehl von ganz oben! Kein Pardon! Schießen müsst ihr! Schießen!“
Sendermann betrachtete die Menge und sein Gesicht verzog sich unwillig. In der Einsatzbesprechung war man von einer Zahl von etwa fünf bis sechstausend Juden ausgegangen, aber es waren deutlich mehr, viel mehr. Sendermann schätzte die Zahl auf zwanzigtausend, eher noch mehr, überwiegend Alte, Frauen und Kinder. Die meisten waffenfähigen Männer waren längst weg, waren in den unendlichen Weiten des Landes verschwunden oder hatten sich den Partisanen oder der Roten Armee angeschlossen.
Ein Grund mehr, diese Leute als Feinde zu betrachten und einer Sonderbehandlung zuzuführen!
Und dann setzte sich dieser Zug gruppenweise in Bewegung, grau und lautlos. An den Seiten stand die Bevölkerung und betrachtete den traurigen Zug schweigend. Hier und da waren Schmährufe zu hören, denn auch vielen Einheimischen waren die Juden verhasst. Anderen aber standen Tränen in den Augen, manche Fäuste wurden in den Taschen geballt. Sendermann und seine Soldaten begleiteten die Menge befehlsgemäß, die Karabiner gezogen, falls es zu Fluchtversuchen kam. Aber das war nicht nötig, die Menschen gingen diszipliniert und meist lautlos den Weg zur Schlucht, wie eine Schar von Lämmern, die zur Schlachtbank geführt wurde. Kein Geschrei, kein Widerstand. Sendermann wunderte sich darüber, wie ergeben diese Menge ihrem Schicksal entgegenging, auch wenn sie das Ende wohl noch nicht kannte. Eine strahlende Sonne begleitete ihren Weg durch die Stadt und sandte letzte Sommerwärme. Auf der anderen Straßenseite erkannte Sendermann Truppen der ukrainischen Miliz, die Bukowiner Kurin, eine Militäreinheit der Organisation ukrainischer Nationalisten, grausam und brutal, oftmals mehr noch als die deutschen Besatzer.
Sie leisteten den deutschen Besatzern allzu gerne Hilfsdienste und bedachten den Zug der Juden mit üblen Schmähworten.
Plötzlich gab es Unruhe, Geschrei, ein roter Farbklecks in der grauen Menge. Ein kleines Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, hatte sich von der Hand der Mutter losgerissen. Die Mutter trug ein leuchtend rotes Kleid, auf das sie kunstfertig gelbe Sonnenblumen gestickt hatte. Die Kleine trug das gleiche Kleid, ergänzt um ein rotes Kopftuch, unter dem die langen, blonden Zöpfe hervorquollen. In der schmalen Hand trug sie ein kleines Bastkörbchen. Rotkäppchen auf dem Weg zur Großmutter.
Das Mädchen lief winkend auf einen alten Mann zu, der am Straßenrand stand. Vielleicht der Großvater, ein Nachbar? Die aufgeregte Mutter schrie und lief hinter ihr her. Ein Soldat, der die Szene beobachtet hatte und einige Meter entfernt stand, nahm Blickkontakt mit Sendermann auf. Der nickte nur und der Soldat gab zwei gezielte Schüsse ab. Mutter und Tochter stürzten, der Soldat war ein zielsicherer Schütze. Die Mutter lag tot auf dem grauen Asphalt, Rotkäppchen daneben. Ein Tod, so grauenvoll wie sinnlos. Und die Welt drehte sich unbeirrt weiter.
Die Kolonne setzte ihren Weg fort, als wäre nichts geschehen. Sendermann wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging weiter. Das Geschehen hatte ihn nachdenklich gemacht. Sein Kopfnicken hatte einen Tod gebracht und das machte ihm zu schaffen. Es war Krieg, aber so etwas …
Nach weniger als einer Stunde hatte der unglückselige Zug die Schlucht erreicht. Das Gebiet war großräumig mit Stacheldraht und Sandsäcken abgesperrt. Soldaten mit Schäferhunden machten die Runde.
Über der Schlucht flogen Flugzeuge, aus Lautsprechern dröhnte Opernmusik, laut und bizarr, wohl damit man die folgenden Schreie nicht hörte. Verdi begleitete das blutige Geschehen mit seinen wunderbaren Tönen. Doch plötzlich befiel Angst die Menge, es wurde laut. Die Menschen mussten ihr Hab und Gut auf die Seite legen und ihre Kleidung ausziehen. Spätesten da war allen klar, dass es hier nicht um eine Umsiedlung ging.
Sie wurden an den Rand der Schlucht geführt und die MG-Schützen begannen ihr tödliches Werk. Die Juden mussten sich mit dem Gesicht zur Erde an die Muldenwände legen. In der Mulde befanden sich drei Gruppen mit Schützen, mit insgesamt etwa zwölf Schützen. Immer wieder unterbrachen Gewehrsalven die herzzerreißenden Schreie und das immer lauter werdende Wehklagen. Gleichzeitig wurden diesen Erschießungstrupps von oben her weitere Juden zugeführt. Die nachfolgenden Juden mussten sich auf die Leichen der zuvor erschossenen legen. Die Schützen standen jeweils hinter den Juden und töteten diese mit Genickschüssen. Welches Entsetzen musste die Juden überkommen, die oben am Grubenrand zum ersten Mal auf die Leichen in der Grube hinunterblicken konnten!
Sendermann und seine Männer verfolgten das Geschehen ungerührt. Hier bekamen Menschen ihre verdiente Strafe für ihre Verbrechen! Das war ihm durch den Vortrag des Generalmajors klargeworden.
Am späten Nachmittag zog er mit seiner Kompanie ab. In seinen Ohren gellte noch der Lärm der Sprengungen, mit denen eine Pioniereinheit anschließend die Ränder der Schlucht zerstörte, bevor das Massengrab planiert wurde. Dieser Lärm, gepaart mit der Opernmusik, sollte seine Ohren noch lange begleiten.
4. Kapitel
Langley, Virginia
Über Teilen von Virginia tobte ein Gewitter, das die Fußgänger ebenso von den Straßen fegte wie die braunen Blätter, die den Bürgersteig glitschig machten. Der Ostwind brachte dazu eiskalte Böen, die Schirme aus den Händen rissen, Hüte vom Kopf und Kinder von den Händen ihrer Mütter. Wie es sich gehörte, hatten sich lange Staus hupender Autos auf den Ausfallstraßen von Washington D. C. gebildet, die auch Langley nicht ausließen.
Von alledem bekamen die Männer nichts mit, die sich in dem nüchternen Besprechungsraum U031 tief unter der Erde rund um den länglichen Resopaltisch zusammengefunden hatten. Einem Raum, abhörsicher, zweckmäßig und steril, der im Ostflügel des riesigen Gebäudes untergebracht war, das den legendären amerikanischen Auslandsnachrichtendienst beheimatete, besser bekannt als CIA.