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Von den vier Herren, die an diesem Tisch saßen, sahen drei sehr ähnlich aus. Dunkle Anzüge von der Stange, altmodische Krawatten, ernste Gesichter.
Der vierte stach deutlich hervor, dunkelblauer Roy-Robson-Anzug mit Nadelstreifen, eine hellgraue Krawatte von Armani, dazu ein Transocean Chronograph von Breitling, der schwarze Füller von Montblanc, alles Attribute eines fast schon dekadenten Luxus, als wolle er sich von seinen Untergebenen abheben und zeigen, was er sich in seiner gehobenen Stellung leisten konnte: Philipp McAllister, der Direktor des SAD, jener geheimen Abteilung der CIA, die verdeckte Operationen in aller Welt ausführte und im Bedarfsfall über paramilitärische Einheiten verfügte, was der Öffentlichkeit und sogar dem Kongress weitgehend unbekannt war. McAllister entsprach ziemlich genau dem Bild, was man sich von einem Mann seiner Position machte. Er war achtundfünfzig Jahre alt, etwa 180 Zentimeter groß, von schlanker, fast hagerer Gestalt, und er trug die eisgrauen Haare so kurz, wie er sie getragen hatte, als er noch Offizier bei den Marines war. Anders als die meisten seiner Abteilung war er nicht von einer Hochschule gekommen, sondern hatte sich in Einsätzen im Irak und Afghanistan bewährt, bevor er die Laufbahn gewechselt hatte. Über eine führende Position im Heimatschutzministerium war er bei der CIA gelandet. Aber Direktor des SAD war nicht die Position, die er für sich am Ende sah. Da musste schon noch was kommen …
Seine militärischen Einsätze hatten ihm sogar die Navy Expeditionary Medal eingebracht, die er zu besonderen Anlässen zu tragen pflegte, allerdings nicht heute. Ein Mann von besonderen Fähigkeiten, aber nicht frei von der Sünde der Eitelkeit.
Er nahm jetzt seine silberne Bvlgari-Brille ab, von der nur wenige Eingeweihte wussten, dass er sie gar nicht tragen musste, weil die Gläser lediglich Fensterglas enthielten, und warf einen scharfen Blick auf die anderen Männer.
Vor den Männern lagen Dokumentenmappen mit dem Aufdruck
„Operation Marschbefehl“/GEHEIM
„Unser Freund macht sich Sorgen“, begann er. „Muss er sich Sorgen machen?“
Tim Bernardini, sein Nebenmann, räusperte sich. Er war halb so alt, aber doppelt so ehrgeizig wie sein Vorgesetzter. Ein untersetzter Mitdreißiger mit leichtem Bauchansatz, einer spitz gebogenen Nase und einer Schildplattbrille.
„Ich denke, Sir, wir werden das Problem bald gelöst haben.“ „Etwas genauer vielleicht, Agent Bernardini?“
„Nun“, fuhr Bernardini fort, „wir wissen, wo die Listen sind, nur nicht genau, wer sie im Augenblick hat. Aber das ist nur eine Frage von wenigen Tagen, wir brauchen noch etwas Zeit.“
„Hmm. Wer ist vor Ort?“
McAllisters Frage kam wie geschossen und seine stahlblauen Augen blitzten angriffslustig.
Bernardini blätterte in seinen Papieren.
„Agent Wills, von der Sektion Europa West, einer unserer Besten. Spricht fließend Deutsch und ist mit den dortigen Sitten bestens vertraut.“
„Er hat sich bei ähnlichen Einsätzen bestens bewährt“, warf der jüngste Gesprächsteilnehmer ein. Agent Herbert Collins war erst seit zwei Jahren bei der Agency, ein schlanker, aber kräftiger, gut aussehender Mann mit vollem, schwarzem Haar, energischem Kinn und ausdrucksvollen Gesichtszügen. Bernardini nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse und fuhr fort: „Außerdem Agentin Meywether, ebenfalls Sektion West.“
„Die schwarze Cathy?“
McAllister schmunzelte, der Anblick der hübschen Agentin fuhr ihm durch den Sinn, ein angenehmer Anblick.
„Ja, äh.“
„Zuverlässige Leute?“
„Ja, sie …“, aber Bernardini wurde unterbrochen.
„Unbedingt! Jung, motiviert und bestens ausgebildet“, fuhr Collins dazwischen, was ihm einen bösen Seitenblick von Bernardini eintrug. Hier will sich jemand wichtigmachen!
„Und sie wissen natürlich, dass sie die Hilfe der örtlichen Polizeibehörden nicht in Anspruch nehmen können, oder?“ „Selbstverständlich, Sir“, warf der Vierte der Runde ein, der einzige Farbige in diesem Kreis.
Horacio Sanders war der Älteste der Männer, im Dienst ergraut, von schlanker, hoher Gestalt. Seine hohe Stirn und seine goldene Nickelbrille verliehen ihm etwas Professorales und sein scharfer Intellekt bestätigte den äußeren Eindruck nachdrücklich. Er war kein Agent, sondern Analyst und genoss in der Firma wegen seiner meist zutreffenden Einschätzungen höchstes Ansehen.
„Sie haben beide entsprechende Ausweise und inoffizielle Anlaufstellen, an die sie sich im Bedarfsfall wenden, außerdem die erforderlichen Back-ups. Leadagent ist Tom Brendan in London.“
„Gut“, der Direktor raffte seine Papiere zusammen, sein Gesicht entspannte sich.
„Ich möchte ab jetzt täglich über den Fortgang unterrichtet werden. Ich bekomme jede Menge Druck von oben, der Außenminister und selbst der Präsident lassen sich berichten! Also meine Herren: täglich 14.00 Uhr Berichterstattung!“ Damit war die mysteriöse Runde aufgelöst.
5. Kapitel
Lemberg, Ukraine Juli 1942
In der Ferne waren Schüsse zu hören, vereinzelt nur, dann kehrte eine unheimliche Ruhe ein, die nur gelegentlich durch Kolonnen von LKWs unterbrochen wurde, die durch die einsamen Straßen der Stadt fuhren und ihre Ladung suchten. Heiß brannte die Sonne vom Himmel und verwandelte die staubtrockenen Häuserschluchten in versengte Täler aus Stein.
Hauptmann August Sendermann nahm seine Mütze ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das Massaker von Babi Jar war jetzt fast ein Jahr her und bei den meisten Männern aus dem Gedächtnis verschwunden. Nicht so bei August Sendermann, dem Geschrei, Gewehrsalven und Opernmusik gelegentlich immer noch in den Ohren dröhnten. Oft war er auch nachts davon aufgewacht, fahrig und schweißgebadet. Aber der Krieg ging weiter und andere Ereignisse hatten die Erinnerung zunehmend verdrängt.
Er war inzwischen mit dem ganzen Bataillon nach Lemberg versetzt worden und jetzt galt es, neue Aufträge zu erfüllen. In hohem Bogen warf er seine Zigarette durch die Luft und betrachtete mit verkniffen Lippen die Gestalten, die um ihn herumstanden. Ein buntes Volk hatte sich da zusammengefunden: etwa fünfzig Angehörige des Bataillons Nachtigall, nationalistische Ukrainer in schlecht sitzenden, abgelegten deutschen Uniformen. Sie rauchten schweigend ihre stinkenden Machorka-Zigaretten und hatten sich auf den Boden gesetzt, saßen auf Mauern oder kauerten in den nahen Hauseingängen, um etwas Schatten und Schutz vor den Mücken zu suchen, die sie reichlich heimsuchten.
Die fanatischen Gesichter schienen ständig die Gegend abzusuchen, als gälte es, Beute zu machen. Das war ihre Zeit und sie wussten das. Dazu ein Zug von dreißig Wehrmachtssoldaten in ihren verschlissenen Sommeruniformen, mit müden grauen Gesichtern, in denen sich Teilnahmslosigkeit spiegelte und das Grauen vergangener Erlebnisse. Etwas abseits standen zwei Offiziere der SS in ihren feldgrauen Uniformen, ein Sturmbannführer namens Kaufmann aus Leipzig und ein Untersturmführer aus Hamburg, der den klingenden Namen Schiller führte und doch mit dem philanthropischen Dichter nichts gemein hatte. Aus verschiedenen Truppengattungen mit ganz verschiedenen Geschichten, die meisten einte nur das, was ihnen Verblendung und Propaganda über Jahre eingetrichtert hatten: Hass auf die Juden, Verachtung für eine ganze Gruppe minderwertiger Volksschädlinge – und damit das Gefühl, hier für ihr Vaterland das Richtige zu tun.
SS-Sturmbannführer Walter Kaufmann spuckte aus und blickte mit kaum verhohlener Abneigung auf die Männer. Diese Hilfsbataillone, die man ihm zugeteilt hatte, ekelten ihn an. Er war groß, von kräftiger Figur, hatte volles, kurz geschnittenes blondes Haar, ein scharf geschnittenes Gesicht mit einem Grübchen am Kinn und eine lange Narbe an der rechten Wange, die offenbar aus der Zeit stammte, als er Mitglied in seiner schlagenden Verbindung Concordia gewesen war. Im Gegensatz zu Sendermann sah er aus wie einer dieser Vorzeige-Arier von den NS-Plakaten, die sich an die Bevölkerung richteten: Führer befiehl – wir folgen!
„Antreten!“, schnarrte seine befehlsgewohnte Stimme. Sofort kam Bewegung in die müde Truppe.
„Genug ausgeruht! Wir fahren mit der Razzia fort. Diese beiden Straßen müssen heute noch“, seine kräftigen Arme vollführten eine kreisrunde Bewegung, „kontrolliert werden. Schafft das Pack auf die Wagen und ab damit. Mitgenommen wird nur das Nötigste. Kein Pardon, bei Gegenwehr wird geschossen!“
Er deutete mit einem Grinsen auf sein Sturmgewehr 44, das lässig an seiner Schulter hing. Gleichzeitig übersetzte einer der Ukrainer die Befehle mit leiser Stimme für seine Landsleute.
Die Stimme des SS-Offiziers hob sich zu einem schrillen Diskant.
„Und Männer: Plünderungen finden nicht statt! Und von den Frauen lasst ihr eure verdammten Finger! Noch Fragen?“
„Was geschieht … äh … mit den Menschen?“, wollte ein Obergefreiter wissen.
Kaufmanns Stirn umwölkte sich, einen Augenblick sah es aus, als wolle er die Kontrolle verlieren, aber dann verzog sich sein Gesicht zu einem wölfischen Grinsen.
„Sie erhalten hier in ihrer Stadt ein … äh … eigenes Viertel, in dem sie interniert werden. Da ist das minderwertige Judengesindel unter sich und kann keinen Schaden mehr anrichten. Das ist für alle das … Beste. Also, los jetzt!“
Bei dem Begriff minderwertiges Judengesindel zuckte der Obergefreite zusammen, aber er schwieg.
Hautmann Sendermann stand im Rang unter der Stufe eines Sturmbannführers, der bei der Wehrmacht dem Range eines Majors entsprach, aber auch ohne diesen Rangunterschied war es klar, wer bei dieser Aktion das Sagen hatte. Das war kein Kriegseinsatz, die regulären Truppen der Wehrmacht waren längst weiter Richtung Osten gezogen, das hier war eine Hilfestellung der Wehrmacht bei Säuberungsaktionen von SS und SD und „… da haben wir den Kameraden von der SS Hilfe zu leisten“, hatte es der Bataillonskommandeur ausgedrückt, „also Sendermann, stellen Sie keine Fragen und betrachten Sie es als … Urlaub von der Front.“
Eine unangenehme Stimme riss ihn zurück in die Gegenwart. „Sie, Hauptmann Sendermann, übernehmen mit Ihren Männern diese Straße, wir übernehmen mit den Ukrainern die Straße oben links – und abrücken!“
SS-Sturmbannführer Kaufmann ließ keinen Zweifel daran, dass dies keine Bitte, sondern ein Befehl war. Er wollte sich schon abwenden, als er spöttisch auf Sendermanns Mütze zeigte.
„Und rücken Sie Ihre Mütze gerade, wir sind hier nicht in einem UFA-Film mit Hans Albers.“
Arschloch, dachte Sendermann und kam dem Befehl wortlos nach.
Minuten später waren die Ukrainer mit den beiden SS-Männern abgerückt. Sendermann rückte seine Mütze wieder zurecht. Hans Albers!
Der Soldat, der eben nachgefragt hatte, näherte sich dem Hauptmann.
„Tschuldigung, Herr Hauptmann. Glauben Sie, … äh … ich meine, ist das wohl richtig, wat wir hier tun?“
„Wie meinen Sie das, Obergefreiter?“
Der Angesprochene schien allen Mut zusammenzunehmen. „Sehen Se, wie wir hier in der Ukraine eingerückt sind, da … da wurden wir als Befreier von den Sowjets gefeiert, von den Ukrainern, mein‘ ich. Se habn uns zugejubelt und die Mädels haben getanzt und gewunken und uns sogar Blumen gestreut, und dann, dann habn wir ihnen de Häuser übern Kopf angezündet, das Vieh mitgenommen und die Getreidefelder abgebrannt. Das kann …“
Sendermann schaute sich den Mann näher an. Lichtes, dunkelblondes Haar, eine kräftige, leicht untersetzte Figur, offene, ehrliche Augen, Mitte dreißig Jahre alt.
„Worauf wollen Sie hinaus, Obergefreiter Nöller? Wollen Sie mit mir über Befehle diskutieren oder sie gar verweigern?“
„Ne, nich, Herr Hauptmann, bin ja man bloß ein einfacher Gendarm ausem Westerwald.“
„Dann gehen Sie an Ihre Arbeit, Obergefreiter! Nehmen Sie sich drei Mann und durchkämmen Sie das Haus 14. Die anderen verteilen sich je zu viert auf die anderen Häuser. Alles, was sich in den Häusern befindet, kommt auf die Wagen.“
Er deutete auf die Kolonne von LKWs, deren Fahrer gelangweilt vor ihren Wagen standen.
Der Obergefreite Nöller biss sich auf die Lippen. Ein einfacher Gendarm aus Elgendorf im Westerwald, der aber tief in seinem Inneren spürte, dass er dabei half, fürchterliches Unrecht zu begehen.
„Und wir wern alle dafür bezahlen“, murmelte er, während er seinen Karabiner schulterte und zögernd Haus Nr. 14 betrat. Und sein Zahltag sollte sehr bald kommen.
6. Kapitel
Köln
Sendermann hatte etwa zehn Minuten geschlafen, unruhig wälzte er sich hin und her, bis er seine Augen wieder öffnete. Mir schien es, dass seine Augen ihren alten Glanz verloren und vom nahenden Tod schon getrübt wurden.
„Ich … ich habe nicht mehr viel Zeit“, flüsterte Sendermann mit erlöschender Stimme.
„Gevatter Tod ist schon hier, sehen Sie, er schleicht schon ums Haus, er steht schon am Bett!“
Seine krallenartigen Hände zeigten in ein unbestimmtes Dunkel.
„Hören Sie, Herr Pfarrer, ich habe damals Schlimmes getan, und mein Herrgott, vor dem ich bald stehe, wird mir in seiner unendlichen Barmherzigkeit verzeihen oder auch nicht.“
Er schluckte und schloss die Augen.
„Weiberschlucht, so hieß es wohl!“
Ich blickte ihn fragend an.
„Bei Kiew war es, wo wir tausende von unschuldigen Juden ermordet haben. Ich habe den Zug nur begleitet, niemanden getötet. Aber ich werde die Geräusche nie vergessen. Die Schreie, die bellenden Hunde – und die Opernmusik, die den Lärm des Todes übertönen sollte.
Mein Gott, zu welcher Barbarei ist der Mensch fähig!“
Er machte eine kurze Pause, um sich wieder zu sammeln.
„Und einmal … einmal ließ der Bataillonskommandeur einen Zug zusammenstellen, um Exekutionen vorzunehmen.“
Seine Stimme geriet ins Stocken und er lehnte sich zurück. Mein Gesicht muss wohl einer erstarrten Maske geglichen haben, so entsetzt war ich.
Dann fuhr der Sterbende mit stockender Stimme fort.
„Juden, Männer, Frauen, Kinder, sie starben unter unseren Kugeln. Ich habe nicht geschossen, habe nur dabeigestanden, daneben der Mann von der Gestapo und der von der SS. Alle haben mitgemacht – bis auf einen aus meiner Kompanie, der sich geweigert hat. Aber das hat ihm auch nichts genutzt, die Partisanen haben ihn wohl geschnappt. Über den werd‘ ich Ihnen noch erzählen.“
Eine kurze Pause, mühsam und schmerzvoll. Dann fuhr er fort: „Wir Offiziere haben nur zugesehen, bis auf den Sturmbannführer. Der hat ihnen den Rest gegeben. Ich … ich hätte nachher kotzen können.“
Wieder eine Pause des Schweigens.
„Das alles bereue ich zu…zutiefst, aber ich kann es nicht mehr ändern. Damals … damals habe ich das Unrecht nicht gesehen. So viele haben es nicht gesehen und sind einem scheinbar gottgleichen Führer blind gefolgt. Wir waren jung und voller Begeisterung und das haben die Kerle ausgenutzt. Da waren die Blitzkriege, Blitzsiege, alles war so wunderbar nach der Schmach der Niederlage im Ersten Krieg. Wir sind in den Untergang marschiert und haben es doch nicht gesehen. Wir dachten, es sei der Himmel, aber es war die Hölle.“ Er schluckte und machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: „Aber eins, eins lastet noch besonders auf meiner Seele, weil man es wiedergutmachen könnte. In Ihren Augen sicher eher eine … eine Kleinigkeit, aber für mich … ich habe ein Buch damals mitgenommen. Nur eins, aber nicht irgendeins, ein besonderes, Sie … Sie werden schon sehen. Aber ich finde keine Ruhe, bis das Buch seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben wird.“
Er zwang sich zu einem behutsamen Lächeln.
„Oder wahrscheinlich eher seinem Nachkommen“, ergänzte er flüsternd.
„Vielleicht kann ich damit ein bisschen von meiner Schuld tilgen.“
Seine zitternde Hand wies auf einen Tisch in der Ecke.
„Dort, Herr Pfarrer, dort finden Sie zwei Päckchen. In dem einen ist das Buch, das ich Sie bei meinem Seelenheil an den rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben bitte. Der Name des Besitzers und alles, was Sie wissen müssen, stehen drin.“
Seine Stimme brach ab und seine Gedanken wanderten zurück, zurück zu einem alten Juden in einem Verschlag, dem er das Buch vor vielen Jahren gezeigt hatte.
„Vielleicht gelangt das Buch ja doch zu seinem Besitzer zurück. Bücher sind manchmal wie Hunde. Sie finden ihren Herrn!“
Hatte das nicht der alte jüdische Antiquar gesagt? Mein Gott, wie lange war das schon her!
Sendermann versuchte sich wieder zu konzentrieren und wandte seinen Blick wieder dem Geistlichen zu.
„Und ein kleiner Brief“, fuhr er fort und hustete erbärmlich, „den Sie bei Gelegenheit lesen sollten. Aber vergessen Sie ihn nicht! Sie werden dann schon wissen, was zu tun ist.“
Seine Stimme wurde immer leiser und Diefenstein musste sich weit nach vorne lehnen, um den Sterbenden zu verstehen. Der saure Geruch des Todes stieg in seine Nase, aber er harrte aus.
„In dem anderen Päckchen ist Geld, eine … äh“, er hustete erneut und blutiger Schleim trat aus seinem verzerrten Munde, „eine anständige Summe.“
Ich wischte seinen Mund mit einem Taschentuch ab und blickte ihn fragend an.
„Für Ihre Auslagen, Herr … Herr Pfarrer. Und was Sie nicht brauchen, ist für die Gemeinde, die braucht immer Geld, nicht wahr?“
Ich nickte nur verblüfft. Eine Weile herrschte Schweigen, die Finger schlossen sich verkrampft um die Bettdecke. Dann flüsterte der Sterbende: „Monsignore, wie wird es drüben sein, im … Himmel? Sie müssen das doch wissen.“
Ich lächelte krampfhaft, wissend und doch nicht wissend, allenfalls ahnend.
„Das weiß ich nicht und niemand weiß es. Ich kann Ihnen nur sagen, was ich tief und fest glaube.“
Sendermann nickte nur, seine verzerrte Miene verriet Spannung.
„Das Schönste kommt erst noch!“
Einen Augenblick lang leuchteten die brechenden Augen auf. Dann flüsterte die Stimme: „Ich … ich werde es bald sehen. Es war ja auch nicht alles schlecht, was ich getan habe. Vielleicht wird der Herr mir das ja anrechnen? Einmal hab' ich eine Jüdin vor den gierigen Händen von Soldaten gerettet. Und ich hab' sogar einem Kameraden das Leben gerettet, in einem Kriegsgefangenenlager, auch wenn er es kaum wert war. Aber ein Mensch ist doch ein Mensch, oder?“
Er wartete die Antwort gar nicht ab.
„Aber mein Gott, wie lang ist das her! Das ist wie in einem anderen Leben! Und nach dem Krieg, nach dem Krieg hab' ich versucht, wie ein guter Christ zu leben. Ich hab es doch versucht?“
Ich nickte, mein Hals war wie zugeschnürt.
Sendermanns Blick verlor sich für einen Augenblick in weiter Ferne. Dann kehrte sein Geist zurück und der Sterbende fixierte mich wieder.
„Und jetzt, jetzt erteilen Sie mir bitte die Absolution, denn ich bereue, was ich getan habe. Das und alles andere, was Sie nicht wissen. Aber jetzt ist keine Zeit mehr …“
Er richtete sich auf und ergriff den Kragen des Geistlichen. „Jetzt, bitte!“
Ich legte ihn sanft zurück auf das Kissen.
„Ego te absolvo a peccatis tuis in nomine patris et filii et spiritus sancti.“
Dazu schlug ich das Kreuz über dem Sterbenden und zeichnete mit meinem Daumen ein Kreuz über der Stirn.
Sendermann schien sehr erleichtert und ließ sich mit einem Seufzen zurückfallen.
„Gehen Sie jetzt, Herr Pfarrer, ich habe meinen Frieden. Aber vergessen Sie die beiden Päckchen nicht. Und auch nicht das, was Sie mir versprochen haben.“
Ich erinnerte mich nicht daran, etwas versprochen zu haben, aber im Inneren gelobte ich, alles zu tun, was der Sterbende mir in seiner letzten Stunde abverlangt hatte.
„Aber ich kann Sie doch jetzt nicht allein lassen. Ich muss doch …“
„Sie müssen gar nichts, Sie haben alles für mich getan, was ich noch brauchte. Morgen kommt meine Pflegerin und wird …“ Er brach ab und bäumte sich in einem vernichtenden, rasselnden Husten auf. Gleichzeitig winkte er entschieden mit der Hand und wies unmissverständlich zur Tür.
Ich nickte nur und drückte seine Hand. Dann zog ich meinen Mantel an, ergriff die beiden Päckchen auf dem Tisch und warf dem Sterbenden einen letzten Blick zu. Still verließ ich die Wohnung, die Päckchen trug ich unter dem Arm und die Kirchturmuhr schlug vier.
Eine Gestalt im übernächsten Hauseingang muss mich sorgfältig beobachtet haben, ohne dass ich es bemerkte, und auch Gevatter Tod wartete nicht mehr lang.
7. Kapitel
Köln
Die restlichen Stunden der Nacht verbrachte ich zwischen wirren Träumen und alptraumhaften Überfällen. Ich hatte gleichwohl der Versuchung widerstanden und die beiden Päckchen nicht geöffnet. Am frühen Morgen rief ich noch vor der Morgenmesse bei Sendermann an.
Eine Stimme mit slawischem Akzent meldete sich.
„Bei Sendermann.“
„Hier Pfarrer Diefenstein von St. Pantaleon. Kann ich … äh … Herrn Sendermann sprechen.“
„Ich fürchte, nein, Herr Pfarrer“, entgegnete die Stimme relativ mitleidslos, „Herr Sendermann ist heute Nacht seinem schweren Leiden erlegen.“
Ich schluckte, aber damit hatte ich gerechnet. Möge er in Frieden ruhen.
Ich bedankte mich und legte auf. Einige Minuten dachte ich nach, dann griff ich erneut zum Hörer.
Eine halbe Stunde später saß mein bester Freund Markus Bassler an meinem Küchentisch und labte sich an einem Brötchen mit Leberwurst.
„Super Idee mit dem klerikalen Frühstück“, murmelte er und goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein. Markus Bassler war von fast gleichem Alter wie ich, die noch in reichem Maße vorhandenen blonden Haare und die kräftigere Figur ließen ihn aber jünger und dynamischer erscheinen. Wie ich war er Geistlicher, aber bei der evangelischen Konkurrenz.
„Für einen linientreuen Papisten ist der Kaffee gar nicht schlecht. Jedenfalls ist er so schwarz wie die Soutane, die du so gerne trägst und in der du wie ein vatikanischer Pförtner aussiehst.“
Ich verzog mein Gesicht und biss herzhaft in ein Croissant.
„Ich bezweifle, dass ein dröger Lutheraner, der allen weltlichen Freuden abgeschworen hat, so etwas beurteilen kann. Im Übrigen dachte ich, du trinkst nur Luther-Tee Oli Kimuli Kyange aus Wittenberg.“
Bassler prustete los. „Was ist das denn?“
„Gibt es“, gab ich lachend zurück, „hab ich bei YouTube gesehen.“
„YouTube? So was guckst du? Darfst du das denn? Ich meine, was sagt denn Rom dazu? Ist das nicht ein reichlich häretisches Programm, so mit nackten Frauen und so was?“
Ich war versucht, meinem Freund ein Brötchen an den Kopf zu werfen, unterließ es aber und köpfte stattdessen kraftvoll ein Ei.
Die Frotzelei zwischen uns hatte Tradition, denn obwohl wir einst Klassenkameraden des gleichen Gymnasiums und einige Zeit sogar Studienkollegen gewesen waren, wurde ich katholischer Pfarrer, mein Freund evangelischer Pastor, und das in der gleichen Stadt und keine fünfhundert Meter voneinander entfernt. Trotz der konfessionellen Unterschiede – oder vielleicht auch gerade deswegen – schätzten wir uns schon seit unserer Schulzeit gegenseitig sehr. Mehr noch: Wir pflegten auch im Alter eine intensive Freundschaft, auf die keiner von uns verzichten wollte. Und diese herzliche Freundschaft hat uns schon so manches Abenteuer erleben und überleben lassen.
Bassler gähnte und streckte sich.
„Wollen wir jetzt die geheimnisvollen Päckchen des Verstorbenen öffnen?“
Ich hatte ihm alles von der letzten Nacht berichtet und wir waren beide auf die Fortsetzung der Geschichte gespannt. Ich putzte mir gemächlich den Mund ab.
„Welches zuerst? Das dickere oder das dünnere?“
Bassler schmunzelte. „Das dickere. Da dürfte das Buch drin sein.“