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Beide Päckchen waren mehrschichtig in Zeitungspapier verpackt und gaben zunächst nichts von ihrem Inhalt preis.
Zögernd griff ich nach dem dickeren Päckchen und entfernte das Zeitungspapier. Darunter kam eine weitere Verpackung aus braunem Papier zum Vorschein. Vorsichtig riss ich auch das braune Papier auf. Dicke Geldbündel fielen heraus, was wir beide mit offenem Mund quittierten.
„Das sind … das sind ja Tausende“, gab Bassler schockiert von sich.
Ich begann, die Geldbündel zusammenzulegen. Es handelte sich ausschließlich um 500-Euro-Scheine, alle nagelneu und ungebraucht, jeweils zu fünfzig Scheinen zusammengepackt. Unsere Augen fuhren über die Geldpäckchen.
„Das sind zehn Päckchen à je 25.000 Euro – das ist … eine Viertelmillion“, flüsterte Bassler. „Ist … äh … war der Verstorbene so reich?“
„Viel reicher, wie ich vermute“, sagte ich mit leiser Stimme. „Ihm gehören hier mehrere Häuser. Soweit ich weiß, hat er in den 60er Jahren sehr erfolgreich an der Börse spekuliert. Das Haus, in dem er wohnt, hat er von seinen Eltern geerbt, dort hat er auch seine Kindheit verbracht. Weitere Häuser hat er von seiner Frau geerbt, die vor acht Jahren gestorben ist. Er hat wohl damals, wie man sagt, reich geheiratet.
Aber was, was machen wir jetzt mit dem Geld?“
Ich machte einen ratlosen Eindruck.
„Du solltest es so verwenden, wie der Verstorbene es gewollt hat. Finde den rechtmäßigen Eigentümer des Buches und den Rest spendest du der Gemeindekasse. Soweit ich weiß, seid ihr ziemlich klamm. Hattest du nicht mal von einem Loch von 30.000 Euro im Haushalt gesprochen?“
„Ja, richtig.“ Ich nickte. „Aber das ist viel zu viel. Außerdem, was werden die Erben sagen?“
„Gibt es denn Erben?“
„Weiß ich nicht. Kinder oder andere Verwandte hatte er nach meinem Wissen nicht, jedenfalls nicht in Köln.“
Bassler schmunzelte, seine Finger tippten auf die Geldscheine.
„Siehst du, dann erbt wahrscheinlich der Staat. Und ob der nun erbt oder die Kirche, das bleibt sich gleich. Ist so wahrscheinlich sogar viel besser, wenn man an die Berichte des Bundesrechnungshofs denkt.“
Er grinste vielsagend.
„Aber jetzt sollten wir einmal einen Blick auf das ominöse Buch werfen, oder?“
Er griff nach dem kleineren Päckchen und drückte es mir in die Hand. Entschlossen riss ich das Papier auf. Zum Vorschein kamen ein kleiner Brief und ein schmales Büchlein, in abgeschabtem Schweinsleder gebunden, die handschriftliche Inschrift auf dem Buchrücken unleserlich verblasst, das Bändchen kaum mehr als fünfzehn Zentimeter hoch und acht Zentimeter breit. Auf dem vorderen Einband prangte mittig eine kleine, schwarze Delle, von Ruß umrandet.
Ich legte den Brief auf eine Kommode und klappte ebenso neugierig wie vorsichtig das Buch auf, ein Buch, von dem ich nicht wusste, dass ich es schon vor mehr als fünfzig Jahren in der Hand gehalten hatte.
Ratlos blickte ich auf ein Bild, das einen römischen Ritter hoch zu Pferd zeigte. In der rechten Hand hielt er ein Schwert, in der linken ein Tuch. Dabei beugte der Ritter sich zu einem Mann herab, der zu seinen Füßen kauerte und die Inschrift auf dem Tuch gebannt anblickte:
FABII RUSTICI OPERA OMNIA QUAE EXTANT CONIURATIO PISONIS IN NERONEM
Darunter fand sich eine Inschrift:
LVGD: BATAVORUM
Ex officina Elzeviriana A° 1643.
Behutsam blätterte ich durch die alten Seiten, die in erstaunlichem Zustand waren. Die Seiten waren sogar nummeriert und mit Zahlen versehen, 120 Seiten eng bedruckt, mit Überschriften und gedruckten Anmerkungen versehen, alles in lateinischer Sprache. Offenbar ein kostbares Buch, ein sehr kostbares Buch. Betroffen blickten wir uns an.
Den kleinen Brief aber hatten wir vergessen.
8. Kapitel
Lemberg, Ukraine Juli 1942
Die Mannschaften waren abgerückt, die Bewohner der Häuser waren auf Lastwagen verfrachtet und zu den Sammelplätzen gebracht worden. Lärm, Unruhe und Angst hatten die Straßen der schönen Jugendstilhäuser erfasst. Die Bewohner, meist ältere, würdevolle Menschen, die Männer mit grauen Bärten, wenige Kinder oder Jugendliche, sie hatten protestiert, geschrien, geweint, am Schluss aber wurden sie grob mit Gewehrkolben zusammengetrieben, wobei sich besonders ihre ukrainischen Landsleute durch Grausamkeit auszeichneten. Ihnen waren die wohlhabenden Juden schon längst ein Dorn im Auge – der schmähliche Hass der Besitzlosen.
Und so wechselte trotz des vorangegangenen Befehls manches Schmuckstück, so manche Geldbörse bei dieser Aktion den Besitzer. Die Betroffenen nahmen das meist klaglos hin, ahnten sie doch, dass sie erst am Anfang eines langen Leidensweges standen. Die jungen Frauen wurden hemmungslos begrapscht, Durchsuchung nannten es die Milizionäre. Die Wehrmachtssoldaten sahen zu und hielten sich zurück, aber Gewissensbisse wie der Obergefreite Nöller hatten nur wenige.
Stille kehrte ein und die Sonne schickte sich an, diesen Ort schamhaft zu verlassen. Erste graue Schatten senkten sich über die schönen Häuser. Dies war ein reiches Viertel in Lemberg, hier wohnten Ärzte, Anwälte, Professoren, fast alle Juden, die Straßen hatten ein buntes, vielfältiges Leben gesehen. Und die Häuser zeichneten sich, im Gegensatz zu den sonst sehr ärmlichen jüdischen Vierteln, hier überwiegend durch prachtvolle Architektur aus, gebaut vor vierzig, fünfzig Jahren im Jugendstil, die Portale durch prächtige Verzierungen geschmückt. Kleine Balkone mit kunstvoll verzierten Gittern schmückten die Fassaden, über den Fenstern barocke Stilelemente. Kunstvoll gestaltete Laternen aus Gusseisen erleuchteten die breiten Straßen. Vor den Häusern gepflegte Vorgärten, in denen Sonnenblumen, Geranien und Buschmalven in höchster Blüte standen.
Hauptmann Sendermann stand vor einem dieser Häuser. Brajerowski 33. Ein gepflegtes Haus, das einmal drei Familien Wohnstatt geboten hatte, jetzt leer und verwaist.
Professor Stanislav Jarecki, Rechtsanwalt stand auf dem unteren, messingfarbenen Klingelschild, die Haustür stand weit offen. Sendermann sah sich um und trat ein. Das Treppenhaus war mit Marmor und vergoldetem Stuck verziert, die Tür zur unteren Wohnung stand ebenfalls offen, eine massive Eichentür mit Dekorelementen.
Die Wohnung war, wie nicht anders zu erwarten war, Hals über Kopf verlassen worden. Überall lagen Taschen, Koffer und Kleidungsstücke herum.
Der Offizier ging durch die weiträumige Eingangsdiele, an der Küche vorbei, die einen merkwürdig aufgeräumten Eindruck machte. Links das Wohnzimmer, stilvoll eingerichtet mit wertvollen alten Möbeln und einer bequemen Sitzgarnitur aus blauem Samt. Schränke und Kommoden standen offen. Gegenstände waren auf dem Tisch und dem Boden verteilt, als hätten sich die Bewohner nicht einigen können, was sie mitnehmen oder hierlassen sollten. Sendermann rührte die Sachen nicht an, auch den Schmuck nicht, der in einem Holzkästchen auf der Fensterbank lag.
Er setzte sich auf einen der bequemen Samtsessel und ließ die Atmosphäre des Raums auf sich wirken. Ein großes Foto auf einer Kommode zog seinen Blick an. Da war er nun, der Professor Stanislav Jarecki, ein Mann offenbar um die siebzig, schlank, von hohem Wuchs und mit langem, grauem Bart, der Kopf von einem schütteren Kranz umgeben, die Kleidung schwarz und altmodisch, eher wie man sie vor dreißig Jahren getragen hätte. Seines Zeichens Mitglied des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer von Lemberg, wie die daneben hängende Urkunde auswies.
Mit strengem Gesicht blickte er auf den Eindringling, umrahmt von seiner getreuen Gattin, einen guten Kopf kleiner, mit langem, grauem Zopf, daneben zwei Kinder, Sohn und Tochter, schon gut in den Dreißigern. Der gut aussehende, blond gelockte Sohn trug stolz die Uniform eines polnischen Hauptmanns, die Tochter, bildhübsch und mit langem, blonde, Haar, hatte ein Kleinkind von vielleicht drei Jahren auf dem Arm. Alle außer dem Vater lachten in die Kamera, als hätten sie keine Vorstellung, was auf sie zukäme. Die ganze Familie Jarecki war hier offensichtlich versammelt.
Sendermann dachte nach. Wenn der Sohn die Uniform des polnischen Heeres trug, musste die Aufnahme etwa drei Jahre alt sein, denn im September 1939 hatte die Rote Armee aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts Ostpolen und auch Lemberg besetzt, Gebiete, die seitdem zur Ukrainischen Sowjet-Republik gehörten, danach gab es kein polnisches Heer mehr. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion gehörte Lemberg seit Juni 1941 zum so genannten Generalgouvernement.
Wo mochte die Familie jetzt sein? Ob sie noch zusammen waren, in ihrem neuen Quartier im jüdischen Viertel?
Sendermann wusste nicht genau, wie es um das Schicksal dieser Familie bestellt war, aber er ahnte, dass die glücklichen Zeiten für die Jareckis vorbei waren, doch es kümmerte ihn wenig.
Seine Gedanken wanderten zurück, wurden von der Atmosphäre des Raums vereinnahmt. Hier hatte die wohlhabende Familie ihre Feste gefeiert, ihren Sabbat, der freitagabends begann und bis zum Eintritt der Dunkelheit am folgenden Samstag dauerte. Sendermann schloss die Augen. Ein Bild tauchte vpr ihm auf, die Hausfrau mit einer weißen Schürze erschien und verteilte das ungesäuerte Brot an die Familienmitglieder, die erwartungsfroh am Tisch saßen. Vorher hatte der Hausherr den Sabbatsegen gesprochen und dann begann das Festmahl. Sendermann kannte sich mit jüdischen Bräuchen aus, er hatte einiges darüber gelesen. Wenn man einen Feind vernichten will, muss man ihn kennen!
Er wusste nicht, ob die Jareckis zu den orthodoxen Juden gehörten, aber die Bilder legten diese Vermutung nicht nahe. In seiner Vorstellung tauchten die beiden Kinder auf, die nach dem Fest in der Synagoge hier ihre Bar Mizwa gefeiert hatten. Er sah den Raum, erfüllt von freudigem Lärm und dem Klingen der Gläser. Geschenke lagen auf dem Boden und die Gäste schwatzten unbeschwert durcheinander.
So ähnlich feiern wir die Erstkommunion, dachte er und schüttelte unwillig die Gedanken aus seinem Kopf.
Am Fenster stand der neunarmige Leuchter, die Menora, und der deutsche Hauptmann sah, wie er zum Lichterfest des Chanukka festlich erstrahlte. Er schüttelte die Gedanken ab. Familie Jarecki würde hier nie mehr diese Feste feiern, das war klar. Und er wusste nicht, ob er das bedauern sollte. Eigentlich war es ihm egal. Er stand auf. Sein Weg führte ihn in das Zimmer rechts, das dem Eigentümer offensichtlich als Arbeitszimmer gedient hatte. Hohe Bücherwände bedeckten drei Wände des Zimmers, vor dem Fenster ein massiver Schreibtisch, der Ledereinsatz mit Intarsien verziert, ein hoher Lehnsessel dahinter. Ein großes Ölgemälde in wuchtigem, goldenem Rahmen zeigte das Jaffator in Jerusalem, auf der Fensterbank stand eine weitere vergoldete Menora.
Sendermanns Augen überflogen die Bücher, die dicht gedrängt standen. Überwiegend Lederbände mit Goldprägung in Frakturschrift, alt und wertvoll, bedeutend. Juristische Titel fanden sich darunter ebenso wie historische und archäologische. Dazu alte Lexika, gerichtliche Entscheidungssammlungen und etliche Bücher mosaischen Glaubens mit hebräischen Lettern.
Ein Buch fand seine besondere Aufmerksamkeit.
Er nahm es aus dem Regal, setzte sich in den breiten Ledersessel, der vor dem Schreibtisch stand, und begann zu blättern. Wie es seiner merkwürdigen Gewohnheit entsprach, begann er hinten. Auf der letzten Seite fand sich ein Stempel in alter Frakturschrift:
Professor Stanislav Jarecki
Lwow, Ul. Brajerowski 33
Tel. 2417
Ein sehr altes, aber sehr gut erhaltenes Buch, sicher sehr wertvoll. Einen Augenblick lang wanderten seine Gedanken zurück in seine Heimatstadt. In Köln hatte es einen jüdischen Antiquar gegeben, bei dem sein Vater oft alte Bücher gekauft hatte. Moritz Liebermann, ja der könnte den Wert dieses Buches sicher bestimmen. Aber der hatte sich längst in die Schweiz in Sicherheit gebracht. Was auch besser für ihn war!
Sendermann begann zu blättern …
9. Kapitel
Feldkirch, Österreich
Feldkirch im Vorarlberg gehört ohne Zweifel zu den besonderen Sehenswürdigkeiten des kleinen Alpenlandes. Jahrhundertealte Türme und Bürgerhäuser schmücken auch heute noch die Stadt, die im Krieg keine nennenswerten Schäden erlitten hat. Verkehrsgünstig gelegen, befinden sich heute jene Straßen, die Feldkirch mit Deutschland, der Schweiz und den weltberühmten Skigebieten des Arlbergs und des Montafon verbinden, an den Stellen, wo früher die Wehrgräben verliefen.
Steinerne Zeugen der Vergangenheit begegnen den Besuchern in Feldkirch auf Schritt und Tritt, und es sind die vielen verborgenen romantischen Winkel, die heute die Montfortstadt zu einem beliebten Ausflugsziel machen.
An diesem frühherbstlichen Nachmittag hatte die Sonne noch einmal alle Kraft aufgeboten, derer sie fähig war, und die Gastwirte hatten Stühle und Tische nach draußen gestellt und freuten sich über gute Umsätze. Lachend und schwatzend saßen die Menschen vor den Lokalen in dem gut erhaltenen mittelalterlichen Zentrum und genossen die letzten Sonnenstrahlen, nicht ahnend, welches Drama sich bald in ihrer Nähe abspielen würde.
Unweit von dieser Stätte der Freude und des leichten Vergnügens befindet sich das Altenheim St. Johannes, das betagten Mitbürgern Ruhe und Versorgung bietet.
Ohne Hektik, ohne Hast – dem Alter eine ruhige Rast! Das war das Motto des Heims, das in großen, gotischen Lettern über dem sonst schlichten Eingang stand.
Diesem Eingang näherte sich nun eine junge Dame, groß und schlank, die schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein hübsches, offenes Gesicht rundete ihre eindrucksvolle Figur wohltuend ab. In ihrer rechten Hand trug sie einen kleinen, bunten Blumenstrauß.
„Servus, gnä’ Frau. Was kann ich für Sie tun?“
Die ältere Pflegerin mit dem grauen Dutt und dem riesigen Brillengestell an der Rezeption sah unwirsch von ihrer Lektüre auf, bei der sie sich offensichtlich gestört fühlte. Ein Namensschild am Revers ihres altmodischen, blauen Kittels wies sie als Schwester Hannah aus, ein wenig freundliches Relikt aus der Vergangenheit, ohne Zweifel auch als Aufseherin in jedem Gefängnis geeignet.
Sie erntete jedoch ein strahlendes Lächeln der Besucherin. „Gott zum Gruß. Ich bin Claudia Schönleitner und möchte meinen Onkel besuchen.“
Sie winkte mit dem Blumenstrauß. Ein leichter amerikanischer Akzent war unüberhörbar.
Die Pflegerin warf einen missmutigen Blick auf den Blumenstrauß und die Besucherin.
Die und seine Nichte? Sicher!
„Sie haben sicher einen Ausweis? Sie verstehen schon, ich kann hier nicht jeden durchlassen. Die Sicherheit unserer Heimbewohner …“
„Das verstehe ich natürlich“, entgegnete die junge Dame. Sie lächelte freundlich und präsentierte einen Ausweis, auf den die Schwester einen kurzen Blick warf. Sie wurde etwas freundlicher.
„Jo, der Herr Schönleitner. Der hat ja schon seit ewigen Zeiten keinen Besuch bekommen.“
„Ja, leider“, seufzte die Besucherin und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Auge.
Die junge Dame machte einen zerknirschten Eindruck.
„Wissen Sie, ich lebe in England und bin selten auf dem Kontinent, aber diesmal kann ich es mit einem Geschäftstermin verbinden.“
„England? Geschäftstermin?“
Die junge Dame strahlte sie an.
„Ich arbeite bei der Europäischen Kreditbank. Wir haben eine Geschäftsstelle in Zürich, und da habe ich die paar Stunden Zugfahrt gerne auf mich genommen, um Onkel Paul endlich mal wieder zu sehen.“
„Ach so, das ist was anderes. Da wird sich Ihr Onkel aber freuen.“
Von der Europäischen Kreditbank hatte sie zwar noch nie gehört, aber das konnte angesichts ihrer schmalen Einkommenslage auch niemand von ihr erwarten. Aber dass die Nichte einige Stunden im Zug saß, um ihren fast neunzigjährigen Onkel zu besuchen, das verdiente Respekt – und dann mit einem Blumenstrauß. Er war zwar reichlich klein, aber … Mein Gott, der Alte hat keine Blumen bekommen, seit er hier bei uns ist.
Ihre Miene hellte sich zusehends auf.
„Er wohnt im ersten Stock, Zimmer 108. Ich würd‘ Sie ja hinbringen …“, sie machte eine unbestimmte Geste, „aber ich kann hier nicht weg. Sie sehen ja. Sie können ruhig hingehen, er verlässt sein Zimmer nie. Nicht einmal zu den Mahlzeiten. Wissen Sie“, sie beugte sich nach vorne, „er ist nicht mehr … äh … so ganz bei sich. Aber er ist lieb und macht keine Schwierigkeiten. Gehen Sie ruhig.“
Keine Schwierigkeiten zu machen gehörte offensichtlich zu den wichtigsten Prinzipien des Heims und kam noch vor Ordnung und Sauberkeit.
Sie wies freundlich auf das Treppenhaus. Hoffentlich erkennt der alte Zausel dich überhaupt.
Claudia Schönleitner, die ihren Freunden und Bekannten viel eher als Cathy Meywether bekannt war und nicht bei einer Bank, sondern bei der CIA ihr Brot verdiente, zückte einen 10-Euro-Schein und schob ihn diskret über die Theke.
„Für Ihre Freundlichkeit – und für die … Kaffeekasse.“
„Das wär doch nicht nötig gewesen“, gab Schwester Hannah ihre Standardantwort und steckte den Schein ein, der nie eine Kaffeekasse sehen würde. Lächelnd widmete sie sich wieder ihrem Lieblingsautor und damit der Frage, ob der verunglückte Graf doch noch seine Sekretärin heiraten würde – vielleicht im Krankenhaus? Wie romantisch!
Die Agentin strebte dem Treppenhaus zu …
10. Kapitel
Köln
Viele Tassen Kaffee später und versehen mit den Informationen, die die Segnungen des Internets dem wissbegierigen User zu bieten hat, waren wir immer noch über unsere Entdeckung verblüfft.
„Fassen wir zusammen, was wir bisher haben“, meinte Markus Bassler.
„Es handelt sich um ein Buch aus dem Jahre 1643, das allein ist schon sensationell. Viel erstaunlicher ist, dass es sich um das Werk eines römischen Historikers namens Fabius Rusticus handelt, den eigentlich keiner kennt und von dem ich jedenfalls keine Schriften kenne. Das Werk beschreibt offensichtlich eine Verschwörung, die sich gegen Kaiser Nero richtete.“ Er seufzte tief auf. „Das alles erinnert mich sehr an …“
„An den Pompeji-Papyrus, nicht wahr?“ Ich klopfte auf den Küchentisch.
„Dieses Abenteuer ist mir noch sehr gut in Erinnerung.“
Unwillkürlich fuhr ich mir über die Stirn, der das damalige Abenteuer eine schmerzhafte Beule eingebracht hatte.
„Aber diesmal gibt es keinen Henderson, nicht wahr?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Wer weiß?“
Nur ungern erinnerte ich mich an den eiskalten amerikanischen Killer, der mich wahrscheinlich auch umgebracht hätte, wenn nicht der Heilige Pantaleon …
Aber das war eine andere Geschichte, und obwohl es erst etwa ein Jahr her war, kam es mir wie vorgestern vor.
„Komm in die Gegenwart zurück“, lachte Bassler. „Wie gehen wir weiter vor?“ Unwillkürlich sprach er im Plural, was ich dankbar zur Kenntnis nahm. Hilfe konnte ich in dieser Situation wahrhaftig brauchen.
„Aber Sendermann hatte doch gesagt, dass der Name des Eigentümers im Buch stehe. Wie soll ich ihn sonst finden?“
Basssler nahm das Buch noch einmal zur Hand und blätterte es sorgsam durch.
„Manchmal muss man ein Buch bis zu Ende lesen, du fängst doch sonst immer hinten an“, meinte er lächelnd. Er wies auf einen alten, leicht verblassten, aber gut lesbaren Stempel auf der rückwärtigen Innenseite des Buches, der in altertümlicher Frakturschrift den Namen seines rechtmäßigen Besitzers angab:
Professor Stanislav Jarecki
Lwow, Ul. Brajerowski 33
Tel. 2417
Und hoppla, da war noch etwas. Beim Durchblättern des Buches war ein zusammengefalteter Zettel herausgefallen, den Bassler jetzt aufhob.
Vorsichtig, als handle es sich um eine weitere Kostbarkeit, öffnete er den vergilbten Zettel.
Stirnrunzelnd las er:
Der Kommandant von Lemberg
- Tagesbefehl -
Lemberg 12. August/42
Kom. z. b. V:
Gerd Matruskeit - 3. Bat.
Hans Lasket – 3. Bat.
Heinrich Döbeler - 3. Bat.
Karl Beuthen – 3. Bat.
Leopold Reiniger – 3. Bat.
Paul Schönleitner – 3. Bat.
Wilhelm Hackler – 3. Bat.
Fritz Rosner – 3. Bat.
Jakob Schützenberg – 3. Bat.
Johann Scheidliger – 3. Bat.
Hauptmann August Sendermann – 3. Bat./
Ltd.O.
StbF Kaufmann - SS Brg./z. b. V.
für die Richtigkeit
Lehmann, Major u. Batl.-Kommandeur
im Felde 12. August 1942
Darunter ein Stempel und eine kaum lesbare Unterschrift, Namen, lauter Namen, dazu unverständliche Abkürzungen. „Was sind das denn für Namen?“, meinte Bassler irritiert, „und die Abkürzungen. Sagen die dir was?“
Er reichte den Zettel weiter. Ich studierte ihn eingehend, aber auch ich war ratlos.
„1942! Militär! Wehrmacht! Das scheint mir irgendwie mit dem Militär und dem Zweiten Weltkrieg zu tun zu haben, aber davon haben zwei ungediente Diener des Pazifismus wohl keine Ahnung“, murmelte ich, „wir brauchen Hilfe und ich weiß auch schon, von wem.“
Ich griff zum Telefon.
11. Kapitel
Köln
Das Hotel Rheinischer Hof, unweit von Rhein und Altstadt gelegen, gehörte nicht zu den besten Hotels der Domstadt. Verborgen in einer stillen Seitenstraße und dem Rotlicht näher als der Einkaufsmeile, bot es dem Gast eine stille, diskrete Unterkunft ohne unnötigen Luxus, aber auch ohne einen Inhaber, der überflüssige Fragen zu stellen pflegte. Hier wohnten weder arrivierte Geschäftsleute, die die bekannten Kölner Messen besuchten, noch hochrangige Gäste der Domstadt. Eher reisefreudige Studenten oder Rucksacktouristen mit kargem Reiseetat oder auch Paare, die den Raum nur für kurze Zeit und ganz besondere Aktivitäten benötigten, Aktivitäten, von denen ihre jeweiligen Ehepartner eher nichts wissen sollten.
Also Menschen, denen Diskretion wichtiger war als Komfort. Menschen wie der Mann in Zimmer 42.
Im sparsam möblierten Zimmer Nr. 42 mit Aussicht auf den Rhein logierte ein amerikanischer Geschäftsmann namens James Elroy, seines Zeichens Vertreter einer amerikanischen Firma für Import – Export von Elektrogeräten, so jedenfalls zeigte es die Geschäftskarte an, die er großzügig beim Einchecken präsentiert hatte. Der Mann an der Rezeption steckte sie weg, ohne einen Blick darauf zu werfen. Hauptsache, hier wurde beim Einchecken bezahlt.
In Wirklichkeit hieß der Mann Peter Wills und war Agent der CIA. Er kleidete sich stets gut, aber unauffällig, maß fast 190 Zentimeter und war von schlanker, aber kräftiger Figur. Ein Beobachter hätte kaum vermuten können, dass sein Körper über eine Vielzahl gut trainierter Muskeln verfügte, weshalb er die Kleidung gern etwas größer trug. Sein struppiges, mittelblondes Haar zeigte an den Schläfen ein erstes zartes Grau und war in der Stirnmitte schon reichlich ausgedünnt, gleichwohl warfen ihm Frauen interessierte Blicke zu, wenn er gelegentlich das Hotel verließ. Daran änderte auch die kleine rötliche Narbe nichts, die sein Kinn prägte und als Andenken an seinen Einsatz in Peru zurückgeblieben war.
Er trug ein hellblaues Hemd zu einer hellbraunen Cordhose, darüber ein kariertes dunkelbraunes Jackett. Nicht zu elegant und unauffällig. Unauffällig auch die SIG Sauer Scorpion, die er im Halfter unter der Jacke trug.
Wills saß an einem schmalen Tisch, ein Glas Bitter Lemon, sein Lieblingsgetränk, in Griffweite, und studierte einen Stadtplan von Köln. Er hätte ihn auch an seinem Laptop aufrufen können, aber er bevorzugte die altmodische Variante. Aber während er mit der Planung seines nächsten Einsatzes beschäftigt war, kehrten seine Gedanken zu seinem letzten Einsatz zurück. Peru! Das war knapp gewesen. Im Auftrag der Agency hatte er drei Wochen einen gefährlichen Mann beobachtet, einen sehr gefährlichen Mann. Den Kopf eines Drogenhändlerrings, der den Markt in den USA mit seinen todbringenden Artikeln überschwemmte und dabei vor allem Kinder und Schüler im Auge hatte. Am Schluss hatte er ihn auftragsgemäß liquidiert und war dabei fast draufgegangen. Bei einem mörderischen Gefecht mit den Leibwächtern des Drogenbosses war er getroffen worden und nur knapp dem Schicksal mancher seiner Kollegen entgangen. Was hätte es ihm schon genutzt, wenn sein Name auf der Gedenkwand für getötete CIA-Agenten in Langley gestanden hätte? Er hätte es ja wohl nicht mehr erlebt.