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Dank seiner außergewöhnlichen Sprachkenntnisse, zu denen neben Grundkenntnissen in Arabisch auch Deutsch und Spanisch gehörten, hatte er jetzt Einsätze im Irak, im Sudan, in Deutschland und in Peru hinter sich. Immer war er für den Tod von Menschen verantwortlich gewesen, aber das hatte ihm weder Gewissensbisse verursacht noch seinen Schlaf nachhaltig gestört. Es gehörte zu seinem Job wie bei einem Polizisten das Verteilen von Strafzetteln oder bei einem Bäcker das Vorbereiten des Teigs.
Die Opfer – das waren alles Menschen gewesen, die es verdient hatten. Drogenhändler, Verräter, feindliche Agenten, Terroristen.
Sie waren die Bösen.
Und er war einer von den Guten – und das hatte ihm seine Tätigkeit erleichtert und einen guten Schlaf ermöglicht.
Als er sich nach fünfjähriger Tätigkeit bei der Polizei von New York bei der Agency beworben hatte, was er ohne die ausdrückliche Empfehlung seines Commissioners wohl nie getan hätte, war ihm bewusst, dass seine neue Tätigkeit gefährlich sein würde. Aber neue Herausforderungen reizten ihn und so hatte er ohne Probleme das Aufnahmeverfahren in Langley durchlaufen und war inzwischen Agent Second Grade.
Allerdings hatte sein Familienleben darunter sehr gelitten, er hatte keins.
Einige Affären, ja, aber keine Frau, keine Kinder. Zwei ernsthaftere Beziehungen, die in die Brüche gegangen waren, alles zum Wohle des Landes, das ihm seine Gehaltsschecks ausstellte.
Und auch jetzt galt es wieder, Schaden von seinem Land abzuwenden. Das hatte er einst geschworen.
Er wandte sich wieder dem Stadtplan zu. Zwei Straßen hatte er markiert, die Novalisstraße, für die als Stadtteil Marienburg angeben wurde, und den Pantaleonswall, der unweit von seinem Hotel in der Innenstadt lag. Er trank einen Schluck und seine Finger kritzelten auf dem Stadtplan. Kein Zweifel, er hatte sich sein erstes Ziel ausgesucht. Er beschloss, zunächst der Novalisstraße einen Besuch abzustatten.
Er prägte sich Namen und Adresse ein und verließ das Hotel, nicht ohne dem Besitzer an der Rezeption fröhlich einen Guten Abend zu wünschen, was mit einem undefinierbaren Brummen erwidert wurde. Bei einer nahen Imbissbude gönnte er sich einen herzhaften Burger mit viel Speck und Käse, den er mit einer Coke hinunterspülte.
Am nächsten Taxistand nahm er sich einen Wagen und ließ sich in die Nähe der Novalisstraße bringen.
Der Kölner Ortsteil Marienburg wird überwiegend durch Villen oder gut situierte Zweifamilienhäuser geprägt. Hier hat der Krieg kaum Spuren hinterlassen, die Straßen sind sauber und gepflegt, sorgfältig gestutzte Baumreihen säumen die breiten Fußwege.
Gepflegte Vorgärten mit Rosen- und Magnoliensträuchern künden von liebevoller Pflege der Hausbesitzer oder ihrer Gärtner.
Das Haus mit der Nummer 102 unterschied sich kaum von den anderen Häusern, ein gepflegter Klinkerbau mit zwei Stockwerken, ein hübscher Vorgarten mit Oleanderbüschen und Rosenstöcken, die jetzt im Herbst verblüht waren und ihre letzten Blätter abgeworfen hatten.
Der Name Heinrich Döbeler fand sich auf dem unteren Klingelschild.
Wills blickte sich um. Die Straße war an diesem frühen Abend menschenleer. Dunkelheit hatte sich bereits über die Stadt gelegt und ein kühler Herbstwind fegte Laub durch die Straße. Die Laternen spiegelten ihr warmes Licht in den Pfützen. In einer Entfernung von etwa hundert Metern führte eine ältliche Dame ihren lärmenden Pudel aus.
Wills drückte auf die Klingel.
12. Kapitel
Köln
Der Regen hatte sich verzogen und einer dezent lächelnden Sonne Platz gemacht, die mit ihrer letzten Kraft noch einmal Straßen und Menschen erwärmte. Ich beschloss, den Weg, den ich vor mir hatte und der telefonisch vorbereitet war, zu Fuß zu bewältigen. Eine halbe Stunde flotten Marsches würde meinem Körper guttun und meinem Geist auch.
Ich bog auf den Ring ein und wartete an der Ampel, bis sie Grün anzeigte. Mehr aus Gewohnheit drehte ich mich um und sah in einer Entfernung von hundert Metern einen Mann in braunem Trenchcoat, der mir schon beim Verlassen des Kirchengeländes aufgefallen war.
Der hatte nämlich am Mitteilungskasten der Kirche gelehnt und interessiert den Aushang gelesen, aber ich wusste – und wer hätte es besser wissen können –, dass der Kasten leer war. Er würde nämlich erst wieder am Donnerstag neu bestückt.
Aber wahrscheinlich ist das ein Zufall! Die Ampel war umgesprungen und ich überquerte mit schnellem Schritt die breite Ringstraße. In der Mitte musste ich warten, weil eine Straßenbahn kam. Ein Blick zurück zeigte, dass der Mann da stand, wo er eben noch gestanden hatte. Er schien einen interessierten Blick in ein kleines Heft zu werfen, das er aufgeschlagen hatte. Merkwürdig! Die Bahn rauschte vorbei und ich setzte meinen Weg fort. Am nächsten Ladenlokal blieb ich stehen und warf einen Blick in das spiegelnde Fenster, so hatte ich es oft genug im Fernsehen gesehen. Was ich sah, beunruhigte mich. Der Trenchcoat war ebenfalls stehen geblieben und studierte die Auslagen eines Wäschegeschäfts. Ich werde verfolgt! Aber beim gerechten Himmel, weshalb denn? Auf längere Verfolgungsjagden mochte ich mich nicht einlassen, das machten meine arthrosegeplagten Knie nicht mit. Aber der Zufall kam mir zur Hilfe. Ein Taxi fuhr vorbei, unbesetzt, wie das gelöschte Licht auf dem Dach anzeigte. Ich winkte heftig mit dem Arm und das Taxi hielt an.
„Steigen Sie ein, Hochwürden. Bin gerade frei.“
Ich nannte das Fahrtziel und ließ mich in die weichen Polster fallen. Ein Blick zurück zeigte, dass der Mann im Trenchcoat eher einen ärgerlichen Eindruck machte, und ich schmunzelte. Abgehängt, Trenchcoat!
Aus dem Radio klang She‘s a Lady von Tom Jones, für meinen Geschmack etwas zu laut.
„Soll ich leiser machen? Ich liebe den Bastard. Richtiger Macho wie ich“, lachte der Fahrer. Er wartete die Antwort nicht ab, sondern drehte die Musik leiser. Ich nickte nur.
„Hab’ nicht oft einen Priester als Fahrgast“, sagte der Fahrer in bestem Deutsch mit rheinischer Färbung, ein stiernackiger, schlecht rasierter Mann, der seine türkische Herkunft nicht verleugnete. Er lachte freundlich und zeigte ein lückenhaftes Gebiss.
„Bin ich Moslem, aber ich gehe lieber in Kneipe als in Moschee und der Wirt kennt mich besser als der Imam. Ha, ha. Und ich fahre alle, egal ob schwarz oder weiß, Jude, Christ oder Moslem. Hauptsache, das Trinkgeld stimmt. Gerade jetzt nach dieser Scheiß-Silvesternacht müssen wir Ausländer zeigen, dass es auch andere gibt.“
Ich schmunzelte.
„Aber Sie kennen die Anrede Hochwürden?“
Wieder ein kehliges Lachen. „Aus dem Fernsehen, Don Camillo und Peppone. Zum Totlachen, die beiden!“
Er blickte in den Rückspiegel.
„Und wie lange leben Sie schon hier?“
„Seit dreißig Jahren. Bin ich mit fünfzehn rübergekommen. Mein Vater, der hat bei Ford gearbeitet, meine Mutter Kaufhof. Ich hab’ Hauptschule, dann erst Kfz-Schlosser bei Ford, später Taxi.“
Wieder ein längerer Blick in den Rückspiegel.
Ich fand die kleine Lebensgeschichte des sympathischen Türken interessant und wollte gerade die nächste Frage stellen, als ich von dem Türken unterbrochen wurde.
„Haben Sie Schulden? Ich meine, einen … äh … aufdringlichen Gläuber aus Frankfurt oder so was?“
„Sie meinen Gläubiger. Wieso?“
„Ich glaube, wir werden verfolgt. Sehen Sie schwarzen Mazda mit dem Frankfurter Kennzeichen, zwei Wagen hinter uns?“
Ich drehte mich um. In kurzer Distanz folgte ein schwarzer Mazda, der offenbar bemüht war, den Kontakt nicht abreißen zu lassen.
„Ich … weiß nicht.“ Der Trenchcoat fiel mir wieder ein, obwohl ich den Fahrer nicht erkennen konnte. „Könnte … könnte sein!“
„Verfolgungsjagd! Wahnsinn! Auf so was warte ich schon seit Jahren“, lachte der Türke laut auf, „kenne alle Folgen von Cobra 11! Na, dann wollen wir mal. Anschnallen, Don Camillo!“
Obwohl ich bereits angeschnallt war, entlockte mir diese Bemerkung ein leises Lächeln. Das verging mir aber sofort, als der Fahrer plötzlich Gas gab und die Spur wechselte. Er zog nach rechts und überholte auf dieser Spur einen wütend hupenden Kleintransporter. Aber auch der Mazda hatte beschleunigt und blieb dran, was der Taxifahrer mit einem grunzenden Laut quittierte.
Mit quietschenden Bremsen bog er in eine Seitenstraße ein, die er an der nächsten Kreuzung nach rechts verließ. Ein Fahrradfahrer wurde zu einer Vollbremsung genötigt, was er mit einem kräftigen Schimpfwort und einer eindeutigen Handgeste beantwortete. Aber der Verkehr war gering und erlaubte solche Manöver. Der geringe Verkehr führte aber auch dazu, dass der Mazda ohne Probleme folgen konnte. „Jetzt hab ich aber Schnauze voll, du Bastard!“
Er kam jetzt in einen Kreisverkehr, den er in der vorletzten Ausfahrt plötzlich und ohne zu bremsen verließ. Das Fahrzeug schlingerte heftig hin und her. Der Mazda hatte mit diesem Manöver nicht gerechnet und verpasste die Ausfahrt.
„So, du Anfänger. Wenn du Murat verfolgen willst, musst du frühestens aufstehen“, er lachte wieder sein kehliges Lachen und schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett.
Ich war inzwischen wohl recht blass geworden, meine Hand umklammerte krampfhaft den oberen Haltegriff.
„Meinen Sie, Murat, wir könnten etwas langsamer …?“
„Keine Angst, Hochwürden, Murat versteht sein Geschäft! Und jetzt links!“
Ohne Vorwarnung bog er links ab, was er aber sofort bereute. Ein Müllwagen blockierte die Straße, während die Arbeiter gemächlich ihre Tonnen leerten. Eine Vollbremsung brachte das Taxi zum Stehen. Einer der orange gekleideten Arbeiter wies auf das Taxi und hob mahnend den Zeigefinger.
„Orosbu!“, schrie Murat, und ich wäre blass geworden, wenn ich die Bedeutung Hurensohn gekannt hätte. Murat warf einen nachdenklichen Blick in den Rückspiegel, kein Mazda, noch nicht.
„Warte, mein Freund!“
Er setzte das Fahrzeug zurück, lenkte scharf rechts ein und fuhr blitzschnell auf den breiten Bürgersteig. Die Männer spritzten auseinander, zwei Tonnen, die im Weg standen, schafften das nicht und fielen mit Getöse in einen Vorgarten. Der Weg war frei und Murat gab mit einem hämischen Lachen Gas, während ich das Geschehen in namenlosem Entsetzen verfolgte. Er drehte sich um und sah die Männer toben und ihre Fäuste schwingen.
„Siktir Lan“, schickte ihnen Murat freudestrahlend nach. Ihm machte die Geschichte offensichtlich erheblich mehr Spaß als mir, der ich mich schwitzend gegen das Polster lehnte. Im Rückspiegel erkannte ich, dass der Mazda hinter dem Müllwagen stehen geblieben war. Der Fahrer war ausgestiegen und blickte dem Taxi freudlos nach.
Nach weiteren fünf Minuten waren wir am Ziel angekommen. Murat nahm strahlend das Honorar einschließlich eines üppigen Trinkgelds entgegen und schlug mir freundschaftlich auf die Schulter.
„Äh, Don Camillo, das war ein tolles Abenteuer. Muss ich heut Abend meiner Azra und dem kleinen Ömer erzählen, die werden ihren Spaß haben!“
Er lachte dröhnend auf und brauste davon. Ich blickte ihm erleichtert nach, froh, diese Fahrt überlebt zu haben.
13. Kapitel
Lemberg, Ukraine Juli 1942
Dunkelheit hatte sich über Lemberg gelegt. Hauptmann August Sendermann legte das Buch aus der Hand. Vom Inhalt hatte er nichts verstanden, es war in einer Sprache verfasst, die ihm unbekannt war. Vielleicht Latein oder Griechisch? Zum Erlernen solcher Sprachen hatte seine dürftige Schulbildung nicht ausgereicht, die Offizierslaufbahn stand ihm durch die Partei offen, deren Mitglied er schon seit 1930 war, nicht durch einen Schulabschluss.
Neugierig sah er sich um. In dem Regal neben dem Schreibtisch entdeckte er eine alte Flasche Cognac. Cognac A.E.DOR – Vieille Reserve No. 9, verriet das angestaubte Etikett. Sendermann fand einen Schwenker, dessen Staubbelag anzeigte, dass der Eigentümer schon lange keinen Cognac mehr genossen hatte. Er goss das Glas voll und trank es in zwei Zügen aus. Genießerisch leckte er sich über die Lippen. Dann untersuchte er die Schubladen des Schreibtisches. In der oberen Schublade fand sich eine alte Armbanduhr mit dekorativem Lederband, eine Alpine Union Horlogere. Mindestens fünfzig Jahre alt, schätzte er, wertvolles Stück! Er steckte die Uhr ohne Gewissensbisse ein. Jarecki würde sie wohl kaum noch brauchen und wenn er sie nicht mitnahm, würden es andere tun. Überhaupt: Die Juden wissen schon, wie sie zu Geld kommen. Höchste Zeit, dass man ihnen Einhalt gebietet. Der Führer hat recht! Alles, was sie haben, haben sie irgendwie uns gestohlen.
So dachte er und war sich der totalen Absurdität dieser Logik noch nicht einmal bewusst.
Zeit, das Haus zu verlassen. Er steckte auch das unbekannte Buch ein, das es ihm schon wegen der schönen Illustration auf dem Vorsatzblatt angetan hatte. Zufrieden wollte er schon das Haus verlassen, doch er warf noch einmal einen Blick in das Wohnzimmer. Auch diesmal ließ er das kleine Schmuckkästchen unberücksichtigt, aber ein Fotoalbum, das auf dem Boden lag, weckte sein Interesse.
Neugierig begann er zu blättern. Hübsche Aufnahmen zeigten die Familienmitglieder in verschiedenen Situationen, vor der Synagoge, an der Schule, auf der Straße, in einem Automobil. Der Vater stets ernst und würdevoll, die Mutter sanft und lächelnd. Die Kinder lachten, sie strahlten. Unbeschwerte Bilder eines unbeschwerten jüdischen Lebens in geordnetem Wohlstand. Ein kleines Mädchen kam ihm plötzlich in den Sinn, rotes Kleid mit Sonnenblumen. Babi Jar. Weiberschlucht. Rotkäppchen …
Ein plötzliches Geräusch ließ ihn den Kopf herumreißen, ein leises, behutsames Knirschen, stoßweises Atmen.
In der Tür stand der junge Mann, den er schon aus dem Bild kannte, diesmal freilich ohne Uniform. Wirr die blonden Haare, schmutzig das Gesicht, eine alte, fleckige Hose, ein zerrissener Pullover und ein alter Militärmantel schlotterten um die dürre Gestalt.
Er starrte den deutschen Offizier an. Überraschung und Schrecken zeichneten sein hageres Gesicht – und Zorn, grenzenloser Zorn und hasserfüllte Wut. Sein Blick fiel auf das Fotoalbum, sein Gesicht verzerrte sich.
„Was zum Teufel machst du hier, du Nazimörder?“, schrie der junge Jarecki, sein Deutsch war gut, wenn auch von slawischem Akzent deutlich geprägt.
„Reicht es nicht, dass ihr meine ganze Familie verhaftet habt? Musst du jetzt noch rauben und plündern? Und leg die Bilder weg. Du … du bist es nicht wert, sie anzufassen!“
Mit einem Schrei stürzte er sich auf Sendermann, riss ihn um und warf ihn gegen die Kommode. Der Angriff kam wie aus dem Nichts, schnell und überraschend.
Sendermanns Kopf schlug hart gegen das Holz, doch im gleichen Augenblick packte er den jungen Polen an der Schulter und versetzte ihm einen harten Schlag gegen den Hals. Der junge Jarecki hatte dem nichts entgegenzusetzen, schwach und ausgezehrt, wie er war.
Er röchelte und sackte zurück. Mit hasserfülltem Gesicht versuchte er mit den Beinen nach seinem Gegner zu treten, doch der Tritt ging ins Leere. Sendermann wich zurück. Im Bruchteil einer Sekunde zog er seine Pistole, eine Walther PPK 5,6 mm, aus dem Halfter und drückte zweimal ab. Dabei kam ihm die Technik der Pistole zustatten, weil der Spannabzugsmechanismus das Abfeuern der entspannten Waffe möglich machte, ohne vorher den Hahn manuell zu spannen. Die Kugeln trafen den jungen Jarecki in Schulter und Brust, mit einem Stöhnen sank er zwischen Schreibtisch und Kommode nieder, Sekunden später schlossen sich seine Augen für immer.
Ungerührt beugte sich der deutsche Offizier über den Toten. „Was für ein tapferer, kleiner Jude“, murmelte er und steckte die Waffe weg, „aber wofür bist du jetzt gestorben?“
Und doch – ohne dass er es wollte – begann sich Mitleid in ihm zu rühren. Der Junge hatte nichts anderes getan als etwas, was er selbst getan hätte, wenn er in derselben Situation gewesen wäre.
Aber wir sind eben die Sieger und den Siegern ist alles gestattet!
An diesen Spruch würde er später noch einmal denken müssen!
Aber jetzt verließ er schweigend das Haus und grüßte geistesabwesend die deutsche Patrouille, die ihm begegnete. Kunstvolle, alte Laternen erhellten die Straße und warfen ihr Licht in die gepflegten Vorgärten und auf die schönen Fassaden. Nach dem Chaos des Tages genoss er die Ruhe der Straße, die Ruhe, wie sie auch ein Friedhof verströmt.
Er zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief.
Aber schon an der nächsten Ecke war die Ruhe vorbei!
Er hörte plötzlich Schreie, die schrillen Schreie einer Frau in höchster Not. Er warf die Zigarette weg und begann zu laufen, bog um die Ecke und da sah er sie. Zwei Männer des ukrainischen Bataillons hatten eine junge blonde Frau auf den Boden geworden. Sie trug nur ein leichtes, geblümtes Sommerkleid, das nun in Fetzen hing, das kleine, blaue Höschen hatten die Männer ihr heruntergerissen und waren nun dabei ihr Werk zu vollenden. Der eine, offenkundig der Ältere, ein Hüne von Mann, mit kurzem, schwarzem Haar, einem narbigen Gesicht und brutalen Zügen, hatte seine Hose schon geöffnet und war dabei, sein ekelhaftes Werk zu beginnen. Ein Bär, der zur Paarung bereit war.
Der Jüngere, mit kurzen, blonden Haaren, die seinen jugendlichen Zügen etwas Unschuldiges verliehen, stand ungerührt und neugierig dabei. Die erste Vergewaltigung, bei der er zusehen durfte? Aber seine Finger fuhren über die blutige Wange, auf der Fingernägel ihre Spuren hinterlassen hatten, das Opfer hatte sich gewehrt!
Die Gewehre lehnten an der Hauswand.
Sendermann legte seine Hand auf die Pistolentasche. Sein Ruf gellte durch die leere Straße:
„Aufhören! Zurück von der Frau!“
Und als die beiden Ukrainer ihn nur wortlos anstarrten, ergänzte er mit schneidender Stimme: „Das ist ein Befehl!“
Die beiden Soldaten, unrasiert und mit fleckigen Uniformen, blickten den Offizier irritiert an.
„Aber ist nur Judenschlampe!“, rief der Hüne zornig. Er machte einen drohenden Schritt auf den Offizier zu, seine Miene verhieß nichts Gutes.
Sendermann zog seine Pistole.
„Zurück oder ich erschieße dich wie einen tollen Hund!“
Der Ukrainer wich zurück, der Jüngere wurde blass.
„Ob Jüdin oder nicht! Ihr habt gehört, was euch von Sturmbannführer Kaufmann gesagt wurde: Finger weg von den Frauen! Und jetzt macht, dass ihr abhaut! Sofort!“
Er verlieh seinem Befehl mit der Pistole unmissverständlich Nachdruck, und seine Miene machte deutlich, dass er ohne Zögern abdrücken würde. Die beiden Soldaten murmelten etwas auf Ukrainisch, das Sendermann besser nicht verstand. Sie brachten hastig ihre Uniform in Ordnung, packten ihre Gewehre und verschwanden wortlos.
Sendermann half der jungen Frau auf und legte die Reste des Kleides behutsam um sie.
„Wie heißt du?“
„Ich Dzanna.“
„Wohnst du hier?“
Dzanna deutete mit zitternden Fingern auf das nächste Haus. Ihr hübsches Gesicht war von Angst gezeichnet.
„Du bist Jüdin?“
Die junge Frau nickte nur und blickte den Offizier aus großen, blauen Augen an.
„Und sie haben … sie haben dich nicht mitgenommen?“
„Versteckt! Versteckt in Keller!“
Sendermann nickte nur. „Wohin wolltest du?“
„Zu Onkel in andere Stadtteil!“
„Beeil dich. Vermeide aber die großen Straßen! Und – viel Glück!“
Dzanna bemühte sich, mit den Resten des Kleides ihre Blößen zu bedecken, und blickte den jungen Offizier kurz an.
„Danke, deutscher Soldat!“
Dann lief sie davon. Das kleine,4 blaue Höschen lag noch auf der Straße, ein Mahnmal für all die widerlichen Dinge, die sich im Krieg ereigneten.
Sendermann blickte zurück. Niemand hatte die Szene gesehen. Er hoffte, dass das junge Mädchen unbeschadet zu ihrem Onkel gelangen würde, aber Zweifel waren an seiner Miene abzulesen.
Die Ul. Brajerowski war leer, ihrer Bewohner beraubt. Statt fröhlicher Kinderschreie waren es bald die dumpfen Schritte marschierender Kolonnen, die das Pflaster erschütterten. Und im Haus Nr. 33 hatte ein sinnloser Tod Einzug gehalten, ein Tod, der unter den vielen, die noch folgen sollten, niemandem auffiel. Und doch ging Sendermann mit einem Lächeln davon. Die Brutalität eines sinnlosen Krieges hatte ihn abgestumpft. Er pfiff ein Lied aus einem Film mit Heinz Rühmann, den er vor dem Krieg im Kino gesehen hatte: Ein Freund, ein guter Freund …
14. Kapitel
Köln
Lange war es her, dass ich eine Hochschule von innen gesehen hatte.
Voll war es, die Hochschule schien vor Studenten überzuquellen. Allerdings war die Luft deutlich besser, denn zu meiner Zeit hatte es noch kein Rauchverbot an den Universitäten gegeben.
Der Angstschweiß über die vergangene Fahrt stand mir noch auf der Stirn und ich war etwas kurzatmig. So brauchte ich etwas länger, um den zweiten Stock zu erreichen.
Ich wischte mir mit einem Taschentuch den Schweiß ab, brachte die Kleidung etwas in Ordnung und stand vor dem Institut für Neueste Geschichte.
Eine freundliche junge Dame mit kurzem, rötlichem Pagenschnitt und einer Unmenge von Sommersprossen empfing mich freundlich. Sie warf einen kurzen Blick auf meinen schwarzen Anzug mit dem silbernen Priesterkreuz – so was sah man hier nicht oft.
„Ja? Was kann ich für Sie tun?“
„Ich möchte zu Herrn Dr. Steinbrecher. Ich habe einen Termin bei ihm.“
Meine Stimme war in ein leichtes Krächzen übergegangen.
Ihre manikürte Hand wies nach links.
„Den Gang entlang, Zimmer vier.“
Ich bedankte mich und machte mich auf den Weg.
Zimmer vier war ein kleiner, quadratischer Raum mit einem kleinen Fenster, links und rechts Regale voller Bücher und Zeitschriften. Ein würziger Duft empfing mich. Neben dem Fenster stand ein ausladender Schreibtisch, der die Dimensionen des Raums zu sprengen schien. An dem saß Dr. Jens Steinbrecher, der dem überall herrschenden Rauchverbot zuwider fröhlich an seiner qualmenden Pfeife zog.
Mit einem breiten Lachen erhob er sich und ging auf mich zu, während er mit einer Hand die Tabakwolken wegwedelte. Der Historiker war einen Kopf kleiner als ich, ein Bäuchlein wölbte sich über seiner Jeans und der dunkelblaue Pullover war etwas aus der Mode und auch aus der Fassung geraten. Er nahm seine Hornbrille ab, legte die Pfeife weg und schüttelte mir kräftig die Hand.
„Diefi, altes Haus! Dich hab’ ich ja seit Jahren nicht gesehen, dein Anruf hat mich echt überrascht. Gut schaust du aus in deiner … Berufskleidung. Sehr würdevoll.“
Ich lächelte. Steinbrecher hatte Jahre lang mit mir ein Zimmer im Studentenwohnheim geteilt. Man hatte sich lange nicht gesehen, aber nie den Kontakt verloren.
„Sorry wegen der Pfeife, aber wenn man den ganzen Tag arbeitet … na ja, ein Laster muss der Mensch haben. Und solange mich die Fakultät nicht rausschmeißt … Was kann ich für dich tun?“
„Kein Problem. Nun, Jens, es ist etwas … äh … heikel. Ich hab hier einen Zettel, mit dem ich nichts anfangen kann. Ich dachte mir, es fällt wohl eher in den Bereich eines Historikers.“
Ich kramte den Zettel aus meiner Tasche hervor und reichte ihn weiter.
Steinbrecher warf einen interessierten Blick auf den alten Zettel.
„Woher hast du das?“
„Das … das möchte ich im Augenblick nicht sagen. Fällt sozusagen unter das … Beichtgeheimnis.“
„Beichtgeheimnis? Interessant, sehr interessant.“
Er legte das Blatt unter seine Schreibtischlampe, zog beherzt an der Pfeife und setzte die Brille auf. Minutenlang studierte er das Schriftstück, dann erhob er den Blick.
„Sieht aus wie etwas, was im Zweiten Weltkrieg geschrieben wurde. Hastig, irgendwo an der Front. Handschriftlich, das ist eher selten, aber man hatte nicht immer eine Schreibmaschine zur Hand. Oben fehlt vielleicht was, vielleicht eine Art Briefkopf. Die Wehrmacht hatte Vordrucke, da stand oben meist „Im Namen des Führers und Obersten Befehlshabers der Wehrmacht“.