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Ich lehnte mich interessiert nach vorne und beschloss, den störenden Qualm zu ignorieren.
„Hier, die obere Zeile. Es handelt sich um einen Tagesbefehl des Stadtkommandanten von Lemberg. Solche Tagesbefehle galten oft auch als Marschbefehl für die genannten Soldaten. Das hier zeigt Ort und Datum: Lemberg, 12. August 1942. Lemberg gehört heute zur Ukraine, war damals von deutschen Truppen besetzt nach dem Überfall auf die Sowjetunion. Unternehmen Barbarossa. Kennst du sicher?“
Ich nickte nur.
„Kom.z.b.V, eine Abkürzung, bedeutet Kommando zur besonderen Verwendung. Was damit gemeint ist, kann ich so nicht sagen, ich kenne die Hintergründe nicht. Aber so wurden zum Beispiel Exekutionskommandos bezeichnet. Das klang dann nicht gar so schlimm. Könnte es so etwas sein?“
Wieder nickte ich und dachte an den unglücklichen Sendermann und seine Beichte.
„Elf Namen, deutsche Namen. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, um sich vorzustellen, dass diese elf Männer an Exekutionen beteiligt waren, oder?“
„Deckt sich in etwa mit meinen Vorinformationen. Kannst du irgendwas über die Männer sagen?“
„Die ersten scheinen Wehrmachtsangehörige gewesen zu sein, den Rang kann man nicht ersehen. III. Bataillon. Lass mich schnell was nachsehen.“
Er stand auf, suchte kurz in einem Regal und nahm ein abgegriffenes Buch heraus.
Das Handbuch der Deutschen Wehrmacht – Truppenverzeichnis, Truppenbewegungen 1942.
Er klopfte auf den Buchdeckel, aus dem leichter Staub aufstieg.
„Sehr nützlich, wir werden es gleich haben.“
Nach kurzem Blättern erhellte sich sein Gesicht.
„Hier, schau!“ Seine Finger deuteten auf einen Absatz:
Als erste deutsche Truppe erreichte am Morgen des 30. Juni 1941 ein Spähtrupp des I. Bataillons des Gebirgsjäger-Regiments 99 der I. Gebirgs-Divison kampflos die Zitadelle der Stadt. Den Hauptstoß führte das III. Bataillon des Gebirgsjäger-Regiments 98 derselben Division unter Befehl von Major Josef Salminger. Das III. Bataillon war auch später in Zusammenarbeit mit dem ukrainischen Nachtigallen-Bataillon an der Exekution jüdischer Einwohner beteiligt, die meist durch Exekutionen vor Gewehr durchgeführt wurden.
„Drittes Bataillon des Gebirgsjäger-Regiments 98. Das stimmt.“
Diefenstein nickte stumm.
„Der elfte Name, … äh … Sendermann, scheint der leitende Offizier gewesen zu sein, wie man sieht, ein Hauptmann.“
„Auch das deckt sich mit dem, was ich weiß“, kommentierte ich.
Steinbrecher nickte zufrieden.
„Der Name darunter scheint zur zweiten SS-Brigade gehört zu haben. Hier ist auch der Rang genannt: StbF bedeutet Sturmbannführer, entspricht bei der Wehrmacht einem Major.
Wieder die Abkürzung wie eben. Für mich klingt das, als habe man den SS-Mann sozusagen als Aufsicht mitgegeben. Damit auch alles richtig gemacht wird. Sehr interessant, die Soldaten schießen und der SS-Mann guckt zu und führt Aufsicht. Wie auf dem Pausenhof. Interessant, sehr interessant.“ Offenbar eine seiner Lieblingswendungen.
Steinbrecher zog erneut an seiner Pfeife und machte ein nachdenkliches Gesicht.
„Eine veritable Mörderbande! Der Stempel, soweit ich ihn entziffern kann, ist der Bataillonsstempel. Unterschrieben und bestätigt hat der Bataillonskommandeur, ein gewisser Lehmann im Range eines Majors. Üblicherweise wurde ein Bataillon von einem Oberstleutnant befehligt, von einem Major eher selten. Aber was heißt das schon? An der Front ging es mitunter drunter und drüber.“
„Und im Felde, das bedeutet …?“
„Dass sich die Einheit im Kampfeinsatz befand, nicht in der Etappe.“
„Aha!“
Mir als ungedientem Geistlichen waren solche Begriffe recht fremd.
„Die Wehrmacht hat sich damals, und nicht nur in der Ukraine, mitunter an den Kriegsverbrechen beteiligt, die durch SS und SD hinter der Front verübt wurden. Sie haben sich wohl nicht danach gedrängt, aber Widerstand haben auch nur wenige geleistet.“
Mein Gesicht verzog sich schmerzhaft.
Steinbrecher blickte sein Gegenüber nachdenklich an.
„Würde mich schon interessieren, woher du das hast und warum es für dich von Bedeutung ist.“ Er wedelte mit dem Papier den Pfeifenqualm weg. „Weißt du, das ist quasi ein historisches Zeitzeugnis. Davon haben wir einige, aber trotzdem interessant, sehr interessant. Hättest du übrigens was dagegen, wenn ich eine Kopie mache? Ich könnte die Angelegenheit dann weiterrecherchieren.“
Ich hatte nichts dagegen und Steinbrecher verschwand für einen Augenblick im Flur.
Interessiert blickte ich mich um. Bücher, Magazine, Karten, Geschichte, wohin man blickte. Dazwischen eine kleine Büste von Friedrich dem Großen, wie ich unschwer erkannte. Steinbrecher kam zurück.
„Okay, hier ist die Kopie – und viel Erfolg mit was auch immer. Wenn ich noch was rausfinde, melde ich mich.“
Ich bedankte mich, verließ nachdenklich den freundlichen Historiker und hatte absolut keine Ahnung von dem, was mir noch bevorstand.
15. Kapitel
Köln
„Ja?“
Es war eine alte Stimme, die sich an der Klingelanlage meldete, alt und brüchig.
„Hoffmann, Kripo Köln“, meldete sich Wills mit forscher Stimme, der man einen Akzent nicht anhörte.
„Herr Döbeler, wir führen Ermittlungen durch und dazu hätte ich einige Fragen an Sie.“
„Ermittlungen? Und jetzt um die Zeit? Sind Sie verrückt? Wieso komm’ Se nicht morgen?“
Wills senkte die Stimme und gab ihr einen nüchternen, amtlichen Klang.
„Weil die Sache keinen Aufschub duldet. Gefahr im Verzug, Sie verstehen?“
Döbeler verstand nichts, aber er drückte auf. Auf dem Gesicht des angeblichen Polizeibeamten zeichnete sich ein feines Lächeln ab.
„Ich möchte … ich möchte erst einmal Ihren Ausweis sehen!“ Döbeler hatte die Tür nur einen Spalt geöffnet und sah seinen späten Besucher misstrauisch an.
„Natürlich.“
Wills zückte seinen Ausweis, der von einem echten nicht zu unterscheiden war, dafür hatte die Agency gesorgt.
Döbeler rückte die Brille zurecht und warf einen langen Blick auf den Ausweis, dann gab er die Tür frei.
„Von mir aus, komm’ Se rein. Wird ja wohl nicht lange dauern, wat?“
Wills entgegnete nichts und trat ein. Er blickte sich um. Ein durchdringender Geruch zeugte davon, dass dies die wenig gepflegte Wohnung eines sehr alten Mannes war, der allein lebte. In der Küche, in die er einen kurzen Blick warf, türmte sich der Abwasch. In dem Wohnzimmer, in das ihn der Alte jetzt führte, lagen die Fernsehzeitschriften der letzten Wochen auf dem Boden, daneben standen einige leere Bierbüchsen, auf dem Tisch ein überquellender Aschenbecher. Die Möbel waren alt und unmodern, ein mehrflammiger Leuchter mit etlichen defekten Birnen spendete sparsames Licht. Einzig der riesige Fernseher, der eine späte Talk-Show bot, schien neueren Datums zu sein.
Döbeler schaltete den Fernseher wehmütig aus und bemerkte den Blick seines Gastes.
„Bin noch nicht zum Aufräumen gekommen“, brummte er unleidlich.
Er räumte einen Sessel frei, auf dem verschiedene Zeitschriften lagen, und deutete wortlos darauf. Wills setzte sich, vermied es aber peinlich, den Sessel mit den Händen zu berühren.
Jetzt erst warf er einen genaueren Blick auf den Wohnungsinhaber. Döbeler muss einmal von stattlicher Statur gewesen sein. Jetzt aber hatten Alter und Lebensweise ihren Tribut gefordert. Er musste weit über achtzig sein. Seine Gestalt war gedrungen mit einem ausgeprägten Bauch, der Kopf nahezu kahlköpfig, das Gesicht von Alterswarzen entstellt, unrasiert und offensichtlich übernächtigt. Auch seine Kleidung war ungepflegt, das karierte Hemd fleckig, die graue Jogginghose zu groß und mit einem Loch an der Seite.
So sieht also die Herrenrasse aus.
Döbeler ließ sich in einen Sessel sinken und räumte eine Schachtel beiseite, die mit Tabletten und Salben gefüllt war. Hastig griff er nach seinen Zigaretten und inhalierte tief.
„Wat is nu, wat wolln Se von mir? Wat für Ermittlungen? Bin ich zu schnell gefahren? Hab’ doch gar kein Auto mehr.“ Er deutete ein zaghaftes Lächeln an.
„Nein, Herr Döbeler, dafür wäre ich nicht zuständig. Ich bin nicht von der Verkehrsabteilung, sondern von der Mordkommission.“
„Mordkommission?“
Döbelers Augen weiteten sich.
„Wieso Mordkommission? Wat zum Teufel …?“
Wills unterbrach ihn schroff.
„Da müssen wir etwas weiter in die Vergangenheit zurückgehen. Genau genommen in den Krieg. Sie waren 1942 als Soldat in der Ukraine, nicht wahr?“
„Ukraine? 1942?“
Döbelers Gesicht verzerrte sich. Asche fiel auf den Boden.
„Ich habe nur meine Pflicht getan, wie die anderen. Ich … ich hab’ mir nie wat zuschulden kommen lassen. Da könn Se alle fragen! Eingezogen wurd’ ich, wie die anderen! Zack, schon war ich bei de Russen!“
„Damit wir uns richtig verstehen, Herr Döbeler. Es geht nicht um Ermittlungen gegen Sie!“
Döbelers Gesicht entspannte sich zusehends.
„Aber wir ermitteln gegen einen Offizier, der Sie damals befehligt hat.“
„Offizier? Wat für en Offizier?“
Wills räusperte sich.
„Sagt Ihnen der Namen Sendermann etwas?“
Über Döbelers Gesicht zuckte ein Moment der Erinnerung. Schemenhaft tauchten Gestalten und Ereignisse aus dem grauen Nebel der Vergangenheit auf. Fast siebzig Jahre her. Döbeler nickte, sein faltiges Gesicht sendete Stressmerkmale.
„Ja, der Hauptmann Sendermann. War ein anständiger Kerl, ein tüchtiger Mann. Hat vielleicht mal ‘n Flasche Wein mitgenommen oder so wat. Aber sonst …?“
„Es geht nicht um eine Flasche Wein. Es geht um … Mord, um Kriegsverbrechen!“
„Mord? Wieso Kriegsverbrechen? Was wir getan haben, taten wir auf Befehl. Wenn ich nicht …“
Wills schüttelte energisch den Kopf, sein Finger deutete nachdrücklich auf den Alten.
„Noch einmal, wir ermitteln nicht gegen Sie, noch nicht! Aber das kann noch kommen. Es sei denn … Vielleicht haben Sie noch Dokumente aus dieser Zeit? Das könnte Sie sehr entlasten.“
Der angebliche Kripobeamte ließ offen, wieso solche Dokumente den Mann entlasten könnten, aber Döbeler hatte schon längst aufgegeben, etwas verstehen zu wollen. Nackte Angst hatte ihn gepackt. Erst neulich hatte er in der Zeitung gelesen, wie einem 94-jährigen SS-Aufseher der Prozess gemacht wurde. Der musste sogar in den Knast! Meine Güte, nach so langer Zeit!
Er drückte die Zigarette aus, stand auf und schlurfte bedächtig zum Wohnzimmerschrank.
16. Kapitel
Köln
Im Pfarrhaus von St. Pantaleon saß ich mit meinem Freund Bassler bei einem Glas Rotwein zusammen. Ich hatte die morgendliche Messe gehalten und danach den Gemeinderat über den Tod seines früheren Mitglieds informiert, was allgemeine Trauer und Bestürzung ausgelöst hatte. Gewisse Einzelheiten hatte ich diskret verschwiegen. Dann hatte ich mich im Pfarrhaus mit meinem alten Freund zum Mittagessen getroffen.
Die Haushälterin hatte gerade das Mittagsgeschirr abgeräumt, und Bassler hatte wieder einmal feststellen müssen, dass seine Frau wesentlich besser kochte als Frau Maiwald, meine ältliche Haushälterin.
Ich hatte meinen Freund ausführlich über die abenteuerliche Taxifahrt und die Erkenntnisse informiert, die ich in der Universität erlangt hatte.
„Mann, das klingt ja wie aus einem Agententhriller. Und das in deinem Alter! Was wird wohl der Vatikan dazu sagen, dass du mit einem moslemischen Taxifahrer Jagd auf christliche Müllmänner machst?“
Mein Gesicht verzog sich zu einem eher schmerzlichen Lächeln.
Bassler konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, wurde aber sofort wieder ernst.
„Also hat der verstorbene Sendermann einem Erschießungskommando angehört?“
„Na ja, in erster Linie war er wohl Soldat an der Front, wie so viele. Aber es ist nicht auszuschließen, dass er auch einem solchen Kommando angehört hat.“
Ich seufzte. „Aber es … es war Krieg“, fügte ich wie zur Entschuldigung hinzu.
Bassler hatte eine zynische Bemerkung auf der Lippe, dass jetzt schon Mehrfachmörder in katholischen Gemeinderäten saßen. Aber er wollte mich wohl nicht kränken und unterließ es. Wäre unpassend gewesen. Stattdessen wurde er nachdenklich.
„Die Frage, die ich mir schon immer gestellt habe, ist, wie geht man als Christ generell mit dem Krieg um? Eine Antwort habe ich bis jetzt nicht gefunden. Immerhin wurden früher Panzer gesegnet und Kanonen geweiht, und das auf beiden Seiten. Das ist doch irre, oder?“
„Ist es, Markus, es zeigt den ganzen Aberwitz eines Krieges. Aber ich habe mir schon oft überlegt, wie ich mich damals verhalten hätte. Wäre ich mutig genug gewesen, einem Tyrannen Einhalt zu gebieten, und hätte ich den Tod in Kauf genommen?“
Ich leerte mein Wasserglas.
Bassler schaute mich nachdenklich an.
„Beispiele dafür gibt es genug und du kennst sie. Die weiße Rose, den Bischof von Galen aus Münster oder, aus meiner Fakultät, Bonhoeffer und Niemöller, den Elser aus München, den sie noch in den letzten Kriegstagen hingerichtet haben. Aber mir scheint, nicht jeder ist zum Helden geboren. Und heißt es nicht bei Matthäus: Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihnen gehört das Himmelreich.“
Ich nickte. „Natürlich hast du recht, aber sag das mal jemandem, der in den Folterzellen der Gestapo sitzt und dem man Elektrokabel an den Genitalien befestigt! Und überhaupt, ist man als Lebender nicht mitunter mehr von Nutzen denn als Märtyrer?“
Bassler schüttelte missbilligend den Kopf.
„Manchmal ist es wohl auch nur eine gewisse, allzu menschliche Feigheit, die einem solche Gedanken eingibt, meinst du nicht auch?“
„Ich weiß es ehrlich nicht. Ich war nie in einer solch dramatischen Situation. Aber all das hilft uns nicht weiter.“
„Du hast recht. Wie soll es also weitgehen? Wie willst du das Vermächtnis des Verstorbenen erfüllen? Willst du in die Ukraine reisen und die Hinterbliebenen dieses jüdischen Anwalts suchen?“
Ich schüttelte ratlos den Kopf.
„Keine Ahnung, mein Freund. Aber ich habe es dem Mann auf dem Totenbett doch versprochen.“
„Versprochen hast du, soweit du mir erzählt hast, gar nichts! Und außerdem wusstest du da noch nichts von den Hintergründen. Der Mann ist nach heutigen Maßstäben ein … ein Kriegsverbrecher.“
Nachdenklich blickte ich meinen Freund an.
„Kriegsverbrecher? Ja, so würde man ihn nach heutigen Maßstäben wohl nennen. Aber ich sehe ihn eher in meiner Rolle als Seelsorger denn als Richter. Er hat bereut, ehrlich bereut. Quem paenitet pecasse, paene est innocens.“
„Wer seine Sünden bereut, ist schon fast ohne Schuld. Horaz, oder?“
„Nein, Seneca. Aber trotzdem gut, mein Freund. Dein Latinum zahlt sich aus. Aber Scherz beiseite, Markus, diese Beurteilung, das ist mir zu einfach.“
Ich hob die Stimme.
„Man darf nicht die Umstände der damaligen Zeit vergessen, den Zwang, unter dem die Männer handeln mussten. Hätten sie den Befehl verweigert, hätten sie selbst an der Wand gestanden. Das scheint mir überhaupt grundsätzlich ein Problem zu sein, dass man Handlungen von damals nach heutigen Maßstäben beurteilt, ohne die damaligen Verhältnisse angemessen zu berücksichtigen! Und wenn man die Zeiten damals verstehen will, muss man die Rolle Hitlers einbeziehen. Hitler war eine durchaus charismatische Persönlichkeit, den das Volk verehrt, ja geliebt hat. Blind sind sie ihm gefolgt, blind wie die Maulwürfe – bis in den Untergang!“
„Charismatisch? Kann ein Verbrecher charismatisch sein? Aus heutiger Sicht unverständlich, oder?“ Bassler schüttelte den Kopf.
„Aus heutiger Sicht ja. Aber diese Dynamik hat ein kluger Kopf schon vor mehr als hundertfünfzig Jahren erkannt. Bulwer hatte recht!“
„Bulwer?“
„Ein englischer Schriftsteller aus dem 19. Jahrhundert.“
Ich stand auf und ging zum Bücherregal. Nach kurzem Suchen kam ich mit einem blauen Leinenband zurück und blätterte, bis ich die Stelle gefunden hatte.
„Hier, Edward George Bulwer-Lytton, Der Letzte der Tribunen.
Gestatte, dass ich dir ein Zitat vorlese:
‚Denn nichts begeistert menschliche Kühnheit so sehr wie der Glaube, man sei das ausgewählte Werkzeug göttlicher Weisheit. Rachsucht und Patriotismus, vereint in einem geistreichen und ehrgeizigen Manne, sind die Hebel des Archimedes, die in dem Fanatismus den Punkt außerhalb der Welt finden, um die Welt zu bewegen. Der kluge Mann kann einen Staat lenken, aber der Enthusiast ist es, der ihn verjüngt – oder zu Grund richtet.'“
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen und wir hingen unseren Gedanken nach.
Dann nahm Bassler das Wort.
„Hmm. Das alles ist problematisch und geht im Augenblick über meinen kleinen protestantischen Verstand hinaus. Ich fühle mich zurückversetzt in ein Politikseminar an der Uni oder vielleicht auch Philosophie.“
Er legte mir freundschaftlich die Hand auf den Arm. „Und überhaupt, du bist eine gute, katholische Seele und Verzeihen liegt dir mehr als Verdammen.“
„Ganz in der Tradition unseres Herrn, oder?“
Bassler lachte. „Touché! Aber wenn wir diese hoch interessanten historischen Zusammenhänge einmal beiseitelassen – der gute Sendermann hat sich am Eigentum eines Ermordeten bereichert, und wenn ich das richtig sehe, hat das Buch einigen Wert.“
„Und genau das hat ihm wohl mehr zu schaffen gemacht als die Morde, an denen er beteiligt war. Seltsam, nicht?“
Bassler nickte.
„In der Tat. Was wissen wir eigentlich über dieses ominöse Buch, Peter?“
„Eigentlich gar nichts. Ein mir unbekannter Historiker namens Fabius Rusticus hat einen Bericht verfasst, bei dem es, wenn meine Lateinkenntnisse mich nicht im Stich lassen, um eine Verschwörung gegen Nero geht. Damit dürfte der berüchtigte Kaiser gemeint sein. Richtig?“
„Richtig.“
„Und das Buch selbst stammt aus dem 17. Jahrhundert. Ziemlich früh für ein Buch, oder?“
Ich nickte. „Ich denke, wir sollten zunächst einmal alles über diesen unbekannten Historiker herausfinden.“
„Sicher kennst du da wieder jemanden in der Universität, der dir weiterhelfen kann.“
„In der Universität eher nicht, aber vielleicht woanders!“
17. Kapitel
Feldkirch, Österreich
Der Aufgang mündete in einem großen, lichtdurchfluteten Aufenthaltsraum.
Das erste, was Meywether auffiel, war die totale Ruhe, die in dem Raum herrschte, obwohl etwa zwanzig Senioren, überwiegend Frauen, an den Tischen saßen. Einige schliefen, andere spielten Karten, wenige unterhielten sich, aber so leise, dass sie den Fernseher nicht übertönten, der in der Ecke stand und die einzige Geräuschquelle bot. Aber für die nachmittägliche Quizsendung schien sich keiner der Anwesenden zu interessieren, und so war der alte, weißhaarige Mann in einem gestreiften, blauen Strickpullover und alten Filzpantoffeln der einzige Zuschauer.
Dem geschulten Blick der Agentin entging es nicht, dass die Bewohner alle sauber und gepflegt erschienen, und doch erfüllte sie ein merkwürdiges Unbehagen, als sie sich in dieser schweigenden Menge umschaute. Sie warten hier schweigend auf ihren Tod!
Ihre Anwesenheit wurde von den Bewohnern gänzlich ignoriert, weshalb sie ohne Verzögerung dem Hinweisschild folgte, das den Weg zu den Zimmern zeigte.
Sie bog rechts in einen dunklen Gang ab, der eine andere Atmosphäre vermittelte. Hier roch es nach Reinigungsmitteln, kaltem Essen und – Urin. Eine unselige Mischung, die Cathy Meywether alias Claudia Schönleitner die hübsche Nase rümpfen ließ. Sie passierte mehrere Insassen, die regungslos in Rollstühlen saßen und die Vorbeigehende keines Blickes würdigten.
Leben die eigentlich noch oder hat man die bis zur Beerdigung hier abgestellt?
Die Agentin war sich ihres zynischen Gedankengangs bewusst, sie schüttelte sich.
Ihr Unbehagen wuchs und sie beschleunigte ihren Schritt.
106, 107, 108 – sie stand vor dem richtigen Zimmer und klopfte an. Keine Antwort! Erneutes Klopfen! Keine Antwort! Sie trat ein. Das Zimmer war klein und war, wenn man etwas Gutes sagen wollte, zweckmäßig eingerichtet. Ein Bett in der linken Ecke, ein alter Schrank rechts, ein Tisch vor dem Fenster, zwei Stühle. An der Wand über dem Bett mehrere Schwarz-Weiß-Fotos, eins zeigte Schönleitner in Uniform, ein anderes ihn und seine Frau bei der Hochzeit. Verliebt blickten sich der Soldat und seine hübsche Braut an.
Ein farbiges Foto zeigte das Paar etliche Jahre später, Kinder waren keine zu sehen.
Auf dem Tisch standen eine Kaffeetasse und ein Teller mit Kuchen, beides unberührt.
Graue Gardinen, die den spröden Charme der Fünfziger verströmten, rahmten unordentlich das Fenster ein, das dringend nach einem Putzeimer verlangt hätte.
An dem Tisch saß hoch aufgerichtet eine Gestalt mit schlohweißem Haar, die Hände verschränkt auf dem Tisch liegend. Der Mann trug eine schwarze Hose mit strengen Bügelfalten, ein weißes Hemd und einen roten Pullunder. Er war glattrasiert, sein weißes Haar war voll und lockig, sein Blick ging aus dem Fenster und verlor sich in der Ferne.
Meywether verschloss die Tür.
„Herr Schönleitner?“
Der alte Mann blickte seine Besucherin nicht an, sondern starrte versonnen aus dem Fenster, seine feinen, langen Finger trommelten einen Takt.
„Herr Schönleitner, ich komme von der … Caritas. Ich wollte hören, wie es Ihnen geht.“
Schönleitner drehte den Kopf.
„Caritas? Könnte einen neuen Wintermantel brauchen“, brummte er, ohne den Kopf zu drehen, die Finger trommelten weiter.
„Darf ich mich setzen?“
Jetzt erst betrachtete Schönleitner seine Besucherin eingehender und ein Leuchten ging über sein Gesicht. Er deutete auf den zweiten Stuhl.
„Donnerwetter, seit wann hat die Caritas so schöne Frauen? Ich kenne nur die alte Hübnerin, und die ist schiach wie eine alte Waldeule!“
Meywether kannte diesen Wiener Mundartausdruck (für hässlich, Anm. des Autors) nicht, ahnte aber ihren Sinn und lächelte. Sie setzte sich und legte ihre Hand auf die greisenhaften Hände des Mannes. Soweit sie wusste, war er neunundachtzig Jahre, aber er machte einen sauberen, gepflegten Eindruck und strahlte ein gewisses Maß von Würde aus, sein Gesicht war glatt und immer noch von edler Form.
Das muss einmal ein feiner Mann gewesen sein, fuhr es ihr durch den Sinn und sie begann fast den Zweck ihres Auftrags zu bedauern.
„Wie geht es Ihnen, Herr Schönleitner?“
„Wie es mir geht? Alt bin ich und nutzlos. Sitze hier und warte auf den Tod, während mich die Schwestern tyrannisieren. Und wer sind Sie? Sind Sie die neue Schwester? Haben ja gar keinen Kittel an!“
Meywether begann zu begreifen. Demenz! Das würde die Sache erleichtern. Sie fühlte nach dem kleinen Fläschchen in ihrer Tasche und nahm es in ihre Hand.
„Ich wollte mit Ihnen über den Krieg sprechen!“ Manchmal ist der direkte Weg der beste.
„Krieg?“ Seine Hände verkrampften sich.
„Ja, im Krieg, da war ich noch jung und …“
„Sie haben sicher viel erlebt und auch ganz schlimme Dinge.
Wollen Sie darüber sprechen? Manchmal hilft das.“
Aber Schönleitner schwieg und starrte aus dem Fenster, seine Finger trommelten einen neuen, schnelleren Takt.
„Herr Schönleitner?“
Schweigen.
„Oder vielleicht, vielleicht haben Sie noch … Erinnerungsstücke aus dem Krieg. Das würde mich sehr interessieren. Wissen Sie, ich spreche gerne mit Leuten, die den Krieg mitgemacht haben. Das ist doch was anderes, als es nur aus Büchern kennenzulernen. Und es ist wahnsinnig interessant, Bilder und … Dokumente aus dieser Zeit zu sehen. Und es war ja nicht alles schlimm damals, oder? Sie waren jung und …“ Irgendwie schien sie den richtigen Ton getroffen zu haben.